Beschreibung
»ÜBER DIE JAHRE HABE ICH UNAUSGESPROCHENEN, VIELLEICHT UNBEWUSSTEN URTEILEN ERLAUBT, ZU BESTIMMEN, WAS ICH LESEN WERDE UND WAS NICHT. OHNE DES EINEN ODER ANDEREN ARBEIT IN FRAGE ZU STELLEN, HÖRE ICH AUF, NACH MEHR TEXT VON IHM ZU SUCHEN. ABER ICH WERFE BESAGTE BÜCHER NICHT WEG, ICH NEHME SIE EINFACH NICHT MEHR ZUR HAND, UND SCHAUE NACH ANDEREN.«
Den »Philosophen unter den Autoren seiner Generation« nannte Nico Bleutge seinen Kollegen Keith Waldrop in einer Besprechung der gravitationen für die Süddeutsche Zeitung. Kein anderes Buch bestätigt dieses Urteil besser als Der Umriss der Brücke. Erneut begegnen wir Waldrops geschicktem Montieren verschiedener Verfahren, wenn Prosastücke und Gedichte verflochten werden; und nun konsequent überschwappen. Diese Gedichte transportieren uns von einem Ort, einer Szene, einer intensiven Empfindung zur Nächsten, und nehmen die Schleife später wieder auf, um das zwischenzeitlich Erfahrene beizuknüpfen.
Keith Waldrop fragt, wie unter den gegebenen Umständen einer konsternierten, entzauberten Moderne noch so etwas wie Transzendenz denkbar sein kann. Oder zumindest: Wege der Überschreitung. Von den titelgebenden Brücken träumt er einerseits als Gegenstück zur Mauer. Können wir uns selbst überschreiten und etwas Höherem begegnen oder treffen wir doch immer nur auf Grenzen? »Im Traum geht man oft durch Mauern, aber nicht durch diese, weil sie eine Traummauer ist, undurchlässig für Träumer«, schreibt er. Auf den Höhen- oder Tiefenflug in Seele und Kosmos folgt, typisch für den Autor, eine Konstratierung mit dem Alltäglichen, der er gleichwohl mehr abzutrotzen weiß als die bloße Diagnose dessen, was notgedrungen ist. War der heimliche Protagonist von Das Prinzip der Lokalität eine Katze, so ist es nun, nicht minder unerwartet, aber angesichts von Waldrops Glauben an Ironie und Umdrehung folgerichtig: ein Backenzahn, der eine Brücke gut vertragen kann. Was diesen Band zusammenhält, ist nicht etwa die klare Beantwortung einer metaphysischen Frage, auf die alle Gedichte klimatisch hinsteuern würden, sondern die Wiederholung von Zahnarztbesuchen, die darüber nachdenken lassen, ob aus Schmerz Heilung und aus Tod Wiedergeburt erwachsen kann, oder wir nicht anders können, als wiederholt anders formulierte Fragen und neue, minimal veränderte Antworten an die immerselben Gegenstände zu stellen. So muss auch die stete Arbeit an einer Geisterschichte scheitern, weil es sich für Waldrop als unmöglich erweist, »jemals den Höhepunkt zu erreichen, geschweige denn, zu einem Ende zu kommen.« Und so sieht sich auch das unentwegt streitende ältere Paar in der Nachbarschaft in einer Endlosschleife der immergleichen Abläufe von Vorwürfen und Androhungen gefangen. Vielleicht, so wäre Waldrop zu verstehen, müssen wir Überschreitung nicht in der Vertikale der Vergangenheit oder der Zukunft suchen, auf die alles hinsteuert oder von der alles fortrennt, sondern in einer Vermischung von Vergangenheit und Zukunft: »Ich versuche mich zu erinnern, was ich sein werde.«