Beschreibung
»NEULICH WAREN ZWEI GÄRTNER IM GARTEN BESCHÄFTIGT. FLEISSIG, OHNE ETWAS VORZEIGBARES – ABER SIE ZOGEN UNS ANS FENSTER, FASZINIERT. SIE SAHEN BEIDE ÄLTER ALS ALT AUS: AM RANDE DES GRABS, NACH DER BEERDIGUNG RUFEND. WIE SIE ES SCHAFFTEN, HACKE UND HARKE FESTZUHALTEN, WAR EIN RÄTSEL, OBWOHL DIE VERGEBLICHKEIT IHRER BEMÜHUNGEN UNÜBERSEHBAR WAR. DER MANN MIT DER HACKE – NOCH ÄLTER ALS DER ANDERE, UNMÖGLICH ALT –, DER DEN BODEN BETRACHTETE, ALS ER GANZ AUFRECHT STAND (SEINE SCHULTERN WAREN SO GEBEUGT), HOB SEIN GERÄT AN UND LIESS ES FALLEN, OHNE EINE SPUR ZU HINTERLASSEN, DIE ICH HÄTTE SEHEN KÖNNEN. NÄHER AM HAUS, FAST AUSSER SICHTWEITE, IM TOTEN WINKEL UNTER UNSEREN FENSTERN, STANDEN EIN JUNGER MANN UND EINE JUNGE FRAU TRÄGE HERUM – WIR HATTEN SIE ZUNÄCHST NICHT BEMERKT –, DER MANN GAB DEN BEIDEN ZOMBIE-GÄRTNERN SCHEINBAR AB UND ZU ANWEISUNGEN. DIE FRAU (IN EINEM REGENMANTEL, DIE EINZIGE DER VIER, DIE DEM WETTER ENTSPRECHEND GEKLEIDET WAR) RAUCHTE EINE ZIGARETTE, MIT DEM BLICK VON DEN ANDEREN ABGEWANDT, UND STUDIERTE WOHLMÖGLICH DIE BENACHBARTEN GÄRTEN.«
Das Prinzip der Lokalität ist der Gedichtband der Ruhe. Bereits der Titel spricht: Das Lokalitätsprinzip ist ein Konzept aus der Relativitätstheorie. Es besagt, dass sich physikalische Effekte nur mit begrenzter Geschwindigkeit ausbreiten können und nur in der unmittelbaren Nähe der beteiligten Objekte signifikante Auswirkungen haben. Keith Waldrop überträgt dieses Konzept in einer Weise, die man voller Anerkennung als meisterhaft bezeichnen muss. In Prosapoesie niedergeschriebene Reiseerinnerungen, die genau so oder genau so niemals stattgefunden haben mögen, stellt er geschickt nebeneinander. Die vorwärtstreibende Kraft der Vergänglichkeit wird beruhigt. Von einem poetischen Erzähler, der die Unruhe im Alltäglichen findet und in das beruhigende Dahinfließen des Gedichts hinüberhebt.
Wo lebt dieser Erzähler? Offenbar irgendwo in London; mit Blick auf einen Garten, in dem seltsame Grüppchen von Gärtnern ungefragt ans Tagewerk gehen; mit der Aufgabe, auf eine Katze namens Pinkelpfote aufzupassen, die ihren begrenzten Ort nie verlässt, aber jede Bewegung in der Umwelt zu registrieren scheint; dann befinden wir uns in Waldrops Kindheit wieder; dann plötzlich in Ost-Berlin beim Grenzübergang mit Freunden, und nicht der fehlende Pass wird zum Problem, sondern das Zuviel unnützer Gegenstände in den Hosentaschen. Grenzen zwischen Lebensepisoden lösen sich auf. Erfahrbar werden soll, welche Bedeutung die verstreuten Erinnerungen des Lebens haben, wenn sie der Macht der Vergänglichkeit sanft aus den Händen genommen und einem dichterischen Zusammenhang überstellt werden. Aus der Unruhe des Vergehens von Zeit und Leben wird die Ruhe des Nebeneinanders dessen, das nie einen festen Raum und nie einen festen Zeitpunkt hatte. Kein Stern vergeht unendlich auf sein Ziel hinrauschend, in einzelner Bahn; er gibt Kräfte ab und nimmt sie auf, wird im Moment des Wahrgenommenseins unendlich.
Zwischen die Prosastücke stellt der Autor mal sanft, mal stürmischer fließende Gedichte, in denen er dem Einzelwort eine Bedeutung abträgt, die ganz wie im physikalischen Prinzip nur in der Nähe zu den anderen Einzelwörtern, die mit begrenzter Geschwindigkeit durch die eigene Erinnerung fahren. Bewegung findet seine Grenze in der Ruhe, welcher im Wahrgenommensein durch andere Kräfte liegt. So wird Nähe auch zu einem der Kernthemen dieses Bands, wenn er über die Liebe zu seiner Frau, die große Dichterin Rosmarie Waldrop nachdenkt und ihr sanft den Namen »Nachbarstaub« anbietet – als Prophezeiung für die Zukunft, deren Sinn noch zu ergründen sein wird.
Waldrop hat mit Das Prinzip der Lokalität das Kunstwerk vollbracht, eine Sprache zu finden, die sich in der Tradition der Avantgarden des 20. Jahrhunderts versteht, und trotzdem zugänglich, einladend und weltgesättigt ist: humorvoll, aber niemals albern, ironisch, aber nie zynisch, einfühlsam, aber nicht schwelgend, nachdenklich, aber ohne Dünkel, gelehrt, aber nicht gelehrig. Und immer heiter. Stufenweise entfaltet dieses Buch seine Wirkung und lädt dazu ein, mehrfach gelesen zu werden; bis man seine Lieblingsstellen in diesem Teppich aus Erinnerungen gefunden hat.
«Der Garten erscheint hell, liegt in seinem englischem Dunstschleier, und als ich hinausschaue, sehe ich Pinkelpfote, die wohl einen eigenen Zugang zu diesem Garten hat – anders als wir. / Ich beobachte sie, wie sie ein Loch in einem Blumenbeet gräbt, sich dann spreizend und mit aufgerichtetem Schwanz. Dann scharrt sie die Erde zurück in das Loch und schnuppert bis ihre ökologischen Bedürfnisse gestillt sind. / Ich bin froh darüber, denn das bedeutet: Sie hat nun viel weniger Ausgaben für ihr Katzenklo. / Manchmal sieht man sie im Garten, jetzt aber nicht. / Und jetzt steht sie unschlüssig da, mit erhobener Pfote und eigentlich schon durch ihren eigenen Eingang auf dem Rückweg ins Haus – wäre da nicht dieses Rotkehlchen (also so ein kleines englisches Rotkehlchen und nicht etwa eine amerikanische Rotdrossel), das auf einem tragenden Ast des Birnbaums in jenem torlosen Garten sitzt. Und da sind Spatzen, von denen einer nicht weit von ihr entfernt nach auf dem Boden liegender Nahrung pickt. Sie hat ihn im Visier, sein herbstliches Federkleid, aber leider auch seinen leider wachen Blick. Sie kennt den dunkelschalen Geschmack, der an seinen wohlgeformten Knochen haftet. / Ob sie schon sabbert, kann ich von meinem Fenster aus nicht sehen. / Die Spatzen sind hier sicher. Sie hat ihre besten Jahre schon hinter sich. Aber sie würde sie töten, wenn sie nur könnte.«
»ÜBER DIE JAHRE HABE ICH UNAUSGESPROCHENEN, VIELLEICHT UNBEWUSSTEN URTEILEN ERLAUBT, ZU BESTIMMEN, WAS ICH LESEN WERDE UND WAS NICHT. OHNE DES EINEN ODER ANDEREN ARBEIT IN FRAGE ZU STELLEN, HÖRE ICH AUF, NACH MEHR TEXT VON IHM ZU SUCHEN. ABER ICH WERFE BESAGTE BÜCHER NICHT WEG, ICH NEHME SIE EINFACH NICHT MEHR ZUR HAND, UND SCHAUE NACH ANDEREN.«
Den »Philosophen unter den Autoren seiner Generation« nannte Nico Bleutge seinen Kollegen Keith Waldrop in einer Besprechung der gravitationen für die Süddeutsche Zeitung. Kein anderes Buch bestätigt dieses Urteil besser als Der Umriss der Brücke. Erneut begegnen wir Waldrops geschicktem Montieren verschiedener Verfahren, wenn Prosastücke und Gedichte verflochten werden; und nun konsequent überschwappen. Diese Gedichte transportieren uns von einem Ort, einer Szene, einer intensiven Empfindung zur Nächsten, und nehmen die Schleife später wieder auf, um das zwischenzeitlich Erfahrene beizuknüpfen.
Keith Waldrop fragt, wie unter den gegebenen Umständen einer konsternierten, entzauberten Moderne noch so etwas wie Transzendenz denkbar sein kann. Oder zumindest: Wege der Überschreitung. Von den titelgebenden Brücken träumt er einerseits als Gegenstück zur Mauer. Können wir uns selbst überschreiten und etwas Höherem begegnen oder treffen wir doch immer nur auf Grenzen? »Im Traum geht man oft durch Mauern, aber nicht durch diese, weil sie eine Traummauer ist, undurchlässig für Träumer«, schreibt er. Auf den Höhen- oder Tiefenflug in Seele und Kosmos folgt, typisch für den Autor, eine Konstratierung mit dem Alltäglichen, der er gleichwohl mehr abzutrotzen weiß als die bloße Diagnose dessen, was notgedrungen ist. War der heimliche Protagonist von Das Prinzip der Lokalität eine Katze, so ist es nun, nicht minder unerwartet, aber angesichts von Waldrops Glauben an Ironie und Umdrehung folgerichtig: ein Backenzahn, der eine Brücke gut vertragen kann. Was diesen Band zusammenhält, ist nicht etwa die klare Beantwortung einer metaphysischen Frage, auf die alle Gedichte klimatisch hinsteuern würden, sondern die Wiederholung von Zahnarztbesuchen, die darüber nachdenken lassen, ob aus Schmerz Heilung und aus Tod Wiedergeburt erwachsen kann, oder wir nicht anders können, als wiederholt anders formulierte Fragen und neue, minimal veränderte Antworten an die immerselben Gegenstände zu stellen. So muss auch die stete Arbeit an einer Geisterschichte scheitern, weil es sich für Waldrop als unmöglich erweist, »jemals den Höhepunkt zu erreichen, geschweige denn, zu einem Ende zu kommen.« Und so sieht sich auch das unentwegt streitende ältere Paar in der Nachbarschaft in einer Endlosschleife der immergleichen Abläufe von Vorwürfen und Androhungen gefangen. Vielleicht, so wäre Waldrop zu verstehen, müssen wir Überschreitung nicht in der Vertikale der Vergangenheit oder der Zukunft suchen, auf die alles hinsteuert oder von der alles fortrennt, sondern in einer Vermischung von Vergangenheit und Zukunft: »Ich versuche mich zu erinnern, was ich sein werde.«
»ICH ERINNERE MICH, WIE MICH MEIN VATER NACH MEINER FRÜHESTEN KINDHEITSERINNERUNG FRAGTE, UND ICH IHM SAGTE: JA, ICH ERINNERE MICH AN DAS HAUS IN SOUTH NEOSHO (WO WIR WOHNTEN, ALS ICH IN DEN KINDERGARTEN GING), AN DIE OVALE SCHEIBE IN DER EINGANGSTÜR. ER LACHTE UND SAGTE, NEIN, DIE WAR DA NICHT. ER HIELT INNE UND WURDE PLÖTZLICH GANZ ERNST, UNMÖGLICH, DASS DU DICH DARAN ERINNERN KANNST. UND ER BEHAUPTETE, DIE OVALE SCHEIBE DER EINGANGSTÜR WAR NICHT IN DEM HAUS IN SOUTH NEOSHO, SONDERN IN DER TÜR EINES FRÜHEREN HAUSES, AUS DEM WIR AUSGEZOGEN WAREN, ALS DU EIN PAAR WOCHEN ALT WARST – ALSO DEM HAUS, IN DEM ICH GEBOREN WURDE.«
Den Abschluss der Waldrop-Trilogie, die in diesem Herbstprogramm beim gutleut verlag erscheint, bildet Semiramis soweit ich erinnere. Wenn Das Prinzip der Lokalität der Gedichtband der Ruhe und Der Umriss der Brücke der Gedichtband der Überschreitung ist, dann ist Semiramis der Gedichtband der Erinnerung.
Semiramis ist eine altorientalische Heldin, die in verschiedenen griechischen, assyrischen, jüdischen und armenischen Quellen, aber auch bei Boccaccio oder in Dantes Göttlicher Komödie auftritt. Mal gilt sie als begnadete Baumeisterin und Erschafferin der Hängenden Gärten von Babylon, mal als Gründermütter der gesamten Stadt. Mal ist sie durch Intrigen zur Herrscherin geworden, nur um dann eine unerwartet gerechte Herrschaft auszuüben, mal überlistete sie ihre Gegner durch geschicktes Vortäuschen einer männlichen Identität. Die eine feste Haupterzählung des Lebens der Semiramis gibt es gleichwohl nicht; ihre unbestimmte, ja chimärische Position im kulturellen Gedächtnis erlaubt Keith Waldrop eine Aneignung besonderen Ausmaßes. Er katapultiert sie in die Gegenwart; auch in den Raum seiner inneren Gegenwart, der vollgestellt ist mit Masken, die aufzuziehen Erinnerungen auslöst, mit unbekanntem Ausgang. Das Selbstportrait als Maske, wie der Alternativtitel des Texts heißt, vollzieht sich durch das Hineinschlüpfen in einen Ballsaal mit seltsamer Ausleuchtung. »Die verärmteste Form des Doppelgängers ist ein Schatten«, schreibt Waldrop. Sich selbst portraitieren, sich selbst abbilden, sich selbst vollständig ausleuchten, das ist unmöglich – denn wir verfügen letztlich nicht über uns selbst. Nicht nur vor anderen, sondern vor uns selbst tragen wir Masken. Das Spielfeld verändert sich jedoch, wenn wir die Maske einer anderen Person tragen. In Semiramis vollziehen sich die Erinnerungen darum auch durch ihre Abwesenheit – Anwesenheit gibt es nur in Erinnerungsspuren. Verlorenen Menschen, verlorenen Gegenstände, eingebildeten Kindheitserinnerungen, vertauschte Rollen. Die eigene Erinnerungswelt nimmt der Autor als etwas in seine dichterischen Hände, das es nur noch als Legende mit Lücken gibt. Die Leerstellen in der Erinnerung fühlt und füllt die Fantasie.