Beschreibung
In 'Der Keimling' wird aus der Darstellung eines Falles von Autismus, erstmals eine soziologische Theorie des Autismus entwickelt. Dabei wird die derzeit avancierteste psychoanalytische Position zum Autismus, die von Francis Tustin, kritisch aufgenommen. Schon die Lektüre des analysierten Datenmaterials ist faszinierend, weil es auf verschiedenen Aggregationsstufen einen Zugang zur Fallgeschichte ermöglicht: Interviews mit den Eltern, ein drei Generationen umspannendes Genogramm der Familiengeschichte, 'Selbstäußerungen' der Autistin, die diese über die sogenannte computergestützte Kommunikation erzeugt hat, sowie Interviewprotokolle aus Gesprächen, die mit ihr via Computer geführt wurden. Der Keimling Das geplante Buch erzählt die Familiengeschichte einer vierzigjährigen Frau, Martina Hecht, die im Alter von 2 Jahren verstummt ist und seitdem als Autistin bezeichnet und behandelt wird. Ohne die Chance einer selbstbestimmten Lebensführung aufgegriffen zu haben, lebt sie in einem Wohnheim für geistig behinderte Menschen, arbeitet in einer Werkstatt für Behinderte. Es gibt so gut wie keinen dauerhaften Kontakt zu sozialen Verkehrskreisen ausserhalb des engen Rahmens ihrer Familienbeziehung, in dem es zu gelegentlichen Besuchen bei den Eltern kommt. Der Arbeitstitel ( Der Keimling) verweist in mehrfacher Hinsicht auf die Fallbesonderheit: - die unbewusste Lebensphantasie der Autistin bezieht sich, wie bei vielen Autisten erkennbar, auf eine vorhumane Existenzform, in ihrem Fall: die aquale Existenz, vergleichbar der in der psychoanalytischen Literatur beschriebenen Figur des Vogelmenschen. In Plessnerschem Sinne bestimmt nicht exzentrische, sondern zentrische Positionalität ihr biografisches Exposé - Schwimmen, in Gestalt des "Hundecrawlen", ihre große Leidenschaft. Somatopsychisch spielt in der Genese des Autismus von Martina die Verengung der Analmuskulatur eine erhebliche Rolle, eine Missbildung, die in den ersten Wochen der Embryonalentwicklung bzw. der Zellteilung gebahnt wird, während Ektoderm und Endoderm sich ausdifferenzieren. Unter den Bedingungen extremer Pflegebedürftigkeit als Folge einer mit der Geburt gegebenen traumatischen Situation entsteht das geheime magische Band zwischen Mutter und Tochter, dessen affektive Qualität auf das Sprechen übertragen wird, in dem Moment, in dem der Ausgangskontext - die Darmverengung problemlos geheilt ist und die affektiv privilegierte Position als ein Kleinkind mit Anfangsschwierigkeiten durch die Geburt weiterer Geschwister bedroht wird. "Der Keimling" soll die Monografie auch deshalb heissen, weil in den unbewussten Identitätsprojekten von Martina diffuse Ideen auftauchen, ein Leben als Mann zu führen. Die Studie bezieht - abgesehen von dem theoretischen Ertrag, der mit einer ausführlichen Fallexposition verknüpft ist, ihren Reiz daraus, dass empirisches Material aus unterschiedlichen Evidenzebenen vorliegt. Das erhöht nicht allein in methodologischer Hinsicht die Plausibilität, vielmehr lässt sich die Fallrekonstruktion auf eine Weise anschaulich machen, die in der klinischen Forschung selten ist. Die Protokollebenen umfassen im einzelnen: a) Genogrammanalyse der Familie aus einer Dreigenerationenperspektive b) Interpretation von Interviews mit den Eltern c) Interpretation von Interviews, die mit der Indexpatientin über pc-gestützte Kommunikation geführt wurden d) Interpretation von Selbstreflexionen und literarischen Texten, die die Patientin publiziert hat bzw. auf dem PC gespeichert hat. Die verschiedenen Materialien, die eine dichte Repräsentation der Befunde ermöglichen, werden im Buchmanuskript sukzessiv erschlossen und aufeinander bezogen, so dass das Lesepublikum an dem Prozess der allmählichen Enthüllung einer anfänglich noch in einer Lesartenvielfalt daherkommenden Rätselhaftigkeit im Hinblick auf die "Idiosynkrasie" der Person beteiligt wird. Die Rekonstruktionen auf einer Protokollebene erzwingen jeweils weitere Fragen an das nächste empirisch
Autorenportrait
Tilman Allert, geboren 1947, ist Professor für Soziologie mit Forschungsschwerpunkt in der Mikrosoziologie und Familiensoziologie an der Universität Frankfurt am Main. Jüngste Buchpublikation: Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste, 2005 bei Eichborn. Für seine Habilitationsschrift Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform, erschienen 1998 bei de Gruyter, erhielt Allert 1999 den 'Christa-Hoffmann-Riem-Preis' für qualitative Sozialforschung.