Beschreibung
Im Kalten Krieg standen sich sowjetkommunistische Parteidiktaturen und westliche Demokratien unversöhnlich gegenüber. Zugleich mussten die Verantwortlichen beider Seiten darauf bedacht sein, einen Krieg zu verhindern - denn er wäre mit Atomwaffen geführt worden und hätte mit der Vernichtung der Menschheit zu enden gedroht. Bemühungen zum Abbau der Konfrontation, zur Sicherung einer friedlichen Austragung des Systemgegensatzes und zur Stärkung der Kooperation zwischen Ost und West gab es daher seit Beginn des Ost-West- Konflikts, immer wieder unterbrochen von Spannungsschüben, von Abkapselung und Verhärtung. Auf der Grundlage neuer Quellen verdeutlicht Wilfried Loth, wie die Entspannungspolitik zur Überwindung des Kalten Kriegs und zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums führte. Er zeigt die Mechanismen auf, die den Abbau des Eisernen Vorhangs ermöglichten, und analysiert das Handeln der wesentlichen Akteure dieses weltgeschichtlichen Konflikts.
Autorenportrait
Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.
Leseprobe
Prolog: Helsinki, 1. August 1975Die Zeremonie dauerte 17 Minuten. Am 1. August 1975, nachmittags kurz nach 17 Uhr Ortszeit, unterzeichneten 35 Staats- und Regierungschefs aus Europa, den USA und Kanada in der Finlandia-Halle im Zentrum von Helsinki die Schlussakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", in einer Kurzformel KSZE genannt. Da das Protokoll die Delegationsleiter in alphabetischer Reihenfolge nach der französischen Bezeichnung der Teilnehmerländer platziert hatte, an einem langen, leicht gerundeten Tisch gegenüber dem Auditorium, leisteten die Repräsentanten der beiden deutschen Staaten ("Allemagne") als erste ihre Unterschrift, zunächst Bundeskanzler Helmut Schmidt und dann der Erste Sekretär der SED, Erich Honecker. Weiter ging es mit US-Präsident Gerald Ford ("Amérique") und dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky ("Autriche"). Während ein Regierungschef nach dem anderen das in grünes Leder gebundene, 100 Seiten umfassende Dokument unterschrieb, jeder auf einer neuen Seite, herrschte im Saal gespannte Stille, unterlegt vom Blitzlichtgewitter der Fotografen. Nachdem als letzter der jugoslawische Präsident Josip Broz Tito ("Yougoslavie") seinen Namen unter das Dokument gesetzt hatte, erklärte der gastgebende finnische Staatspräsident Urho Kekkonen den Unterzeichnungsakt für beendet. Die Delegierten erhoben sich von ihren Sitzen, lang anhaltender Beifall setzte ein, dann schloss Kekkonen die Konferenz mit einem Appell an die Teilnehmerstaaten, die in der Schlussakte festgehaltenen Absichtserklärungen auch in die Tat umzusetzen.Damit fand ein Unternehmen seinen vorläufigen Abschluss, auf das die Sowjetunion lange Jahre vergeblich hingearbeitet hatte. Im Januar 1954 hatte der damalige sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow zum ersten Mal eine Europäische Sicherheitskonferenz vorgeschlagen, die eine Lösung der Streitfragen europäischer Sicherheit auf der Grundlage des Status quo der Nachkriegsordnung bringen sollte. 1965 hatte der Warschauer Pakt dazu aufgefordert, in einer gemeinsamen Konferenz "Maßnahmen zu erörtern, die die kollektive Sicherheit in Europa gewährleisten".1 1966 hatte er seinen Vorschlag mit Anregungen zum Rückzug der Militärbündnisse sowie zur wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Zusammenarbeit verbunden. 1969, im "Budapester Appell" des Politisch-Beratenden Ausschusses der Warschauer Pakt-Staaten, war betont worden, dass diese Zusammenarbeit der europäischen Staaten "unabhängig von ihrer Gesellschaftsordnung" und "auf der Grundlage der Gleichberechtigung, der Achtung der Unabhängigkeit und der Souveränität der Staaten"2 erfolgen solle.Der Westen hatte sich zu einer solchen Konferenz aber erst bereitgefunden, nachdem die Bundesrepublik Deutschland in den Verträgen von Moskau und Warschau 1970 den Verzicht auf Gewaltanwendung und die Anerkennung der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen bilateral geregelt hatte und 1971 auch eine Berlin-Regelung gefunden worden war, die den Status quo der westlichen Enklave inmitten der DDR sicherte. Außerdem hatten die Westmächte durchgesetzt, dass über einen zentralen Aspekt der europäischen Sicherheit separat verhandelt wurde: die Reduzierung der Truppenbestände in Mitteleuropa, über die die betroffenen Staaten der NATO und des Warschauer Pakts seit 1973 auf der Konferenz über "Mutual Balanced Force Reduction" (MBFR) in Wien verhandelten.Als die Tagesordnung der KSZE im Winter 1972/73 festgelegt wurde, hatten die Westmächte darüber hinaus erreicht, dass nicht nur Fragen der Sicherheit und der Zusammenarbeit im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Bereich behandelt wurden, sondern auch Fragen der Freizügigkeit, der Erleichterung der Kontaktmöglichkeiten zwischen Ost und West, humanitäre Probleme und eine Verbesserung des Informationsflusses. In dem Schlussdokument, das den Staats- und Regierungschefs im Sommer 1975 zur Unterzeichnung vorlag,3 wurden die hier zu treffenden Maßnahmen dann ziemlich konkret beschrieben: "wohlwollende Prüfung" von Anträgen auf Verwandtenbesuche und Familienzusammenführung, allgemeine Erleichterung von Reisen und Gruppenbegegnungen, verbesserter Austausch von Printmedien, Rundfunk-, Fernseh- und Filmproduktionen, bessere Arbeitsbedingungen für ausländische Journalisten, breiter Austausch in allen Bereichen der Kultur.Für die kommunistischen Regime war die Zustimmung zu diesen Grundsätzen äußerst heikel. Sie konnte nur erreicht werden, weil der sowjetische Parteichef Leonid Breschnew unbedingt einen positiven Abschluss der Konferenz zustande bringen wollte - ein Dokument, mit dem er den Westen auf das Prinzip der Entspannung und der wirtschaftlichen Kooperation verpflichtete und das er auch zu Hause als Erfolg präsentieren konnte, möglichst noch vor dem 22. Parteitag der KPdSU, der für den Februar 1976 vorgesehen war. Die sowjetische Seite akzeptierte daher auch, dass in den einleitenden zehn Grundsätzen zur Regelung der Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten ausdrücklich die "Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt" untereinander genannt wurde - eine Barriere gegen jede militärische Intervention nach Art der Niederschlagung des "Prager Frühlings" im August 1968, auf deren Errichtung insbesondere Rumänien gedrängt hatte. Ebenso nahm sie nach langem Widerstreben schließlich hin, dass ein Recht auf Veränderung der Grenzen "durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung" festgehalten wurde - eine Bestimmung, ohne die die Bundesrepublik die Vereinbarung nicht unterzeichnen wollte, weil sonst die Zustimmung zur Unverletzlichkeit der Grenzen und die Bestätigung der territorialen Integrität der Staaten als eine definitive Besiegelung der deutschen Teilung gedeutet werden konnte.Hinsichtlich der Sicherheit vor einem bewaffneten Konflikt wurden über die Festlegung von Grundsätzen hinaus nur die vorherige Ankündigung von größeren militärischen Manövern und die Möglichkeit eines Austauschs von Manöver-Beobachtern vereinbart. Weitere vertrauensbildende Maßnahmen blieben Folgeverhandlungen vorbehalten. Im Übrigen hielten die Teilnehmerstaaten ausdrücklich fest, dass die Schlussakte von Helsinki bestehende Abkommen nicht berührte. Die Verpflichtungen im Warschauer Pakt, in der NATO und in der Europäischen Gemeinschaft galten also unverändert weiter. Die Schlussakte von Helsinki war völkerrechtlich nicht bindend, und es wurde auch keine Institution geschaffen, die die Einhaltung der Vereinbarung überwachen sollte. Moskau hatte ursprünglich auf die Einrichtung eines "Europäischen Sicherheitsrates" gedrängt. Als aber deutlich geworden war, dass eine solche Einrichtung auch zur ständigen Überprüfung des Verhaltens hinsichtlich der Menschenrechte und der Freizügigkeit führen musste, hatte die sowjetische Delegation den Vorschlag selbst wieder fallen gelassen.So enthielt die Schlussakte hinsichtlich des weiteren Verfahrens nur die Verpflichtung, weitere gesamteuropäische Konferenzen einzuberufen. Eine erste Folgekonferenz wurde für 1977 vereinbart; sie sollte in Belgrad stattfinden. Gegen langes Sträuben der sowjetischen Seite verpflichteten sich die Teilnehmer außerdem, die Schlussakte in jedem Teilnehmerstaat ungekürzt zu veröffentlichen und sie "so umfassend wie möglich" zu verbreiten. Die Bürger der Staaten des Sowjetblocks bekamen damit ein Dokument mit Grundsätzen in die Hand, auf die sie sich gegenüber ihren Regierungen jederzeit berufen konnten. Die Regime des Ostblocks stimmten implizit zu, sich unabhängig vom Parteistandpunkt an den Grundsätzen von Helsinki messen zu lassen.Die Verhandlungen über die KSZE-Schlussakte hatten fast zwei Jahre gedauert. 375 Diplomaten aus allen europäischen Staaten mit der Ausnahme von Albanien, dazu die Vertreter der USA und Kanadas als NATO-Mächte hatten in 2.341 Sitzungen in Genf über Inhalt und Form des Dokuments gestritten. Zum Schluss war unter großem Zeitdruck gearbeitet worden, mit einer Sitzungsdauer von 18 Stunden pro Tag. Um das festgesetzte Schlussdatum des 18. Juli 1975 einzuhalten, hatte man die Uhren anhalten müssen; erst um 2.42 Uhr des nächsten Tages war über die letzten strittigen Formulierungen Einvernehmen erzielt worden.Bevor die 35 Staats- und Regierungschefs dann im sommerlichen Helsinki das Verhandlungsergebnis besiegelten, gaben sie Erklärungen ab. Bei Außentemperaturen von 28 Grad Celsius (von denen in der klimatisierten Halle allerdings wenig zu spüren war) hatten sie dazu jeweils 20 Minuten Zeit, wobei die Reihenfolge der Erklärungen per Los festgelegt wurde. Tatsächlich brauchte Ford 28 Minuten, während der britische Premierminister Harold Wilson, der nach den Eingangsstatements von Gastgeber Kekkonen und UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim als erster sprach, es in 15 Minuten schaffte. Insgesamt dauerte das Treffen zweieinhalb Tage, vom Mittag des 30. Juli, einem Mittwoch, bis zum Spätnachmittag des 1. August. Die finnische Polizei traf strenge Sicherheitsvorkehrungen, die die Arbeit der Journalisten zur Tortur werden ließ. Viermal am Tag, jeweils zu Beginn und am Ende der Sitzungen, wurde die gesamte Innenstadt hermetisch abgeriegelt, ebenso die Ausfallstraßen. Entsprechend groß war das Verkehrschaos.Kekkonen, der im Mai 1969 als erster Vertreter eines Staates außerhalb des Warschauer Vertrags positiv auf den Vorschlag der Sicherheitskonferenz reagiert und damals Helsinki als Verhandlungsort vorgeschlagen hatte, stellte die Unterzeichnung der Schlussakte in seiner Eröffnungsansprache als einen Wendepunkt in der Geschichte Europas dar: "Wir haben allen Grund zu glauben, dass eine neue Ära in unseren gegenseitigen Beziehungen anbricht und dass wir zu einer Reise durch Entspannung zu Stabilität und dauerhaftem Frieden aufgebrochen sind."4 Ähnlich zuversichtlich äußerte sich Tito, der am zweiten Konferenztag sprach: "Wenn künftige Historiker auf diese Konferenz zurückblicken, werden sie diese mit Sicherheit als einen Wendepunkt, als die Hinwendung Europas zur Koexistenz und zum Frieden bewerten."Waldheim war wesentlich zurückhaltender. Er betonte, "dass der erfolgreiche Abschluss dieser Konferenz eher einen Anfang als ein Ende darstellt". Ford mahnte: "Die Geschichte wird diese Konferenz nicht aufgrund dessen beurteilen, was wir heute hier sagen, sondern aufgrund dessen, was wir morgen tun werden, nicht aufgrund der Versprechen, die wir eingehen, sondern aufgrund der Versprechen, die wir auch einhalten." Wilson zitierte Clement Attlees Diktum: "Die einzige Alternative zur Ko-Existenz ist der Ko-Tod", um dann die Forderung anzuschließen, die Zusagen hinsichtlich der Freizügigkeit auch einzulösen: "Entspannung bedeutet wenig, wenn sie sich nicht im täglichen Leben unserer Völker widerspiegelt. Ich sehe keinen Grund, weshalb im Jahre 1975 die Europäer nicht die Möglichkeit haben sollten, zu heiraten, wen sie wollen, zu hören und zu lesen, wen sie wollen, und hinzureisen, wohin sie wollen. Wenn man das streitig machen würde, wäre das nicht ein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche."Demgegenüber betonte Honecker, der als erster Vertreter eines "sozialistischen" Staates sprach, "das Entscheidende" sei "die Anerkennung des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen". Freizügigkeit und Menschenrechte erwähnte er mit keinem Wort; stattdessen definierte er die Fortsetzung der Entspannung als "weitere Arbeit an einem stabilen Fundament der kollektiven Sicherheit in Europa". Breschnew warnte, niemand dürfe versuchen, "auf Grund der einen oder anderen außenpolitischen Erwägung anderen Völkern vorzuschreiben, wie sie ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen haben. Das Volk eines jeden Staates - und nur das Volk - hat das souveräne Recht, seine inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, seine innerstaatlichen Gesetze selbst zu verabschieden." Auch für ihn war das die "wichtigste Schlussfolgerung aus den Erfahrungen der Arbeit der Konferenz".Immerhin sprach er dabei, deutlich aufgeschlossener als Honecker, von der Souveränität des Volkes, nicht einfach nur von der staatlichen Souveränität. Man konnte das auch als eine Absage an die "Breschnew-Doktrin" verstehen, wie die westliche Seite die Inanspruchnahme eines angeblichen Rechts auf Interventionen zur Rettung des Sozialismus bezeichnet hatte. Breschnew sprach auch davon, dass man Kompromisse habe schließen müssen, und begrüßte den vereinbarten "breiteren Austausch von Informationen im Interesse des Friedens und der Freundschaft zwischen den Völkern". Den "Vereinbarungen ihre volle Wirksamkeit zu verleihen", bezeichnete er uneingeschränkt als "unsere gemeinsame und wichtigste Aufgabe". Darüber hinaus versprach er, sich für "wirkliche Ergebnisse bei der Abrüstung" einzusetzen. Insbesondere galt es, "Wege zur Verminderung der Streitkräfte und der Rüstungen in Mitteleuropa zu finden, ohne dass dabei irgendjemandes Sicherheit beeinträchtigt wird".Die gegensätzlichsten Auffassungen waren in der letzten Arbeitssitzung am Freitagnachmittag zu hören. Rumäniens Partei- und Staatschef Nicolae Ceau?escu erinnerte daran, dass es "Demokratie und Demokratie gibt - in dieser oder in jener Weise." Dann machte er unmissverständlich deutlich, dass er die kommunistische Form von "Demokratie" für die höhere hielt, die darum von den westlichen Demokratien nichts anzunehmen brauche: "Die Demokratie, die wir in Rumänien realisieren, ist viel hochwertiger als die Demokratie, von der einige Sprecher gesprochen haben." Demgegenüber verwies der Vertreter des Vatikans, Erzbischof Agostino Casaroli, der als letzter sprach, auf den unauflöslichen Zusammenhang von Frieden und Menschenrechten: "Wenn der Friede Wahrheit ist - selbstverständlich nicht der Friede der Gräber, der Versklavung oder des Zwanges -, dann setzt er eine gerechte, richtige und weise Ordnung der Rechte und der legitimen Interessen der einzelnen Parteien voraus, seien sie auch unterschiedlich oder stünden sie zueinander im Gegensatz. Dies ist das Ergebnis des Sieges der Vernunft und des guten Willens über die alleinige Konfrontation der Kräfte."Die Reden der 34 Kollegen anzuhören, war für die Staats- und Regierungschefs natürlich eine mehr oder minder lästige Pflichtübung. Viel wichtiger waren ihnen die bi- und multilateralen Gespräche untereinander am Rande der Konferenz. Bis tief in die Nacht hinein fanden solche Begegnungen statt, vom Vorabend der Konferenzeröffnung bis zum Abend nach Abschluss der Konferenz. Manche waren reine Routinetreffen, so zahlreiche Gespräche zwischen den osteuropäischen Führern. Es gab aber auch erstmalige Begegnungen und intensive Verhandlungen.So bemühte sich Ford in zwei langen Gesprächen mit Breschnew, Schwierigkeiten bei den laufenden Verhandlungen über ein zweites Abkommen zur Begrenzung der strategischen Atomrüstung (SALT II) und die Truppenreduzierung in Mitteleuropa zu überwinden. Dabei gelang ihnen eine Reihe von Fortschritten. Breschnew stimmte zu, dass Raketen mit Mehrfachsprengköpfen pauschal gezählt wurden, und Ford akzeptierte Begrenzungen der Reichweite von Marschflugkörpern. Als es darum ging, die Einhaltung dieser Begrenzungen sicherzustellen, wussten sie jedoch nicht weiter. Ebenso wenig konnten sich die Führer der beiden Weltmächte über die Einordnung der sowjetischen "Backfire"-Bomber verständigen: Die Verteidigungsminister hatten ihnen dazu unterschiedliche technische Daten mitgegeben, die nicht in Einklang zu bringen waren. So blieb zum Schluss nur die Feststellung, dass es nicht einfach war, in den Fragen der Rüstungsbegrenzung zu einer Verständigung zu gelangen. Sowohl Ford als auch Breschnew fügten aber hinzu, dass sie sich weiterhin intensiv um einen baldigen Durchbruch bemühen wollten.5Schmidt hatte unter anderen zwei lange Besprechungen mit Honecker - die erste Begegnung der beiden deutschen Staatsmänner. Dabei wurde weiterentwickelt, was sich seit dem Spätherbst 1974 als tragfähige Grundlage einer Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen abzeichnete: finanzielle Zugeständnisse der Bundesrepublik, die Honecker zur Absicherung seiner Herrschaft brauchte, gegen eine größere Durchlässigkeit der innerdeutschen Grenze und eine Verbesserung der Verbindungen zwischen Westdeutschland und West-Berlin. Diskutiert wurde über die Erhöhung der Pauschale, die die Bundesrepublik für das Benutzen der Transitstrecken zahlte, die Sanierung der Autobahn Helmstedt-Berlin, die Wiederingangsetzung des Teltow-Kanals, über den die kürzeste Schifffahrtsstraße zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet führte, und andere Maßnahmen zur Verbesserung des Reiseverkehrs. Schmidt signalisierte seine Bereitschaft, die Transitpauschale zu erhöhen, soweit dies plausibel gemacht werden konnte. Honeckers Vorschlag, die Kosten für die Autobahn-Erneuerung im Verhältnis 70 zu 30 zu teilen (70 Prozent für die Bundesrepublik, 30 für die DDR), wollte er von den Experten prüfen lassen. Zugleich machte er deutlich, dass er dafür Gegenleistungen erwartete - vor allem eine Senkung des Mindestalters bei der Genehmigung von West-Reisen von DDR-Bürgern und die Vereinbarung von Folgeabkommen zum Grundlagenvertrag über die innerdeutschen Beziehungen. Honecker wollte sich darauf nicht festlegen lassen, wie auch Schmidt keine verbindlichen Zusagen gab. Beiden wurde aber in Helsinki klar, dass man auf diese Weise ins Geschäft kommen würde.6Verhandlungsfortschritte dieser Art wurden freilich nicht sogleich sichtbar. Die Unterzeichnung der Helsinki-Akte stieß darum auch nicht überall auf Gegenliebe. In den USA sorgten sich Bürger baltischer Abstammung, mit dem Bekenntnis zur Unverletzlichkeit der Grenzen werde die Annexion Estlands, Lettlands und Litauens durch die Sowjetunion endgültig sanktioniert. Alexander Solschenyzin, der 1974 aus der Sowjetunion ausgebürgert worden war, warf Ford vor, mit seiner Unterschrift unter die KSZE-Schlussakte "die Völker Osteuropas zu verraten" und ihre "Versklavung auf immer offiziell zu besiegeln".7 Und Ronald Reagan, schon in den Startlöchern, um Ford die Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 1976 streitig zu machen, stellte die Vereinbarung mit den kommunistischen Regimen als etwas völlig Unamerikanisches dar: "Ich bin dagegen, und ich denke, dass alle Amerikaner dagegen sein sollten."8 Innenpolitisch zahlte sich die Reise nach Europa für Ford nicht aus.Auch unter den Europäern gab es Kritik. Raymond Aron in Paris nannte die KSZE eine "Komödie": Nie sei ein so ungeheurer Aufwand betrieben worden, "um solch lächerliche Ergebnisse zu erzielen". Bislang hätten es die westlichen Nationen immer vermieden, die Teilung Europas moralisch zu ratifizieren. "In Helsinki haben sie offensichtlich nachgegeben." Robert Conquest, britischer Sowjetexperte, beklagte, die Unterzeichnung der Schlussakte befördere das trügerische Bild von einer friedliebenden und liberalen Sowjetunion und unterminiere so den Verteidigungswillen des Westens: "Die Atmosphäre, die so geschaffen wird, ist schlecht."9 Ähnlich sah es die CDU/CSU-Opposition im Deutschen Bundestag: "Maßgebliche Inhalte des Schlussdokuments der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", hieß es in einem Entschließungsantrag, mit dem die Oppositionsfraktion die Bundesregierung aufforderte, die Akte nicht zu unterzeichnen, "dienen einer weltweiten Täuschung über die wahre Sicherheitslage in der Welt." Entspannungspolitik sei "nach östlicher Auffassung ein offensives, ein expansives, ein aggressives Konzept", führte Fraktionsvorsitzender Karl Carstens zur Begründung aus, "und dem stellt der Westen nichts entgegen, nichts, was damit vergleichbar wäre".10In Moskau wurden hinter verschlossenen Türen die entgegengesetzten Befürchtungen laut. Viele Mitglieder des Politbüros, berichtet der langjährige Botschafter der Sowjetunion in Washington, Anatolij Dobrynin, "hatten schwere Bedenken, internationale Verpflichtungen einzugehen, die den Weg zu auswärtiger Einmischung in unser politisches Leben öffnen konnten. Viele Sowjetbotschafter äußerten Zweifel, weil sie richtig voraussahen, dass die Vereinbarungen schwierige internationale Dispute nach sich ziehen würden. Moskau hatte wegen des Liberalisierungsprozesses, der mit Helsinki verbunden war, eine grundlegende Entscheidung mit weitreichenden innenpolitischen Folgen zu treffen."11Tatsächlich war die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki weniger ein Wendepunkt in der Geschichte der Ost-West-Beziehungen als ein Anlass, über die Möglichkeiten der Entspannungspolitik nachzudenken, und ein Moment ihrer Bekräftigung. Entspannungspolitik gab es, seit es den Kalten Krieg gab, das heißt: seit den ersten Jahren nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs im Sommer 1945. Immer wieder machten sich Zweifel bemerkbar, ob die Sowjetunion wirklich so aggressiv und so mächtig war, wie es die These vom sowjetischen Expansionismus behauptete. Immer wieder gab es Zweifel, ob der Westen so kriegslüstern war, wie die These vom westlichen Imperialismus unterstellte. Immer wieder waren Stimmen zu hören, die auf die Kosten der Konfrontation zwischen dem Ostblock unter sowjetischer Führung und dem Westblock unter amerikanischer Führung hinwiesen: die Notwendigkeit, erhebliche Ressourcen in die militärische Rüstung zu stecken, ohne je ganz sicher sein zu können, dass die Abschreckung des Gegners wirklich funktionierte; die Tendenzen zu autoritärer Verhärtung der eigenen Gesellschaft; das wachsende Risiko einer atomaren Katastrophe. Immer wieder setzten sich diejenigen zur Wehr, die unter der Blockkonfrontation besonders zu leiden hatten - die Deutschen, die die Teilung ihrer Nation erdulden mussten; die kleineren Staaten, die sich durch die Abhängigkeit von den neuen Weltmächten eingeengt fühlten; die innenpolitischen Verlierer der Konfrontation.Chancen zu einem Abbau der Konfrontation gab es insofern, als sich Ost und West, anders als es die Metapher vom Kalten Krieg nahelegt, nicht wirklich existentiell bedrohten. Die Machthaber des Ostblocks hatten zwar andere Zukunftsvorstellungen als die Bürger des Westens - die einen erwarteten, dass sich der "Sozialismus", wie sie ihn verstanden, früher oder später auch im Westen durchsetzen würde; die anderen wünschten, dass die Diktaturen des Ostens eines Tages freiheitlichen Regimen wichen. Doch weder die einen noch die anderen waren bereit, für die Durchsetzung dieser Vorstellungen einen Krieg zu riskieren. Dazu waren diese Ziele nicht existentiell genug, und der Preis, der dafür zu zahlen gewesen wäre, war viel zu hoch. Mit dem Aufbau der atomaren Waffenarsenale war er in keinem Fall mehr zu verantworten. Dass diese Arsenale nicht zum Einsatz kommen würden und so die Welt vernichteten, wurde zum wichtigsten aller politischen Ziele, im Westen wie im Osten. Die sowjetischen Führer betrachteten es auch nicht als ein vordringliches Ziel, ihren Machtbereich mit politischem Druck auf das westliche Europa auszudehnen; und der Westen verfügte hinsichtlich der Befreiung des östlichen Europas nur über sehr begrenzte Mittel.Hinderlich war nur, dass man das nicht so genau wissen konnte. Die Brutalitäten kommunistischer Regime und die aggressive Propagandasprache ihrer Führer riefen im Westen Zweifel und Ängste hervor; die ständigen Schwierigkeiten, sich zu behaupten, und das klassenkämpferische Weltbild, in dem sie sich immer wieder bestärkt fühlten, zeitigten die gleichen Effekte bei den Kommunisten des Ostens. Dieses Misstrauen hatte nach dem Zweiten Weltkrieg dazu geführt, dass die Bemühungen um eine gemeinsame Nachkriegsordnung, die die USA und die Sowjetunion als die beiden Hauptsiegermächte zu verantworten hatten, weitgehend gescheitert und zwei gegensätzliche Machtblöcke entstanden waren, die sich wechselseitig bedrohten.12Im Westen hatte man die Durchsetzung moskautreuer kommunistischer Regime in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und schließlich auch der Tschechoslowakei als Auftakt zu einer immer weiteren Expansion des Sowjetkommunismus wahrgenommen, der bald das gesamte westliche Europa bis zum Atlantik zum Opfer zu fallen drohte. Darauf hatte man seit 1947 mit einer Politik der "Eindämmung" reagiert, die zur Bildung eines westlichen Blocks führte: Stabilisierung der westlichen Demokratien durch die Finanzhilfen des Marshall-Plans, Ausschluss der Kommunisten aus den Regierungen der westeuropäischen Länder, Zusammenschluss der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands zu einem westdeutschen Staat, der ökonomisch wie politisch fester Bestandteil des Westens werden sollte; schließlich auf Bitten der verängstigten Westeuropäer im April 1949 der Abschluss des Atlantikpakts, mit dem die USA und Kanada Großbritannien, Frankreich, den Beneluxländern, Italien, Norwegen, Dänemark, Island und Portugal militärische Unterstützung im Falle eines Angriffs durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten verbindlich zusagten.Stalin hatte den Aufbau eines westlichen Bündnisses als Bruch der Anti-Hitler-Koalition verstanden und mehr und mehr befürchtet, er werde der Vorbereitung eines Krieges gegen die Sowjetunion dienen. Die USA hätten die Demokratisierung Deutschlands aufgegeben, hatte Nikolai Nowikow, sein Botschafter in Washington bereits im September 1946 nach Absprache mit Außenminister Wjatscheslaw Molotow geschrieben. Sie seien bestrebt, die osteuropäischen Länder zu durchdringen; sie übten Druck auf die Sowjetunion aus und suchten durch das Entfachen einer Kriegspsychose ein hohes Rüstungsniveau sicherzustellen. "Alle diese Maßnahmen sind kein Selbstzweck. Sie sind allein darauf gerichtet, die Bedingungen dafür zu schaffen, in einem neuen Krieg die Weltherrschaft zu gewinnen."13 Entsprechend hatte der sowjetische Diktator seinen osteuropäischen Verbündeten die Teilnahme am Marshall-Plan verboten, er hatte den Kurs der kommunistischen Parteien in Ost- wie in Westeuropa strikt auf das Moskauer Vorbild ausgerichtet und zur Wachsamkeit gegenüber dem "Klassenfeind" in den eigenen Reihen aufgerufen. Die jugoslawischen Kommunisten unter der Führung Titos, die sich diesem Kontrollanspruch Moskaus nicht beugen wollten, waren im Juni 1948 aus dem Kominform, dem neuen Lenkungsorgan der kommunistischen Parteien Europas, ausgeschlossen worden. Alle Welt glaubte jetzt, sich in einem "Kalten Krieg" zu befinden, der früher oder später in einen "heißen" Krieg, sprich: eine große militärische Konfrontation der beiden Lager übergehen könnte.Aus der Bedrohungssituation von zwei Blöcken, die sich mit gegensätzlichen Weltordnungs- und Zukunftsvorstellungen gegenüberstanden, gab es keinen leichten Ausstieg. Jede Seite musste mit präventiven Sicherheitsmaßnahmen der Gegenseite rechnen und sich dagegen wappnen. Um das ständige Kräfteringen einzudämmen, das daraus resultierte, musste man übertriebene Ängste überwinden. Ideologische Scheuklappen waren abzulegen, und man musste sich gegen jene breite Koalition von Kräften durchsetzen, die von der Konfrontation profitierten und damit - bewusst oder unbewusst - zu sekundären Verursachern des Kalten Krieges geworden waren: die Militär- und Rüstungslobbys und die Sieger in den innenpolitischen Auseinandersetzungen, die im Zeichen des Kalten Kriegs geführt wurden.Weil diese Bedingungen nicht so schnell zusammenkamen und auch nur schwer durchzuhalten waren, wurden die Bemühungen zum Abbau der Konfrontation, zur Sicherung einer friedlichen Austragung des Systemgegensatzes und zur Stärkung der Kooperation zwischen Ost und West immer wieder von neuen Spannungsschüben, von Abkapselung und Verhärtung unterbrochen. Mit der Zeit wuchs allerdings der Realismus; Maßnahmen der Rückversicherung halfen der Vernunft, über die Angst zu siegen. Das bedeutete auch, dass die leninistische Ideologie, die das Weltbild Stalins und seiner Statthalter geprägt hatte, im Laufe der Zeit an Bedeutung verlor, nicht kontinuierlich, aber in der Tendenz - bis sie schließlich in einem Akt der Selbstbefreiung ganz über Bord geworfen wurde.Ost und West verfolgten in der Entspannungspolitik weitgehend übereinstimmende Ziele: Vermeidung der atomaren Konfrontation, die zum gemeinsamen Untergang zu führen drohte, Minderung der Rüstungslasten, Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil. In einem Punkt aber schlossen sich die Erwartungen, die mit der Entspannungspolitik verbunden waren, gegenseitig aus: Während man in Moskau und den anderen Hauptstädten des Ostblocks darauf bedacht war, durch die Vereinbarungen mit dem Westen die eigene Herrschaft abzusichern, zielte die westliche Entspannungspolitik auch darauf, die Freiheitsbeschränkungen im Osten zu überwinden. Insofern war die östliche Entspannungspolitik zumindest nach Stalin in der Anlage defensiv, die westliche dagegen in unterschiedlicher Intensität offensiv. Bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wurden beide Momente sehr deutlich spürbar. Es war - im Osten wie im Westen - eine Frage des Selbstvertrauens, welchen man für stärker hielt.
Inhalt
Inhalt Prolog: Helsinki, 1. August 1975 9 1. Koreakrieg und Stalin-Noten 21 Aufrüstung in West und Ost 22 Die Note vom 10. März 1952 27 Die Reaktion des Westens 35 Stalins Wende 37 2. Tauwetter und Blockbildung 43 Berijas Pläne 43 Churchills Initiative 49 Ulbrichts Rettung 51 Das Ende der Provisorien 57 3. Entspannung im Kalten Krieg 69 Der"Geist von Genf" 70 Abrüstung und Wiedervereinigung 74 Das Berlin-Ultimatum 85 Von Camp David nach Paris 91 4. Chruschtschow und Kennedy 97 Der Weg zum 13. August 98 Fragmentarischer Dialog 105 Das Kuba-Abenteuer 111 Heißer Draht und Teststoppabkommen 121 5. Visionen auf dem Weg 127 Von Chruschtschow zu Breschnew 127 Vietnam-Krieg und Wettrüsten 132 De Gaulle und die deutsche Frage 137 Prager Frühling und Breschnew-Doktrin 144 6. Die Zeit der Verträge 151 Brandts Weg nach Moskau 151 Berlin-Regelung und SALT-Vertrag 160 Entspannung in Aktion 166 Erste Rückschläge 173 7. Der Niedergang der Entspannung 181 Jackson, Helsinki und Angola 181 Von Ford zu Carter 187 Der Gipfel von Wien 194 Entspannung in Europa 200 Der Entschluss zur"Nachrüstung" 205 8. Dunkle Zeiten 213 Einmarsch in Afghanistan 214 Carters Kurswechsel 217 Reagan und die Friedensbewegung 222 Deutsch-deutscher Dialog und Polen-Krise 229 Das Ende der Verhandlungen 239 9. Das Ende des Kalten Krieges 245 Das neue Denken 245 Schwieriger Start 250 Gorbatschows Offensive 254 Durchbruch in Washington 259 Kooperation und Perestroika 264 10. Revolutionen und Friedensschlüsse 275 Die Auflösung der sowjetischen Parteidiktatur 275 Die Demokratisierung der"Volksdemokratien" 280 Die deutsche Wiedervereinigung 286 Friedensregelungen 295 Der Zerfall der Sowjetunion 298 Bilanz: Die Angst und die Wege der Freiheit 309 Nachwort 315 Anmerkungen 317 Abkürzungen 347 Quellen und Literatur 349 Personenregister 365 Sachregister 371
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