Beschreibung
Seit der Jahrtausendwende gilt private Vorsorge als fester Bestandteil des deutschen Rentensystems. Aber regiert in diesem System die Vernunft? Oder ist die Vorstellung, hier sei ein objektiv notwendiger, politisch konsequenter und zukunftsweisender Pfad eingeschlagen worden, nicht vielmehr eine große Illusion? Das Buch beleuchtet Ungereimtheiten in der sozialpolitischen Architektur des Systems, seiner wirtschaftswissenschaftlichen Begründung sowie seiner praktischen Handhabung durch die Bürgerinnen und Bürger und kommt zu folgendem Ergebnis: Der Systemumbau war weder politisch noch ökonomisch zwingend und die Erwartung, breitere Bevölkerungsschichten würden sich selbst ein auskömmliches Dasein im Alter verschaffen, erscheint empirisch fragwürdig. Die gesellschaftliche Organisation des Ruhestands ist so nicht nachhaltiger geworden, sondern unruhiger und weniger egalitär.
Autorenportrait
Ingo Bode ist Professor für Sozialpolitik am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel. Felix Wilke, Dipl.-Soz., ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Leseprobe
I. EinleitungDas deutsche System der Alterssicherung ist nicht mehr das, was es einmal war. Wie seine Pendants in den meisten anderen westlichen Ländern (Orenstein 2013; Holzmann 2013) durchläuft es seit den 1990er Jahren einen tief greifenden Wandel, der ihm eine neue Geschäftsgrundlage verschafft hat. Die Systemumstellung lässt sich auf einen einfachen gemeinsamen Nenner bringen: Rückbau staatlicher beziehungsweise öffentlich verant-worteter Programme bei gleichzeitiger Verbreit(er)ung individualisierter und marktlicher Organisationsformen. Es ist ein neuer welfare mix entstanden, in dem Programme der Mindestversorgung, Sozialversicherungen, Einrich-tungen der betrieblichen Alterssicherung und verschiedene Spielarten individueller Eigenvorsorge ein komplexes Ensemble heterogener Systemsäulen bilden.Damit verbunden ist das Ende einer Epoche, die sich durch Tendenzen der kollektiven Durchorganisierung des Alters beziehungsweise dessen "Verstaatlichung" (Prahl/Schroeter 1996: 54) ausgezeichnet hatte. Die genannten Veränderungstendenzen stehen für einen schrittweise vollzogenen Prozess der De-Kollektivierung - und zwar im internationalen Maßstab. Aus deutscher Sicht kann man auch von einer Teilprivatisierung der Alterssicherung sprechen, denn die Anteile des öffentlich kontrollierten Sicherungssegments sind geschrumpft, während die relative Bedeutung privat organisierter Sicherungsarrangements zunimmt. Entscheidungen, die den Ressourcenzufluss am Lebensabend der Menschen betreffen, sind also weniger stark institutionalisiert und werden in höherem Maße individuell verantwortet - im Übrigen meist auch dort, wo die betriebliche Altersvorsorge in die Bresche springt.Zumindest für Deutschland kann man also von einem pfadbrechenden Wandel (Lamping/Rüb 2004: 175; Ebbinghaus u.a. 2011) sprechen. Doch war dieser Wandel Ausdruck einer klaren und alle Betroffenen über-zeugenden politischen Marschroute? Ist er eingetreten, weil er aus volkswirtschaftlicher Sicht alternativlos war? Und funktioniert die zu einem tragenden Element gemachte private Vorsorge, die ja das auffälligste Novum im System der Alterssicherung darstellt, in der sozialen Praxis so wie jedes andere Privatgeschäft? All dies ist seit den Umbauten zu Beginn der 2000er Jahre im Mainstream der (ver)öffentlich(t)en Meinung als selbstverständlich betrachtet worden. Es wurde angenommen, dass die neuen Organisationsformen aus ökonomischer Sicht die bessere Wahl sind und eine größere individuelle Kontrolle bzw. Passgenauigkeit der Alterssicherung ermöglichen. Der Systemumbau, so der vorherrschende Diskurs im Mainstream der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch in Politik und Öffentlichkeit, liege im Mehrheitsinteresse der Bevölkerung, zumal sich nur so die demografischen Herausforderungen der Gegenwartsgesellschaft meistern ließen. Auf dem Weg in eine zukunftsfeste Alterssicherung erschienen die Abschmelzung der umlagefinanzierten Systeme und die gleichzeitige Aufwertung kapitalgedeckter (privater bzw. markt-orientierter betrieblicher) Vorsorge als "schlichte Notwendigkeit" (Marschallek 2004).Gewiss gibt es mittlerweile Zweifel an der Leistungsfähigkeit vor allem der individuell arrangierten privaten Vorsorge in Gestalt der sogenannten Riester-Verträge (Hagen 2012). Zudem werden die Folgen, die die Rentenreformen der jüngeren Vergangenheit für sozial schlechter gestellte Teile der Bevölkerung höchstwahrscheinlich haben werden, in der Öffentlichkeit vermehrt diskutiert. Die seit Ende 2013 amtierende Bundesregierung hat Reformen auf den Weg gebracht, die Erwerbsminderungsrisiken besser absichern, unter bestimmten Bedingungen einen vorzeitigen Renteneintritt ermöglichen und verstärkt Kindererziehungszeiten berücksichtigen. Am durch die Riester-Reformen stärker de-kollektivierten Or-ganisationsmodus der Alterssicherung wird gleichwohl festgehalten. Jedenfalls sind in den etablierten Parteien, soweit sie bislang Regierungsverantwortung übernommen haben, kaum durchgreifende Reaktionen auf die durch die Finanzmarktkrise zutage getretenen Schwierigkeiten im Bereich der kapitalgedeckten Vorsorge zu erkennen. Die (vermeintlich) gute Mischung aus verschiedenen Organisationsformen gilt weiterhin als ver-nünftigste Option bei der Ausgestaltung der Alterssicherung.Mit dieser Einheitsmeinung korrespondiert eine eigentümliche Zurückhaltung bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Realität der schönen neuen Rentenwelt. Zwar finden sich Arbeiten, die explizit oder implizit auf Bruchstellen einer pluralisierten Alterssicherung verweisen. Offensichtlich ist - nachdem nicht wenige Sozialpolitikforscher in der De Kollektivierung der Alterssicherung zunächst eine gewinnbringende Modernisierung des Wohlfahrtsstaats gesehen haben (für viele: Nullmeier 2003) - die Sensibilität für die prekäre Basis des veränderten welfare mix gewachsen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem neuen deutschen Rentenmodell hat aber bislang noch nicht stattgefunden. Gut ein Jahrzehnt nach dem Einstieg in das "Mehrsäulenparadigma" (Berner 2009) steht eine umfassende - ökonomische, politische und soziale Dimensionen gleichermaßen einbeziehende - Analyse der neuen Verhältnisse weiterhin aus.
Inhalt
Inhalt I. Einleitung 9 II. Alterssicherung im Wandel 19 1. Die gesetzliche Rentenversicherung auf Sparflamme 20 2. Mit der zweiten Säule zu alter Stärke? 26 3. Die dritte Säule als Wanderbaustelle 33 4. Fazit: Auf dem Pfad der De-Kollektivierung 41 III. Ein politisch rationaler Paradigmenwechsel? 43 1. Illusion 1: Reformen aus gemeinsamer Einsicht in das Notwendige 45 2. Illusion 2: Ein klarer Pfadwechsel auf gerader Strecke 61 2.1 Die Rekonstruktion der Sinnbasis des neuen Rentenmodells: Unser Analyseansatz 65 2.2 Die offizielle Sinnbasis des deutschen Reformmodells im Wandel 70 2.3 Das neue Rentenmodell als Gegenstand der öffentlichen Debatte 84 3. Fazit: Rentenpolitik ohne klares Visier 95 IV. Umbau als Gebot der ökonomischen Vernunft? 98 1. Illusion 3: Eine Volkswirtschaft kann sparen 100 1.1 Sparen durch mehr Wachstum? 104 1.2 Sparen mit Hilfe aus dem Ausland? 111 2. Illusion 4: Ein Kapitaldeckungsverfahren ist sicher (und dann kam die Finanzkrise) 114 3. Fazit: Rentenökonomie mit leidigen Nebenwirkungen 119 V. Vorsorge als Privatgeschäft? Die soziale Praxis privater Alterssicherung 123 1. Der Mainstream in der aktuellen Forschung 124 1.1 Deskriptive Studien und die Rolle ökonomischer Anreize 126 1.2 Komplexere Erklärungsansätze und deren empirische Grundlage 129 2. Individuelle Vorsorge als sozialer Prozess - Der soziologische Blick 133 2.1 Die Relevanz sozialer Einbettung 134 2.2 Auf der Suche nach Orientierung: Vorliegende Befunde 142 3. Illusion 5: Nur das Individuum zählt - Ein Zwischenfazit zum Stand der Forschung 153 4. Unsere Studie: Ausgangsposition und Untersuchungsdesign 155 4.1 Datengrundlagen und Analysetechniken 155 4.2 Auswertungsstrategie im Rahmen eines Mixed-Method-Designs 174 5. Qualitative Befunde 177 5.1 Der Orientierungsprozess im sozialen Umfeld 179 5.2 Orientierung durch Medien? 187 5.3 Anbieterberatung im Orientierungsprozess 189 5.4 Vorsorgertypen - Die Vielfalt im Zusammenspiel 203 5.5 Zusammenfassung der qualitativen Befunde 212 6. Auf dem Weg zu einer quantitativen Analyse: Elf Hypothesen 214 6.1 Hypothesen zum Orientierungsprozess 215 6.2 Hypothesen zum Einfluss sozialer Einbettung auf die Vorsorgeentscheidung 218 7. Quantitative Befunde 220 7.1 Die Verbreitung der Riester-Rente 221 7.2 Die Stellung von Planung und Marktsondierung im Vorsorgeprozess 235 7.3 Orientierung jenseits des Marktes - Die soziale Einbettung der Vorsorgepraxis 240 7.4 Der Zusammenhang zwischen sozialer Orientierung und Vorsorgeumfang 266 7.5 Zusammenfassung der quantitativen Befunde 269 8. Auf verschlungenen Pfaden zur Vorsorge 271 9. Illusion 6: Alles nur eine Frage des Wissens und des Geldes - Ein Fazit zu unserer empirischen Studie 281 VI. Private Vorsorge ohne Ende? 284 Abbildungen 287 Tabellen 289 Literatur 290 Anhang 313 Variablenbeschreibungen quantitative Auswertungen 313 Leitfaden halbstrukturierte Interviews 316 Leitfaden Experteninterviews 317
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