Beschreibung
Schweden war lange Zeit unangefochtenes Vorbild für sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten. Doch seit den 1990er-Jahren finden auch dort Staatsabbau, Privatisierungen sowie eine Risikoverlagerung vom Staat auf das Individuum statt. Schweden entwickelt sich in Richtung eines liberalen Modells mit staatlicher Grundsicherung und privater Aufstockung. Die Analyse von Finanzkrisen, Reformmaßnahmen und Transformationsprozessen der politischen Ökonomie Schwedens von 1970 bis heute öffnet den Blick für die Debatten über die Schuldenkrise des Staates und den institutionellen Wandel in entwickelten Wohlfahrtsstaaten.
Autorenportrait
Philip Mehrtens ist wiss. Mitarbeiter am MPI für Gesellschaftsforschung in Köln.
Leseprobe
Kapitel 1EinleitungDer wechselseitige Funktionalzusammenhang zwischen Staatsfinanzen und gesellschaftlicherEntwicklung ist es aber, aus dessen genauester Analyse heraus alleindie Eigenart des Charakters des Staates in jeder historischen Phase erkanntzu werden vermag.Rudolf Goldscheid ([1917]1976b: 49)1.1 Problemaufriss, Forschungsfrage und Aufbau der ArbeitDie Staatsverschuldung der entwickelten kapitalistischen Demokratien hat imJahr 2012 einen neuen Rekordstand erreicht. Im Durchschnitt aller OECDLänderlag die Bruttoschuldenquote der öffentlichen Haushalte bei 108,7 Prozentdes Bruttoinlandsprodukts (BIP). Der Schuldenstand der Staaten übertrifftdamit die gesamte Wirtschaftsleistung, die die Volkswirtschaften zusammen innerhalbeines ganzen Jahres erbringen. Dieser Entwicklungstrend ist kein neuesPhänomen, sondern besteht bereits die letzten vier Dekaden. Seit 1970 gibtes einen klaren und kontinuierlichen Anstieg der Staatsschulden, die sich imDurchschnitt von circa 40 Prozent des BIP auf über 80 Prozent des BIP im Jahr2008 verdoppelt haben. Aufgrund der aktuellen Finanzkrise und ihrer Folgenist die öffentliche Neuverschuldung in den letzten Jahren geradezu explodiert:2009 wurde eine durchschnittliche Schuldenquote von 90 Prozent des BIP überschritten,2011 lag die Staatsverschuldung bereits erstmals über 100 Prozent desBIP und Prognosen sagen ein weiteres, wenn auch abgeschwächtes Wachstumder Staatsschulden voraus (OECD 2013a).Während es im "goldenen Zeitalter" nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu Beginnder 1970er-Jahre einen umfangreichen Abbau der Staatsverschuldung gab,hat sich dieser Trend seitdem in sein Gegenteil verkehrt und die durchschnittlichenSchulden der Länder sind rapide und in einem in Friedenszeiten bishereinzigartigen Ausmaß angestiegen. In der Geschichte hat es des Öfteren Verschuldungskrisenvon Staaten gegeben (Reinhart/Rogoff 2009), allerdings warensie fast immer mit militärischen Konflikten verknüpft und der hohe Schuldenstandwurde nach Kriegsende schnell wieder auf sein niedriges Ursprungsniveauzurückgeführt (Lambertini 2000: 3). Heute dagegen befinden sich viele entwickelteDemokratien unter dem Damoklesschwert einer permanenten Finanzierungslückeim Staatshaushalt und nehmen seit Jahrzehnten weniger ein, als sieausgeben. Die Verschuldungskrise des Staates verschärft sich zunehmend undwird zu der bestimmenden Hintergrundgröße der Politik.Angesichts des Ausmaßes und der Dauer dieses Entwicklungstrends stelltsich die Frage nach den politischen und institutionellen Folgen der staatlichenFiskalkrise. Die meisten Industriestaaten scheinen in einer Verschuldungsspiralegefangen zu sein, die sich mit jedem neuen Rekorddefizit schneller dreht. Drohtals Folge der rasant wachsenden Staatsverschuldung ein Macht- und Souveränitätsverlustdes Nationalstaates gegenüber anonymen Finanzmärkten und eineAushöhlung der Demokratie, die zu einem "postdemokratischen" Schauspielverkommt (Crouch 2008)? Hat das "Endspiel" für den demokratischen Interventionsstaatbegonnen, der durch immer weiter wachsende Schuldenberge gelähmtwird (Streeck 2007)?Aktuelle Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass der Handlungsspielraumder Politik durch die ansteigende Staatsverschuldung abnimmt undaufgrund der finanzpolitischen Zwänge immer weniger Staatseinnahmen fürgestaltende Politik zur Verfügung stehen. Die Lücke zwischen den verfolgtenZielen und verfügbaren Mitteln des modernen Interventionsstaates vergrößertsich stetig und chronisch gewordene Defizite werden zu einer beherrschendenRahmenbedingung der Politik (Streeck/Mertens 2010: 4). FinanzstatistischeMaßzahlen wie die Zins-Ausgaben-Quote, die Zins-Steuer-Quote oder die Kreditfinanzierungsquoteweisen ebenfalls in die Richtung, "dass die Staatsverschuldungden Handlungsspielraum von Regierungen massiv einengt" (Wagschal/Wenzelburger 2008a: 11).In einer umstrittenen, aber in Wissenschaft und Politik stark rezipiertenStudie wird darüber hinaus behauptet, dass eine Staatsverschuldung von über90 Prozent des BIP das Wirtschaftswachstum verlangsamt und damit eineTrendumkehr zusätzlich erschwert (Reinhart/Rogoff 2010). Unabhängig voneinem bestimmten Schwellenwert können ein hoher Schuldenstand und großeHaushaltsdefizite für ein Gemeinwesen besonders dramatisch werden, wenninternationale Geldgeber das Vertrauen in die Finanzierbarkeit der Schuldenverlieren und erhebliche Zinsaufschläge verlangen oder überhaupt keine Kreditemehr vergeben. Analysen haben ergeben, dass Länder ab einem jährlichen Defizitvon circa 10 Prozent des BIP deutlich höhere Zinsen zahlen müssen und eszum verstärkten Abfluss von Kapital kommt (Swank 2002).Politik findet so schnell in einem Kontext dauerhafter Austerität statt (Pierson2001a). Sie wandelt sich unter diesen Rahmenbedingungen von der proaktivenGestaltung der Gesellschaft durch staatliche Ausgaben zum Durchsetzenvon Sparmaßnahmen - mit gravierenden Folgen für die Staatstätigkeit. Insbesonderedie Sozialpolitik wird allein aufgrund ihrer Größe und der Tatsache,dass alle anderen Haushaltsposten bereits beschnitten wurden, voraussichtlichnicht mehr von Kürzungen verschont bleiben (Obinger 2012). Darüber hinauszeichnet sich kein einfacher Ausweg aus der gegenwärtigen Verschuldungspraxisab, weil die sozioökonomische Ausgangslage zur Steigerung des finanzpolitischenHandlungsspielraums für die entwickelten Staaten in jeder Hinsichtschlechter zu werden scheint. Die zunehmende Alterung der Bevölkerung, geringereWachstumsaussichten der Wirtschaft, automatische Mehrkosten durchPolitikerbe und Programmreifungen sowie verminderte Möglichkeiten der Besteuerbarkeitund staatlicher Kreditaufnahme erschweren den Schuldenabbau(Schick 2009: 3).Allerdings kann nicht in allen Ländern der gleiche Entwicklungsverlauf beobachtetwerden. Obwohl es durchschnittlich einen starken Schuldenanstieggibt, geht dieser nicht mit einer Konvergenz der Länder einher. Vielmehr nehmendie Unterschiede zwischen den Ländern zu. Es kommt mit der Zeit zu einerzunehmenden Spreizung zwischen hoch und niedrig verschuldeten Staaten.Die Spannweite zwischen dem geringsten und dem höchsten Schuldenstand hatsich während des Untersuchungszeitraums fast verdreifacht: von etwas wenigerals 60 Prozentpunkten im Jahr 1970 auf fast 175 Prozentpunkte im Jahr 2012,und auch die Streuung um den Mittelwert nimmt zu: Die Standardabweichungverdoppelt sich während des Analysezeitraums (OECD 2013a).Einerseits wächst die Staatsverschuldung in der Mehrheit der entwickeltenLänder kontinuierlich, von denen viele, auch Deutschland, in den letztenJahrzehnten fast nie Budgetüberschüsse erzielt haben (Konrad/Zschäpitz 2010;Streeck 2010). Andererseits gibt es Länder wie Neuseeland, Dänemark oderSchweden, die erhebliche Konsolidierungserfolge erreichen konnten, regelmäßigÜberschüsse erzielten und die Staatsverschuldung über etliche Jahre nachhaltiggesenkt haben (Wagschal/Wenzelburger 2008a; Wenzelburger 2010).Ein Land, an dem alle Facetten der Verschuldungskrise des Staates, ihre Folgenund mögliche Auswege besonders gut erforscht werden können, ist Schweden.Die Entwicklung der schwedischen Staatsfinanzen zeigt in den letzten Dekadenein ständiges Auf und Ab, bei dem sich verheerende Fiskalkrisen undumfangreiche Konsolidierungsphasen mit regelmäßigen Haushaltsüberschüssenabwechseln. Der schwedische Schuldenverlauf hebt sich damit deutlich vomallgemeinen Trend kontinuierlich steigender Schulden ab und kann im internationalenVergleich insbesondere während des letzten Jahrzehnts als exzeptionellgelten.Zu Beginn der 1980er- und 1990er-Jahre wurde das politisch-ökonomischeSystem Schwedens von zwei massiven Verschuldungskrisen erschüttert undnachhaltig verändert. Die beiden Krisen sind inzwischen überwunden und imschwedischen Staatshaushalt fallen in den letzten fünfzehn Jahren regelmäßigÜberschüsse an. Doch trotz - oder gerade wegen - der guten Haushaltslage setztsich der Transformationsprozess der schwedischen politischen Ökonomie fort.Die hohe Krisenanfälligkeit, kombiniert mit häufigen Überschüssen, machtdie Analyse des schwedischen Sonderfalls besonders vielversprechend und ermöglichtdifferenzierte Einblicke und neue Forschungsergebnisse zum besserenVerständnis der Verschuldungskrise des Staates sowie ihrer Gründe und Auswirkungen.Die hier als Problemaufriss kurz dargestellten Entwicklungen bei der Staatsverschuldungsind von aktueller Brisanz und haben weitreichende Folgen fürdie Funktionsweise und Zukunftsfähigkeit der politisch-ökonomischen Systemein den entwickelten kapitalistischen Demokratien. Sie deuten bereits auf dasThema und das Forschungsinteresse dieser Arbeit hin: Anhand des Verschuldungsverlaufsund der mit ihm zusammenhängenden Transformationsprozesseder schwedischen politischen Ökonomie sollen die Wechselwirkungen vonStaatsschulden und Staatstätigkeit detailliert untersucht werden.Thematisch und erkenntnistheoretisch ist die Arbeit an der Schnittstelle vonklassischer Finanzsoziologie und politischer Ökonomie angesiedelt. Aus finanzsoziologischerPerspektive wird auf Themenkomplexe und Fragestellungen derpolitischen Ökonomie geblickt. Die Entwicklung der Staatsfinanzen wird als"Fieberkurve" des politisch-ökonomischen Systems verstanden, die Anpassungsreaktionenund institutionelle Reformen erzwingt, den Akteuren Gestaltungsspielräumeeröffnen oder nehmen kann sowie den Zustand eines Landes widerspiegeltund damit Einblicke in die Funktionsweise des Staates erlaubt.Die Staatsfinanzen fungieren in dem hier angewendeten Forschungsansatzals hermeneutischer Wegweiser und haben einen Doppelcharakter. Einerseitssind sie eine erklärungsbedürftige Größe und in Krisenzeiten das Hauptziel derpolitischen Reformbemühungen. Andererseits sind sie gleichzeitig aber auch einbedeutender Einflussfaktor, der strukturellen Problemdruck erzeugt, auf anderePolitikfelder abstrahlt und den institutionellen Wandel des politisch-ökonomischenSystems prägt. Die Wandlungsprozesse der schwedischen Spielart desKapitalismus sollen anhand der staatlichen Haushaltspolitik nachverfolgt undanalysiert werden.
Inhalt
InhaltDank ............................................................................................................ 11Kapitel 1: Einleitung ..................................................................................................... 131.1 Problemaufriss, Forschungsfrage und Aufbau der Arbeit ....................... 131.2 Theoretische Einbettung: Finanzsoziologie und die Finanzkrise des Staates...........................................................................................................191.2.1 Klassiker der Finanzsoziologie ........................................................ 191.2.2 Die Finanzkrise des Staates .............................................................. 211.2.3 Der öffentliche Haushalt und die liberale kapitalistische Gesellschaft ......................................................................................... 241.2.4 Adaption und Aktualisierung der finanzsoziologischen Theorie von der Finanzkrise des Staates ........................................ 26Kapitel 2: Forschungspraktische Grundlagen: Methodologie und Untersuchungsdesign ......................................................................................... 312.1 Der historische Institutionalismus, kritische Wendepunkte und gradueller institutioneller Wandel ................................................................ 312.2 Forschungsdesign und Fallauswahl ............................................................. 402.3 Daten und Erhebungsmethode ................................................................... 47Kapitel 3: Die politische Ökonomie Schwedens im goldenen Zeitalter: Krisen- und defizitfreier demokratischer Korporatismus ................... 493.1 Das schwedische Modell: Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus ..................................................................................................... 493.2 Die Entstehungsgeschichte und Formierung des schwedischen Modells ................................................................................... 533.2.1 Der Stadt-Land-Konflikt und der universelle Wohlfahrtsstaat ................................................................................... 533.2.2 Der Kapital-Arbeit-Konflikt und die korporatistische Sozialpartnerschaft ............................................................................ 553.3 Das Grundkonzept und der ideologische Kern des schwedischen Modells ................................................................................... 583.3.1 Die Ausgangslage zu Beginn der 1950er-Jahre .............................. 583.3.2 Die zentralen Charakteristika des Rehn-Meidner-Modells .......... 603.3.3 Die öffentlichen Finanzen und die Rolle des Staates im Rehn-Meidner-Modell ....................................................................... 663.4 Die politische und sozioökonomische Einbettung des schwedischen Modells ................................................................................... 713.4.1 Das politische System und die politische Kultur Schwedens ...... 713.4.2 Die schwedische Gesellschaft .......................................................... 803.4.3 Die Struktur des schwedischen Wirtschaftssystems ..................... 81Kapitel 4: Die erste Verschuldungskrise: Bürgerliche Krisenmaßnahmen und die sozialdemokratische Politik des dritten Weges ....................... 854.1 Die Entwicklung der schwedischen Staatsfinanzen von 1976 bis 1990 .................................................................................................. 864.2 Erste Krisensymptome in der schwedischen politischen Ökonomieund der langsame Aufbau der ersten Verschuldungskrise ....................... 904.2.1 Entwicklungen und Strukturprobleme in der schwedischen Wirtschaft ............................................................................................ 904.2.
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Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
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