0

Das Andere denken

eBook - Repräsentationen von Migration in Westeuropa und den USA im 20. Jahrhundert, Eigene und fremde Welten

Erschienen am 16.05.2013, Auflage: 1/2013
CHF 48,00
(inkl. MwSt.)

Download

E-Book Download
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593420356
Sprache: Deutsch
Umfang: 331 S., 12.65 MB
E-Book
Format: PDF
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Zuwanderung und ethnische Minderheiten prägten die westlichen Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Aus Begegnungen mit den »Fremden« entstanden in Wissenschaft, Politik und Alltag Deutungen »des Anderen«, die in diesem Band thematisiert werden. Behandelt werden unter anderem juristische Diskurse über »Volksgruppen« in Österreich, die Wahrnehmung von Arbeitsmigranten in Deutschland oder die Veränderung von Sprache und Esskultur durch neue Einflüsse. Dabei werden sowohl die Selbstdeutungen und kulturellen Praktiken von Migranten als auch der Wandel in den »Aufnahmegesellschaften « in den Blick genommen.

Autorenportrait

Gabriele Metzler ist Professorin für Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der HU Berlin.

Leseprobe

Einleitung

Gabriele Metzler

Die europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts waren »Gesellschaftenin Bewegung«. Menschen verließen ihre Heimat, um sich vorkriegerischen Auseinandersetzungen in Sicherheit zu bringen; sie wurdenzur Abwanderung gezwungen, weil irrwitzige, menschenverachtendeSiedlungsprogramme dies vorsahen; oder sie suchten anderswo nachbesseren Lebenschancen, nach Arbeit und Wohlstand. Erfahrungenmit diesen Formen und Ursachen von Migration waren im Europades 20. Jahrhunderts nicht neu, sondern ließen sich über Jahrhundertezurückverfolgen. Gleichwohl blieben Migranten und Migrantinnen inden Ankunftsgesellschaften die Fremden, die Anderen, die, wenn nichtals Bedrohung, so doch als Herausforderung der bestehenden Ordnungbetrachtet wurden. Dies galt umso mehr für jene Zuwanderer aus Räumenaußerhalb Europas, die im Gefolge der Auflösung der europäischenKolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg in wachsender Zahl denKontinent erreichten und hier gerade die Gesellschaftsgeschichte vonStaaten mit starker kolonialer Tradition (namentlich Großbritannien undFrankreich) prägten.

Historiker und Sozialwissenschaftler haben lange Zeit den gesellschaftlichenWandel in Folge von Migration in der nüchternen Sprachedemographischer Statistiken verhandelt. Sie haben nach der Entwicklungdes Politikfeldes Einwanderungspolitik gefragt und danach, wie Einbürgerungspolitikund Staatsangehörigkeitsrecht auf die sich wandelndenGegebenheiten reagierten. Dafür, dass die Forschung dabei nicht selten auf zeitgenössische Zuschreibungen und Kategorien zurückgriff, wurden Historiker im Grunde erst im Zuge ihrer Öffnung gegenüber kulturwissenschaftlichenZugängen sensibel, wie Imke Sturm-Martin in ihremBeitrag zeigt. Immigrant und Emigrant sind solche Zuschreibungen;aber auch Bezeichnungen für ethnische Minderheiten und überhaupt dieKategorie Ethnizität sind essentialistische Deutungen, die ein So-seinabsolut setzen und soziale und kulturelle Hierarchisierungen a priori insich tragen. Dies gilt auch für vermeintlich positive, Migrantinnen undMigranten gegenüber aufgeschlossene politische Konzepte wie dasjenigedes Multikulturalismus, das in den 1990er Jahren eine kurze Blütezeiterlebte, inzwischen aber selbst kritisch hinterfragt wird. Sebastian Bergerhellt dies in seinem Beitrag am britischen Beispiel.

Aus der Verbindung von cultural turn und postkolonialen Perspektivenhaben Historiker und Sozialwissenschaftler sich neue Sehweisen auf Migrationund Migrationsgesellschaften angeeignet. Das kulturwissenschaftlicheKonzept der Repräsentation erweist sich als geeignetes Instrument,nach Konstruktionen von Weltsichten zu fragen. Repräsentationen sindOrganisationsformen des Wissens, mit deren Hilfe Menschen die Welt,die sie umgibt, deuten und ihr Sinn verleihen; mit denen sie einanderbegegnen und die ihre Begegnungen vorstrukturieren. Menschen habenimmer schon eine Vorstellung vom Anderen, wenn sie dem Anderenbegegnen; und ohne das Andere können sie das Eigene gar nicht erkennen.In der Begegnung verändern sich Repräsentationen, und zwarimmer sowohl vom Anderen als auch vom Eigenen. In diesem Sinnestellen Repräsentationen soziale Ordnung nicht nur dar, sondern sie stellensie immer auch her. Das zeigt die Geschichte der westeuropäischenund US-amerikanischen Gesellschaften, wie sie die Beiträge dieses Bandesbeleuchten, geradezu beispielhaft.

Wenn nach Formen und Organisation von Wissen über sozialeZusammenhänge gefragt wird, rücken in modernen Gesellschaften dieWissenschaften zwangsläufig ins Blickfeld. Denn in ihnen haben sichwissenschaftliche Experten als Deutungseliten etabliert, die Kategorienzur Erfassung sozialer Phänomene vorgeben und dadurch sozialen Handlungssinnproduzieren. Expertenwissen ist eine Form der Repräsentationsozialer Ordnungen, aus dem sich immer auch handlungsleitende Perspektivengewinnen lassen. Wissenschaftliche (Sub-)Disziplinen könnenentstehen, wenn gesellschaftliche Entwicklungen als problematisch undbedrohlich für die bestehende Ordnung gedeutet werden, genauso wievor diesem Hintergrund Sozialexperten auf Basis ihrer Deutungen socialengineering propagieren und betreiben können. Im einzigen Aufsatz indiesem Band, der über Westeuropa und die USA hinausgeht, beleuchtetAlexander Pinwinkler am Beispiel am Beispiel der österreichischen ErstenRepublik und des austrofaschistischen Ständestaates, wie Statistiker undRechtswissenschaftler Kategorien von Minderheiten und Volksgruppenschufen, aus denen sich politische Handlungsmaximen ableiteten. ReetTamme zeigt, wie sich die race relations-Forschung in Großbritanniennach der Erfahrung der Rassenunruhen (auch dies eine zeitgenössischeZuschreibung!) am Ende der 1950er Jahre etablieren und für lange Zeitdie maßgeblichen Deutungen sozialer Ordnung vorgeben konnte. DerBeobachtung und Beschreibung des Anderen durch Experten sind(normative) Ansichten über das Eigene stets immanent, etwa wennFamilienstrukturen und familiäre Praktiken als fremd markiert werden.Claudia Roesch zeigt dies für die US-amerikanischen Sozialexperten undverdeutlicht zugleich, dass in ihrem Blick auf mexikanische Familienimmer Repräsentationen der weißen amerikanischen Familie mit verhandeltwurden. Die Fremden, die Migranten, die Anderen erscheinenin diesem Kontext als bloße Objekte hegemonialer Zuschreibung undAbgrenzung. Auf diese Weise werden der koloniale Blick und kolonialePraktiken der Inklusion und Exklusion in postkolonialen Gesellschaftenperpetuiert. Jedoch treten im selben Maße wie solche Perpetuierungenauch Prozesse der Subjektivierung zutage, die in jüngerer Zeit auch alssolche wissenschaftlich ernst genommen und nicht auf das bloß Folkloristischereduziert werden. Das Beispiel der race relations-Forschunggibt darüber in geradezu paradigmatischer Weise Auskunft, zog die etablierte Forschung auf diesem Feld seit Beginn der 1970er Jahre dochdie scharfe Kritik auf sich, sie wurde die bestehende hegemoniale weiseOrdnung blos affirmieren. Theoretiker der aufkommenden PostcolonialStudies machten deutlich, wie sehr essentialistische Zuschreibungen dominiertenund wie das .Anderssein. in soziale Ordnungen eingeschriebenwurde. Prozesse der Subjektivierung lassen sich auch in kulturellenPraktiken erkennen, in denen Migranten und Migrantinnen ihre eigenenVorstellungen von dem, was sie sind, und von der Welt, aus dersie kommen, mitteilen. Dass es die gemeinsame Vergangenheit unddie verbindenden Traditionen aus der Herkunftsgesellschaft nicht gibt,sondern dass sie ebenfalls (durchaus kontrovers) ausgehandelt werden,legt das Konzept der .Reprasentation. bereits nahe. Deutungen der Weltund des eigenen Wir in der Welt werden auf die Strase getragen, siewerden offentlich gemacht, sei es in Festen, sei es in der Musik oderin anderen Vermittlungsformen. Hybride Identitaten entstehen,. wennetwa Jugendliche maghrebinischer Herkunft sich Marseille als einenRaum aneignen und ihn als eigenen Raum deuten, wie Daniel TodtsBeitrag uber die franzosische Rapmusik zeigt. Gleiches gilt fur die afrokaribischenGruppen, die ab Ende der 1950er Jahre in London Carnivalals eigene Tradition(en) entdecken, deuten und praktizieren. SebastianKlos macht in seinem Beitrag deutlich, wie sehr der Notting Hill CarnivalGegenstand kontroverser Aushandlungen war, eine Projektionsflache, aufdie sich unterschiedliche Deutungen jamaikanischer oder trinidadischerTraditionen richten liesen. West Indian culture wurde, zugespitzt formuliert,erst in London erfunden. Monika Salzbrunns ethnographischeUntersuchung der Stadtteilfeste im X. Pariser Arrondissement belegt, wiestadtische Raume zu Schauplatzen werden, an denen Reprasentationenabgeglichen werden und sich wandeln; neue Identitaten entstehen, diesich am konkreten, erfahrbaren lokalen Raum festmachen.

Inhalt

InhaltEinleitung .............................................................................................9Gabriele MetzlerGrundlagenWahlverwandtschaften/(s)elective affinities:Migranten und Migrationspolitik in der atlantischen Weltim 20. Jahrhundert ..............................................................................19Imke Sturm-MartinDer kurze Frühling des britischen Multikulturalismus.........................35Sebastian BergWissenschaftliche Auseinandersetzung mit MigrantenMinderheiten und Volksgruppenin rechts- und staatswissenschaftlichen Diskursenin Österreich, circa 19181938 ...........................................................57Alexander PinwinklerMacho Man? Repräsentationen mexikanischer Familienstrukturendurch Sozialexperten, Sozialarbeiter und Bürgerrechtsaktivistenin den USA, 19401980 .....................................................................87Claudia RoeschVon den dark strangers zum Subproletariat: WissenschaftlicheDeutungen der multiethnischen Gesellschaft in Großbritannienvon den 1950er bis Anfang der 1970er Jahre.....................................119Reet TammeHerstellung eines Wir durch kulturelle Praxis»Ensemble nous sommes le Xe«:Pariser Stadtfeste als Bühnen für Selbst- und Fremdrepräsentationenim Migrationskontext........................................................................157Monika Salzbrunn»Difficile de faire plus multiéthnique. Difficile de faireplus marseillais«: Zur Repräsentation von (Multi-)Ethnizitätund Migration im französischen Rap der 1990er Jahre ......................181Daniel Tödt»We will show the Royal Borough what West Indian cultureis all about«: (Wieder-)Herstellung eines Wir im NottingHill Carnival vom Ende der 1970er bis zum Ende der1980er Jahre......................................................................................209Sebastian KlößDas Normale und das Andere: Aushandlung von Selbst- und Fremdbildern»Ich glaube aber, sie haben eingesehen. . . «: Die spanischenArbeitnehmer als Objekte der politischen Beeinflussungdurch die bundesdeutschen Gewerkschaften in den 1960erJahren................................................................................................245Johanna Drescher»Unsere und deren Komplexe«: Italiener in Wolfsburg Berichte, Darstellungen und Meinungen in der lokalenPresse (19621975)...........................................................................261Grazia PronteraKultureller Transfer durch Migration: Die Adaption kultureller Praktiken durch die »Host«-GesellschaftAnders essen in der Bundesrepublik: Begegnungen imausländischen Spezialitätenrestaurant ................................................283Maren MöhringChicano English und Kiez-Sprache:Sprachvielfalt und Sprachwandel?......................................................301Inke Du BoisAutorinnen und Autoren...................................................................327

Schlagzeile

Eigene und Fremde Welten

Informationen zu E-Books

Individuelle Erläuterung zu E-Books

Weitere Artikel vom Autor "Gabriele Metzler"

Alle Artikel anzeigen