Beschreibung
In einem Interview mit dem Magazin brand eins erklärt im Januar 2020 der emeritierte Direktor des Bonner Max-Planck-Instituts für Mathematik Don Zagier auch seine Position zum Verhältnis von theoretischer und anwendungsbezogener Mathematik. Auf die Frage: „Wozu betreibt man Forschung?“ antwortet er: „Natürlich auch um praktische Probleme zu lösen, Krankheiten zu heilen, Geld zu verdienen oder weil man auf den Nobelpreis hofft. Aber echte Forscher sind vor allem von Neugier getrieben.“
Für Zagier stehen also theoretische Neugier und problemlösende, praktische Wissenschaft nicht in einer Balance, sondern er definiert das theoretische Interesse als den Kern der Forschung.
Dieser kurze Interviewauszug zeigt, dass auch Mathematik im Spannungsfeld zwischen Theorie und Anwendung wahrgenommen werden kann. Betrachtet man die Mathematikgeschichte, wird deutlich, dass die Dualität der Mathematik in Theorie und Anwendung sich oft fruchtbar für ihre wissenschaftliche Weiterentwicklung erwiesen hat. Ein mathematisches Teilgebiet, in dem sich die wechselseitige Beziehung von Theorie und Anwendung über Jahrhunderte erfolgreich entwickelt hat, ist die Geometrie.
Die vorliegende Arbeit untersucht daher das Spannungsfeld von theoretischer und praktischer Geometrie anhand eines Lehrbuchs zur Vermessungskunde aus dem frühneuzeitlichen England in einer Fallstudie. Leitend ist dabei die Fragestellung, inwiefern die Geometrisierung und Theoretisierung der Landvermessung vom Lehrbuchautor Aaron Rathborne intendiert war, und ob mit dem Buch The Surveyor tatsächlich eine neue Art der Professionalisierung angehender Landvermesser mithilfe der der Mathematik begonnen hat. Es wird darüber hinaus deutlich, dass Aaron Rathborne als mathematical practitioner Teil einer größeren gesellschaftlichen Gruppe war, die den zeitgenössischen Diskurs im untersuchten Spannungsfeld bestimmt hat.