Beschreibung
»ERSTE STUNDE NACH MITTERNACHT, SO ALS ZÄHLTE JEDE MIR HER, WIE TEUER SIE WÄR‘, DER MOND GETUSCHT, HINTERM WÄLDCHEN, WOLKEN, ALS OB SIE JEMAND AQUARELLIERT, WOLKEN, DIE NICHTS IN SICH HABEN, NUR EIN WENIG DUNST, AUS DEM NICHT EINMAL NEBEL ENTSTEHEN KANN/ DIE VERHUSCHTE GESTALT ZWISCHEN GEÄST UND GEZWEIG, MAN WIRFT IHR VOR, LAUTLOS DURCH DIE LANDSCHAFT ZU ZIEHEN, GEFILDE WOHL EHER, HERAUSGEFILTERT AUS BÄUMEN, JEGLICHEM BEWUCHS, GRUNDSTÜCKEN, FLÄCHEN, WILDGEHEGE FÜR DURCHREISENDES GEWÖLK –«
Jayne-Ann Igel ist die Virtuosin des fließenden Gedichts. Ihre lyrische Welt kreist um drei Themen: Biografie, Landschaft, Geschichte. In fließenden Übergängen verschränkt sie diese drei Knoten, die zusammen gehören, die zusammen zu denken und zusammen zu empfinden aber Sprachenergie kostet. Mit wolken hinterm rollo erscheint nun zum siebzigsten Geburtstag der Leipziger Autorin ein Band, der diese Themen mit einem Zentralmotiv versieht: dem Blick durch das Fenster. Sie imaginiert sich in Landschaften, die vertraut wie fremd erscheinen, ohne in ihr vorzukommen. Glas und Rahmen sind durchlässig, ermöglichen sensible Aufnahmen, trennen aber auch, machen zu teilnehmenden Beobachtern. Bei Jayne-Ann Igel ist das lyrische, sehende Auge weder in einem festen Subjekt noch im Gegenstand; es ist Teil der Landschaft. Empfinden an Schwellen, an Übergängen; ein melancholisches Aufwickeln, das beim Lesen berührt, sogar tief berührt, auch tröstet.
Mal scheint die Bewegung ruhig, sanft registrierend. Mal greift sie in die Szenerie ein, findet Spuren des eigenen Lebens, Spuren der Geschichte wieder, pflanzt in die Landschaft ein, was hier sein sollte. Mal scheint es, als würde sie das Fenster auf der Schulter durch die Landschaft tragen, um es als zentrales Objekt für den zukünftigen Häuserbau einzusetzen; Gedichtemachen als Renovierung der Seele. Im Gedicht Abgeputzt heißt es: »schluß mit den staubverliesen / und räume noch mal neu: vermessen, durchmessen und erahnen, ist da was ziegelmäßig umbaut oder nur noch rußige mauer, die was scheidet, das unermesslich, reichtum nimmer, der putz ist runter, der eine oder andere ziegelzahn, rot, besticht, willst mit den fingern darüber gleiten, deine augen sehen ihn alt, als stoff, der nicht mehr gilt, in zeiten des grauen kunstgesteins, doch sande auch, die gasbetonziegel größer, damit man eher fertig, mit dem bau, der idee vom bau, das bauen vergißt, das worauf –«
Jayne-Ann nimmt die romantische Tradition des Fensterblicks auf. Eichendorff etwa sah im Gedicht Sehnsucht fasziniert auf sommernächtliche Berghänge emporsteigende, lebensfrohe Wanderer, begleitete sie mit Blicken und Gedanken. Caspar David Friedrichs Gemälde zeigte eine Frau am Fenster, die in eine geschlossene Offenheit zu sehen schien, und noch hundert Jahre später Dali faszinierte und zum Gemälde Junges Mädchen am Fenster stehend anregte. Jayne-Ann Igel bespielt diese Tradition mit der ihr eigenen Virtuosität, die wolken hinterm rollo zu einem weiteren Höhepunkt ihres einzigartigen lyrischen Schaffens macht.
Das Buch erscheint als Band 12 in der Reihe licht, bebildert mit Fotografien von Jayne-Ann Igel und Michael Wagener.