Beschreibung
Das „Sonett 66“ von William Shakespeare ist mehr als hundertmal ins Deutsche übersetzt worden. Keine dieser Übersetzungen erreicht die strenge Schönheit des Originals. Der kühne Übertragungsversuch von Kurt Amsel mag es erleichtern, das Göttliche als Figur auf dem trostlosen Grund des Irdischen zu erkennen.
Müd’ von all’ dem, ruf’ ich den Tod herbei:
ich seh’ Talent in bettelarmer Not,
und blankes Nichts in Jux und Tollerei,
und reinste Treue vom Verrat bedroht,
und reiche Ehre schamlos falsch verschenkt,
und jungfräuliche Tugend roh entehrt,
und meisterliches Können tief gekränkt,
und Kraft in schlaffen Wankelmut verkehrt,
und Kunst entmündigt von der Obrigkeit,
und Sachverstand vom Unsinn kontrolliert,
und Einfachheit beschimpft als Dümmlichkeit –
das Gute, stets vom Schlechten dominiert!
Müd’ von all’ dem, möchte ich begraben sein,
ließ’ meine Liebe ich nicht hier allein.
„Ich stehe am Fenster und sehe ein Haus, Bäume, Himmel.“ Mit diesen Worten beginnen Max Wertheimers „Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt“ von 1923. Mit der Gestalttheorie brach damals für die Psychologie und für die gesamte Welt der Wissenschaft eine Zeit der Blüte an, die Wissenschaftler aus aller Welt nach Deutschland lockte. Diese Zeit lässt sich am ehesten mit der einzigartigen Epoche 350 bis 300 vor Christus in Griechenland vergleichen, als in unglaublich kurzer Zeit sämtliche Grundlagen der abendländischen Kultur geschaffen wurden. Die Blütezeit der Psychologie war von noch kürzerer Dauer, denn das Land der Deutschen wurde von einem kollektiven Wahn heimgesucht, von dem es bis heute nicht vollständig und gewiss nicht dauerhaft geheilt werden konnte. Wie viele andere Gelehrte jüdischen Glaubens hat Max Wertheimer sein Heimatland rechtzeitig verlassen müssen und ist 1933 in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert. Dort ist er zehn Jahre später im Alter von nur 63 Jahren gestorben.
Max Wertheimer war Jurist, Musiker, Psychologe, Philosoph. Max Wertheimer war vor allem aber ein Prophet, ein „Seher“. Durch das Fenster seiner Lehre, die als Gestalttheorie bekannt geworden ist, sah er eine Welt, in der sich Menschen als sinnvolle Teile eines sinnvollen Ganzen erleben, in der sie sich zugehörig fühlen, in der sie nicht konkurrieren, sich bekämpfen oder gar töten. Er sah eine Welt, in der sich Menschen unterstützen, sich trösten und lieben. Die Vision einer solchen, noch zu schaffenden Welt ist das Rahmenthema von „Wertheimers Fenster“.
Max Wertheimers Skizze „Zwei Jungen spielen Federball“ erschien erstmals in seinem Werk „Productive Thinking“ von 1945, welches Wolfgang Metzger 1956 ins Deutsche übertragen hat. Über diese Szene schreibt Max Wertheimers jüngster Sohn Michael Wertheimer: „Another instance of making a game as good as possible is reported—in a slightly distorted form—in his book Productive Thinking (1945). Val, almost two years older than I, was much better than I at many games, including badminton. He occasionally persuaded me to play badminton with him, but since he always won, I eventually refused to play any more. The game was nally changed so that the aim became to hit the shuttlecock back and forth as often as possible without it touching the ground, a version which led to hours of enthusiastic play. The way in which the story is distorted in the book is that, in my recollection, it wasn’t either of us boys who suggested the new version of the game, but my father who came up with the co-operative solution.” Wie dem auch gewesen sein mag – ich habe die Geschichte aus dem Englischen frei übersetzt und sie in die Gegenwartsform transformiert. Dadurch soll sie lebendiger werden und zeigen, dass die Federballszene von exemplarischer Bedeutung und zeitlosem Belang ist. Die immer wieder neu zu stellende Frage lautet nämlich: Wollen wir Menschen uns gegenseitig unterstützen oder wollen wir uns gegenseitig über den Tisch ziehen?
Mein Beitrag über Wolfgang Metzgers „Unzeitgemäße Betrachtungen“ soll die ungeheuer fortschrittlichen guten Gutmenschen provozieren. Sie dürfen über diese Auszüge aus Metzgers „populärwissenschaftlichen“ Arbeiten die Nase rümpfen. Wolfgang Metzgers Arbeiten waren im pejorativen Sinn nie populärwissenschaftlich, sie waren stets und ausnahmslos seriös und solide. Sie waren entweder für den theoretisch arbeitenden Wissenschaftler gedacht oder an den praktisch Interessierten und Tätigen gerichtet. Beide Arten von Schriften hat Wolfgang Metzger in einem vorbildlich lebendigen Stil abgefasst. Bei Arbeiten der zweiten Art hat er sich um besonders leichte Verständlichkeit bemüht. Metzgers Ziel war es nämlich stets, seinen Leser zu erreichen; er hatte es nicht nötig, seine Leser durch aufgedonnerte Wortwahl einzuschüchtern.
Warum sind Gelehrte glücklicher als Börsenmakler, Konzernchefs und Pharmavorstände? Weil das Glück der Gelehrten weit weniger von äußeren Faktoren und Geschehnissen der Außenwelt abhängt als bei den hochbezahlten Glücksrittern. Was bezwecken staatliche Lotterie und staatlich gefördertes Glückspiel? Sie festigen den staatlich geförderten Irrtum des Volkes, Glück hänge nicht so sehr von Bildung und Fleiß, sondern vom Zufall ab und könne ohne eigenes Zutun erlangt werden. Für die Grundunterscheidung zwischen „innerem“ und „äußerem“ Glück hat die reiche deutsche Sprache keine geeigneten Begriffe. Im Lateinischen und Englischen heißt es dagegen beatus und happy, wenn vom „inneren“ Glück des Menschen die Rede ist. Durch Zufall und günstiges Geschick werden Menschen nicht glücklich im Sinne von beatus oder happy, sie werden es allenfalls im Sinne von felix und lucky. Den philosophischen Hintergrund dieser Unterscheidung und ihre praktischen Bezüge diskutiert Eckart Koellreutter in seinem Beitrag über „Innenperspektive und Außenperspektive“. Wer sein Buch „Von der Seele geschrieben“ kennt und weiß, dass er seinerzeit bei Wolfgang Metzger in Münster Psychologie studiert hat, wird diesen Beitrag besonders gern lesen.
Dass sich jeder als Teil eines Ganzen fühle, war das Anliegen Alfred Adlers und es ist die wichtigste Voraussetzung seelischer Gesundheit und seelischer Gesundung. Dieses Gefühl zu stärken und zu pflegen wäre die erste und wichtigste Aufgabe von Erziehung und Unterricht. Daran und nur daran wäre ihre Eignung zu messen. – Im Monat Mai 2018 fand das Ländertreffen der deutschsprachigen Anonymen Alkoholiker in Koblenz statt. Das Motto dieser Veranstaltung hieß: „Ein Gefühl der Zugehörigkeit“. Im Gottesdienst, in den Meetings und Großveranstaltungen ging es um dieses Gefühl, welches für die Pathogenese, aber auch für die Therapie der Substanzabhängigkeit von erstrangiger Bedeutung ist. Wie es einem sinnstiftenden Zufall gefällt, hat Marianne Soff im gleichen Jahr ihrem Beitrag „Zugehörigkeit – stürmischen Zeiten trotzen“ verfasst, der sich vorzüglich in das Bild einfügt, welches sich uns bietet, wenn wir einen Blick durch „Wertheimers Fenster“ werfen.
Silvia Bonacchi ist eine ungemein vielseitige Forscherpersönlichkeit. Sie interpretiert Höflichkeit, um die es in ihrem Beitrag geht, als Bezugsphänomen, welches dazu dient, zwischen Menschen ein „rituelles Gleichgewicht“ aufrecht zu erhalten. Wer dächte dabei nicht an Arthur Schopenhauers Stachelschweine, die sich an einem kalten Wintertage zusammentun, um der Kälte zu trotzen. Dabei empfinden sie allerdings den Stich ihrer Stacheln. „Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance!“
Sind Vorgesetzte „Despoten oder Dienstleister“? Ist die Gruppe ein „Haifischbecken oder ein Streichelzoo“? Ist der Mitarbeiter ein „entlohnter Feind oder ein Goldesel“? Mit diesen Fragen weiht uns Rolf Mohr, ein ausgewiesener Trainer von Führungskräften in Wirtschaft, Behörden und Verbänden in die Grundlagen und Grundsätze der Führungspsychologie ein. Er tut dies mit dermaßen viel Sachverstand, überlegenem Humor und Menschenliebe, dass mir bei der Lektüre des Beitrages „Menschlichkeit – die humane Arbeitswelt von morgen“ mehr als einmal der Gedanke gekommen ist: mit diesem Wissen hätte ich als Leiter eines großen Unternehmens gute Chancen gehabt.
Ist es nicht schön, wie gutes und wertvolles Gedankengut die Zeiten übersteht, wie Lehrer ihren Schülern dieses Gut vermitteln und wie diese es bewahren? Wolfgang Metzger und Giuseppe Galli verbindet über die Grenzen der Nationen hinweg eine lange Freundschaft und geistige Nähe. In seiner „Psychologie der sozialen Tugenden“ führt Galli die Gestalttheorie als „Schule der Ehrfurcht“ an, die er von der Psychoanalyse, der „Schule des Verdachts“ abgrenzt. Gerhard Stemberger ist ein herausragender Kenner der Gedankenwelt Giuseppe Gallis und führt uns in „Soziale Tugenden als prägnante Beziehungen“ souverän durch die Gedankenwelt des großen italienischen Philanthropen.
Als ich in einem Gespräch zum ersten Mal von Hans-Peter Schwöbels Vorstellung eines verletzlichen Gottes hörte, hat es mich elektrisiert und ich bin immer noch von diesem Gedanken ergriffen. Ein Gott, den ich verletzen kann! Ein Gott, den ich quälen kann! Ein Gott, den ich vertreiben und töten kann! Das ist ein Gott, der mir sehr nahe ist! Das ist ein Gott, der in mir ist! Das ist ein Gott, für den ich verantwortlich bin! Nach diesem Telefonat, nach dieser überraschenden, nach dieser atemberaubenden Schwerpunktverlagerung von „allmächtig“ auf „verletzlich“ habe ich in meiner Bibliothek ein Kreuz aufgehängt, das für mich jetzt wieder einen Sinn bekommen hat: Gott verlässt uns Menschen nicht, wir Menschen können Gott aber verletzen und vertreiben und wir tun es auch – Tag für Tag.
Ich bin kein glücklicher Mensch, dafür aber – wie vermutlich alle religiösen Menschen – ein unverbesserlicher Optimist. Das bezeugt der letzte Beitrag dieser Anthologie. „Eines schönen Tages“ wird es wohl noch Kriege geben, es wird aber niemand mehr hingehen. Und es wird wohl noch Alkohol geben, doch niemand wird ihn trinken wollen und die Kneipe wird – wie Jack London es in „König Alkohol“ prophezeit – „nur ein Blatt in der Geschichte der Menschheit bedeuten und als ein ebenso alter Brauch erscheinen wie Stierkämpfe und Hexenverbrennungen.“
Allen klugen Köpfen, die an diesem Buch mitgearbeitet haben, sage ich herzlichen Dank, vor allem meinen Kollegen Marianne Soff, Silvia Bonacchi, Eckhart Koellreutter, Rolf Mohr, Hans-Peter Schwöbel und Gerhard Stemberger. Wie stets, seit mehr als vier Jahrzehnten, hat meine Frau Ursula Guss die Korrekturarbeiten übernommen. Seit mehr als vier Jahrzehnten schulde ich ihr dafür großen Dank.
Michael Wertheimer hat mir freundlicherweise erlaubt, die Texte seines Vaters nachzudrucken und seine Tochter war bei der Suche nach geeigneten Fotos sehr behilflich. Der Name, mit dem sie unterzeichnete, war K Wertheimer Watkins. Natürlich wollte ich wissen, wie der Buchstabe K zu dechiffrieren sei. Ich schrieb daher an Michael Wertheimer im Januar 2018 diese Zeilen:
Dear Michael, in the meantime I have gotten the pictures. By the way: stand »K« for Kathleen, for Katherine, or for any other name?
Und nach der guten alten Tradition unserer Korrespondenz fügte ich ein gereimtes Rätsel an:
I don’t know the meaning of Watkins »K«
Let me ask in Shakespeare’s way:
Karen, Kathleen or Katherine – what stands in the middle?
Would be happy you could clear up the riddle.
Die Antwort kam diesmal von seiner Tochter, die mir eine Email schrieb und zwar mit dem wunderbar treffenden Betreff Clearing the window.
You ask a valid question. It is true?My first name is Karellynne, formally?On documents like passports. But I do?First give my name as “K” because, you see,
?When people see “Karellynne,” they don't know?What sounds to speak, yet if they only hear?“Karellynne”, they can rarely spell it. So?I tell folks “K” (not “Kay,” I make it clear).
?Thus I have “Karen” as a childhood name,?“Karellynne” for rare friends who've mastered it,?And “K” as my main moniker to claim?Uniqueness elsewhere as it's requisite.
?My tongue lacks Sie and Du, but these names tell?My role with each I meet, and do it well.
Über diese poetische Antwort war ich mehr als entzückt, denn K Wertheimer Watkins hatte für sie das festliche Gewand des Shakespeare-Sonetts gewählt! Ergebenen Dank für „clearing the window“, liebe K Wertheimer Watkins!
Lieber Max Wertheimer, vielen herzlichen und immerwährenden Dank für das Fenster, durch das wir in eine Welt der Wahrheit, Freiheit und Liebe sehen dürfen.