Beschreibung
Die in der Erziehungswissenschaft vorherrschende Raummetaphorik führt zu heillosen Paradoxien. Aber nicht die Wirklichkeit ist paradox, sondern die Art und Weise, wie sich Pädagoginnen und Pädagogen die Erziehungswirklichkeit denken, erzeugt Paradoxien. Sie entstehen, weil eine zeitlich verfaßte Wirklichkeit in räumliche Kategorien gezwängt wird. Walter Herzog schlägt deshalb vor, das metaphorische Potential der Zeit als alternative Begründung der Pädagogik zu nutzen. Im Rahmen einer modalen Zeitauffassung lassen sich die zentralen Begriffe der Erziehungswissenschaft neu bestimmen. Die zeitliche Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit erschließt der Disziplin die Dimension der Sozialität, dank deren im pädagogischen Alltag Formen reziproker Anerkennung als Medien der Sozialintegration in den Vordergrund rücken. Der Weg der Pädagogik zur Wissenschaft wird durch eine Metaphorik behindert, die das pädagogische Denken in eine fundamentale Paradoxie verwickelt. Im Lichte der dominierenden räumlichen Metaphern erscheint die Erziehung als überblickbare und kontrollierbare Bewegung im Raum. Damit kann nicht verständlich werden, wie sich durch erzieherisches Handeln Bildung befördern läßt. Der pädagogische Gegenstand oszilliert zwischen der theoretisch nicht einholbaren Behauptung, der Mensch werde durch Erziehung zu sich selber befreit, und der praktisch absurden Imagination seiner Unterwerfung durch eine unbegrenzte pädagogische Kausalität. Der Autor empfiehlt der Erziehungswissenschaft, die Paradoxie ihres Gegenstandsverständnisses durch einen Wechsel der Metaphorik aufzulösen, nämlich: anstelle des Raumes das metaphorische Potential der Zeit zu nutzen. Eine zeitlich gedachte Erziehung vermag die pädagogische Intuition nicht nur besser zu artikulieren, sondern auch angemessener zu theoretisieren. Wobei die Zeit als modale Zeit begriffen wird, das heißt als Gliederung der Zeiterfahrung durch die qualitativen Differenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit zerbricht die Vorstellung einer linearen, quasi-räumlichen Einwirkung auf Bildungsprozesse. Die Zukunft ist nicht Teil einer pädagogischen Wirklichkeit, die als seiende auf uns zukommt. Vielmehr ist sie in der Zeit erzeugte Konstruktion von Wirklichkeit, die nicht nur anders ist als die Vergangenheit, sondern auch neu. Die Zeit ermöglicht ein alternatives Verständnis pädagogischer Wirklichkeit. Dies wird anhand zweier Grundkategorien der Erziehungswissenschaft, Wissen und Kommunikation, gezeigt. Als Brücke von der Analyse der Zeit zur Pädagogik des Wissens dient das Konzept der Evolution. Einheit der Evolutionstheorie ist der sich in seiner Umwelt mit dieser entwickelnde Organismus. Im Rahmen der Theorie autopoietischer Systeme ergibt sich eine Verbindung zum erkenntnistheoretischen Konstruktivismus. Wissen entsteht als subjektive Leistung eines Organismus, dessen Organisation und Kontextabhängigkeit den kognitiven Mechanismen Einschränkungen auferlegen. Die Wissensbildung beruht auf der Kopräsenz strukturell gekoppelter Systeme, die für einander Umwelt sind. Genausowenig wie das Wissen kann die Kommunikation als eine Vorgabe betrachtet werden, von der die Erziehung ausgehen könnte. Pädagogische Kommunikation ist weder Übertragung von Wissen, noch beruht sie auf Einfühlung oder Verstehen. Als Operateure ihres Bewußtseins vermögen Menschen weder andere noch sich selber unmittelbar zu verstehen. Kommunikation entsteht aus Kooperation. Da kognitive Systeme informationell geschlossen sind, emergieren Bedeutungen als subjektive Eigenleistungen. Pädagogische Kommunikation ist daher auf präkommunikative Formen der Interaktion verwiesen. Erzieher und Edukand vermögen sich zu verständigen, wenn ihre subjektiv konstruierten Bedeutungsfelder funktional übereinstimmen. Aus der Rekonstruktion der pädagogischen Grundbegriffe des Wissens und der Kommunikation ergibt sich die theoretische Notwendigkeit, Erziehung und Unterricht als soziale Situationen zu begreifen. Eine
Autorenportrait
Walter Herzog geb. 1949; Studium der Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Philosophie an der Universität Zürich; 1980 Doktorat; 1986 Habilitation für Pädagogik an der Universität Zürich; 1988 Research Fellow an der University of California in Berkeley; 1989-1991 Assistenzprofessor an der Universität Zürich; von 1991 bis 2014 Ordinarius für Pädagogik, Pädagogische Psychologie und Allgemeine Didaktik an der Universität Bern. Arbeitsgebiete: Familiäre Erziehung, Unterrichtsforschung, wissenschaftstheoretische Grundlagen der Pädagogischen Psychologie, Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Geschlechterfragen. Wichtige Veröffentlichungen: Modell und Theorie in der Psychologie (1984); Die Situation der Turn- und Sportlehrer (1989); Das moralische Subjekt. Pädagogische Intuition und psychologische Theorie (1991); Hg. mit E. Violi: Beschreiblich weiblich. Aspekte feministischer Wissenschaft und Wissenschaftskritik (1991); (mit E. Böni und J. Guldimann) Partnerschaft und Elternschaft. Die Modernisierung der Familie (1997). Verschiedene Beiträge in Zeitschriften.
Inhalt
Zeitgemäße Erziehung
Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit
I. Raum und Erziehung. Grundzüge einer pädagogischen Metaphorologie
Metaphern als Mittel der Erkenntnis / Erziehung als Bewegung im Raum / Ein Panorama pädagogischer Metaphern / Die Raummetaphorik und der menschliche Körper / Der Raum und die Subjektivität
II. Zeit und Subjektivität. Skizzen zu einer Psychologie des Werdens
Von der Zeit der Wahrnehmung zur Wahrnehmung der Zeit / Die Entwicklung des Zeitbegriffs / Zeit als soziale Konstruktion / Die Zeit und der Mensch / Die Zeit als Metapher
III. Evolution und Geist. Eine konstruktivistische Theorie des Wissens
Die Evolution als selbstorganisierender Prozeß / Geist / Wissen als epistemische Konstruktion / Reflexivität
IV. Kommunikation und Sprache. Eine Theorie des Verstehens
Kommunikation als Übertragung / Kommunikation als symbolische Interaktion / Verstehen / Schriftliche Kommunikation
V. Reziprozität und Anerkennung. Eine Theorie der pädagogischen Situation
Der Unterricht als Sozialsystem / Die Komplexität des Unterrichts / Ein Drei-Ebenen-Modell des Unterrichts / Probleme der pädagogischen Theorie / Pädagogische Handlungskompetenz
Literatur
Namenregister
Sachregister