Beschreibung
Autorität als soziale Interaktionskategorie und gesellschaftliches Ordnungsprinzip ist in vielen Hinsichten bis heute männlich konnotiert. Zugleich ist Autorität in der Moderne und insbesondere im 20. Jahrhundert Gegenstand eindringlicher Kritik. Die interdisziplinären Beiträge des Bandes gehen dem ambivalenten Phänomen der Autorität in philosophischer, historischer, politischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive nach und fragen, wie und mit welchem Ziel sich Autorität weiblich denken lässt.
Autorenportrait
Hilge Landweer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin.Catherine Newmark wurde 2007 am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin promoviert und war dort wissenschaftliche Mitarbeiterin. Heute arbeitet sie als Kulturjournalistin und ist Autorin und Redakteurin u.a. beim Deutschlandfunk Kultur und beim Philosophie Magazin.
Leseprobe
Das Geschlecht der Autorität - Altlasten und feministische NeubestimmungenZur EinführungHilge Landweer und Catherine NewmarkWer über Autorität nachzudenken beginnt, wird schnell auf politisch und gesellschaftlich Zweifelhaftes stoßen - und auf die Kritik daran. Von den autoritären Vätern des klassischen Patriarchats bis zu den Diktatoren und Autokraten des 20. und neuerdings auch 21. Jahrhunderts: Autorität scheint mit einer spezifischen Deformation von Macht- und Herrschaftsverhältnissen verbunden zu sein. Genau in diesem Sinne wurde sie auch Mitte des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand eingehender theoretischer Untersuchungen, allen voran in den Studien über die autoritäre Persönlichkeit der Frankfurter Schule. Auch politische Bewegungen waren in den letzten Jahrzehnten oft motiviert durch Autoritätwskritik, am prominentesten die Studentenbewegung der 68er Jahre, die den "Muff von tausend Jahren" "unter den Talaren" monierte und damit respektlos ihre Kritik an den bis dahin weitgehend unangefochtenen rechtlichen Autoritäten, von denen viele das Unrechtssystem des Nationalsozialismus unterstützt hatten, auf den Punkt brachte.Die Kritik der Autorität reicht freilich weiter zurück als in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Man kann die gesamte Entwicklung der westlichen Gesellschaften und politischen Systeme seit der Aufklärung als großes Projekt der kritischen Auseinandersetzung mit überkommenen Traditions- und Autoritätsordnungen verstehen, und dies entspricht auch durchaus dem Selbstverständnis vieler der geistesgeschichtlichen und politischen Bestrebungen der letzten 300 Jahre.Aber ist mit der Kritik auch schon die Autorität selbst verschwunden? Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Unter und neben den Entwürfen, Projekten und Utopien egalitärer Gesellschaften, die für die Moderne charakteristisch sind, wirkt Autorität als Phänomen an vielen Stellen weiter - mal mehr, mal weniger verdeckt, oftmals kaum erkennbar. In manchen Fällen mag das aufgefasst werden als Problem eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses der Veränderung von ehemals autoritätsorientierten Gesellschaften oder aber als Ausdruck eines reaktionären, wenn nicht gar regressiven politischen Momentes. Aber es spricht vieles für die Annahme, dass Autorität neben dem deutlich sichtbaren öffentlichen Bereich auf einer viel tiefer liegenden Ebene auch in Beziehungen zwischen Personen eine Rolle spielt und sich gar nicht oder zumindest nicht ohne weiteres in der Phantasie des Egalitären auflösen lässt.Sich der Autorität als Begriff und Phänomen zuzuwenden bedeutet darum, die mannigfache und historisch über viele Stufen artikulierte Kritik an traditionellen Autoritätsformen und -auffassungen mitzudenken, sich aber zugleich für das Phänomen jenseits der eingefahrenen Diskurse zu interessieren. Und sich auch, mit der Rückendeckung der bereits vollzogenen Kritik, den möglicherweise positiven, konstituierenden Aspekten von Autorität, etwa dem so fundamentalen Prozess der Autorisierung, zuzuwenden, der in gutem nachbarschaftlichen Einvernehmen mit dem deutlich modischeren Begriff des "Empowerments" stehen könnte.Es bedeutet auch, sich der Frage nach dem Geschlecht zuzuwenden. Wie das oben erwähnte Stichwort des autoritären Patriarchen bereits andeutet, ist Autorität zumindest im klassischen Sinne kaum von der Geschlechterordnung zu trennen. Autorität ist traditionell männlich konnotiert, und sie ist es bis heute geblieben. Fragt man beliebige Personen nach Autoritäten, so nennen die allermeisten als Beispiel männliche Führungsfiguren.Während es leicht scheint, männliche Bilder von Autorität aufzurufen, ist es gar nicht so einfach, Frauen auszumachen, denen Autorität zugeschrieben wird. Dass dies so ist, darf mit Fug und Recht erstaunen, gerade wenn man sich die tiefgreifenden Veränderungen der Geschlechterordnungen in den westlichen Gesellschaften in den letzten 50 Jahren anschaut: Weder die grundlegende rechtliche und wirtschaftliche Emanzipation der Frauen und ihre Eroberung der Öffentlichkeit und des Arbeitsmarktes inklusive Führungsrollen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur noch die allmähliche Veränderung von Männlichkeitsidealen und insbesondere der Vaterrolle in der Familie scheinen daran etwas geändert zu haben.Dieses erstaunliche Missverhältnis von einer immer egalitärer werdenden gesellschaftlichen Praxis und nach wie vor überwiegend männlichen Bildern von Autorität war uns Anlass und Motivation, uns mit dem offensichtlich innigen und komplexen Zusammenhang von Autoritätsbeziehungen und Geschlechterverhältnissen auseinanderzusetzen.Überraschend war für uns, wie wenig in der Philosophie, aus der wir kommen, und in den an sie angrenzenden Bereichen die Frage nach der Autorität in den letzten Jahrzehnten verhandelt wurde, obwohl sie zweifellos ein sozialphilosophisch und politisch ebenso aktuelles wie brisantes Konzept war und bleibt. Autorität war als Thema zwar hier und da präsent, etwa in der Organisationssoziologie, in Managementratgebern und als strittiges Sujet der Pädagogik, aber in der Theoriebildung der letzten Jahrzehnte zumindest dem Begriff nach marginal. In allerjüngster Zeit erst lassen sich erste zaghafte Ansätze einer theoretischen Neubestimmung von Autorität identifizieren.Die großen und einflussreichen Texte zur theoretischen Bestimmung der Autorität entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck der totalitären Diktaturen: Hannah Arendts grundlegender Aufsatz über Autorität etwa oder die bereits erwähnten Studien zur autoritären Persönlichkeit der Frankfurter Schule. Auch die Diskussion um Autorität und Demokratie in den 1950er Jahren reagierte auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Aufgegriffen wurden diese Forschungen in den folgenden Jahrzehnten nur vereinzelt. Die große gesellschaftliche und politische Debatte über Autorität findet im 20. Jahrhundert zweifelsohne 1968 und in den folgenden 1970er Jahren statt; hier geht es um Kritik an einer autoritären Vätergeneration, an autoritären Organisationsformen und Strukturen (insbesondere akademischen), um psychologisch-pädagogische Prägungen und die antiautoritäre Erziehung.Die Tatsache, dass der Begriff "Autorität" bis in die heutige Zeit vor allem im Modus der Kritik in Verwendung ist und nur selten als möglicher positiver Anknüpfungspunkt in Betracht gezogen wird, ist sicherlich in großem Umfang den kulturprägenden 68ern und ihrer expliziten Autoritätskritik zu verdanken. Ebenso aber auch der zweiten Frauenbewegung ab den 1970er Jahren. Denn die gesamte neue Frauenbewegung lässt sich als eine Kritik an überkommenen Autoritätsverhältnissen, an Autorität verstanden als männliche Autorität, deuten, auch wenn die feministische Bewegung ihre Kritik an den patriarchalen Verhältnissen selten explizit unter dem Begriff der "Autorität" diskutierte. Dies gilt auch für die feministische Philosophie und allgemein die sich gesellschaftskritisch verstehende Theoriebildung: auch hier war (und ist) oft das Phänomen der Autorität gemeint, wird aber nicht oder kaum explizit benannt.Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet der Kreis italienischer feministischer Philosophinnen um Luisa Muraro ("Diotima", Mailänder Frauenbuchladen), die schon in den 1980er Jahren nicht nur Autorität zum zentralen Thema erhoben, sondern auch neu und positiv weiblich zu besetzen suchten. Allerdings fiel ihr Ansatz damals außerhalb Italiens kaum auf fruchtbaren Boden (und es freut uns, dass in diesem Band etliche unserer Autorinnen die Anregungen dieser Denkerinnen des "Affidamento", der weiblichen Autorität, differenziert aufnehmen).Die erneute theoretische Beschäftigung mit Autorität, die wir anregen, kann durchaus auf einen reichen philosophischen und theoretischen Traditionsbestand zurückgreifen, der - aufgrund des geringen Fokus auf das Thema - in den letzten Jahrzehnten aus dem Blick geraten ist. Die in dieser Zeit wenig wahrgenommenen historischen Debatten über Autorität und auctoritas von der griechisch-römischen Antike über das Mittelalter bis in die Frühaufklärung bergen einen philosophischen Fundus, der noch längst nicht ausgeschöpft ist.Auch die soziologische Theorie bietet seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit Max Weber begriffliche Bestimmungen, die für die Autoritätsdiskussion klärend sind, aber erstaunlich wenig direkt dafür aufgegriffen und vielmehr kanonisch für die Soziologie der Macht- und Herrschaftsformen wurden. Generell kreisen viele sozialphilosophische Entwürfe um Phänomene, die als "Autorität" bezeichnet werden könnten, wenn der Fokus nur ein wenig verschoben würde, etwa Foucaults Machtanalytik und seine Analysen von Gouvernementalität, die sachlich in engem Zusammenhang mit Autorisierung stehen.Die gesamten geisteswissenschaftlichen Debatten um Kanonisierung und Kanonbildung drehen sich der Sache nach ebenfalls um das Phänomen überlieferter Autorität und Autorisierung. Die Geisteswissenschaften greifen aber trotzdem immer noch allzu selbstverständlich auf eben diese Traditionsbestände zurück, ohne dass die Prozesse, in denen ein Kanon entsteht und immer wieder neu bestätigt wird, pointiert unter den Gesichtspunkten von Autorität und Autorisierung behandelt und die komplexen Beziehungen und Praktiken beim Weitergeben der Tradition analysiert worden wären. Einen radikalen Schnitt unternimmt in dieser Hinsicht der postcolonialism, der das Phänomen der angemaßten Autorität weißer Männer an seine geschichtlichen Bedingungen rückbindet. Aber auch hier spielt der Autoritätsbegriff bisher keine sichtbare Rolle.Einer der Gründe für die fehlende explizite philosophische und sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit Autorität ist sicherlich darin zu sehen, dass es sich dabei nicht nur um einen wenig geklärten Begriff, sondern auch um ein recht fluides Phänomen handelt, das trotz vieler eindrücklicher Bilder begrifflich nicht leicht einzufangen ist. Die Rede von Autorität ist vielfältig und breit gestreut - aber zugleich völlig uneindeutig.Angesichts dieser Situation schien es uns naheliegend, die Debatte um Autorität im breiteren und interdisziplinären geistes- und sozialwissenschaftlichen Kontext (wieder) zu eröffnen. Eine neue Auseinandersetzung mit Autorität scheint uns nicht zuletzt notwendig angesichts der Fülle von gesellschaftlichen und politischen Phänomenen, die nach einer Analyse dieses Phänomens nachgerade lautstark und mit großer Dringlichkeit verlangen: das Aufrufen traditioneller Bilder männlicher Autorität und Führungsstärke durch rechtsnationale und populistische Politiker (von Putin über Erdogan bis Trump), die ambivalente Faszination dafür durch doch beträchtliche Teile der Bevölkerung; die Debatten um weibliche Führungskräfte und Führungsqualitäten; die mannigfaltigen Fragen nach öffentlichen wie intimen Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern, wie sie die Metoo-Debatte aufgeworfen hat; der Trend in bestimmten populären Erziehungsratgebern, zur Rückkehr zu mehr (väterlicher) Autorität und Disziplin aufzurufen; die bereitwillige Unterwerfung unter terroristische Führer und radikale Ideen von göttlicher Weisung bei religiösen Fundamentalisten; überhaupt die gesamte Krisensymptomatik des von der Moderne zunehmend ausgehöhlten Patriarchats. Ganz allgemein ließe sich die These vertreten, dass ein großer Teil der Krisen unserer Tage bei genauerem Hinsehen mit Autoritätsproblemen verknüpft ist.Zumindest aber fordern diese Beobachtungen eine Reihe von Fragen heraus. Welche Verbindung besteht zwischen dem Phänomen der Autorität und gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen? In welchen Prozessen entsteht Autorität, und gibt es womöglich auch in der vom demokratischen Gleichheitsgedanken geprägten Moderne noch so etwas wie ein Bedürfnis nach Autorität? Indizien dafür lassen sich nicht nur in politischen Randgruppen auffinden. Und so kritisch man das angesichts egalitärer Ideale auch sehen mag, die schiere Tatsache der Persistenz von Autoritätsverhältnissen und -bedürfnissen legt es nahe, über Autorität grundlegender als nur im Modus der Kritik und Abschaffung nachzudenken. Dies verlangt ein neues Verständnis von Autorität: sie sollte nicht als Eigenschaft von Personen, sondern als wechselseitige Beziehung aufgefasst werden.Neben einer historischen Aufarbeitung von Autoritätsbeziehungen und -debatten erschien es uns besonders wichtig, nicht nur über dysfunktionale oder missbräuchliche Autoritätsverhältnisse nachzudenken, sondern auch den grundlegenden Charakter von Autoritätsbeziehungen oder -verhältnissen zwischen Personen phänomenologisch und sozialphilosophisch aufzuklären. Dies ist auch aus einem weiteren Grund unverzichtbar: Gerade weil Autorität ein fluides Phänomen ist, muss davon ausgegangen werden, dass sich auch der Typus persönlicher Autorität (die immer in Beziehungen hergestellt wird und niemandem als Eigenschaft anhaftet) als Phänomen stark verändert hat. Dem muss in Beschreibungen ebenso wie in den Begriffen, welche die neuen Phänomene erfassen können sollen, Rechnung getragen werden.Wenn man überhaupt die Möglichkeit nicht nur einer Kritik und Abschaffung, sondern auch einer positiven Veränderung von Autorität in Erwägung ziehen möchte, dann ist man darauf angewiesen, die Dynamik und die Mechanismen der Ausbildung persönlicher Autorität zu verstehen. Denn auch Fragen von gesellschaftlicher Macht und beispielsweise wissenschaftlicher Autorisierung sind auf persönliche Interaktionen angewiesen, da sie nur auf dem Boden prägender etablierter Beziehungen entstehen und aufrechterhalten werden können. In diesem Sinne sind wohl alle Autoritätsbeziehungen letztlich von persönlicher Autorität abgeleitet und eng mit ihr verbunden.Autorität ist, so unsere Auffassung, ein besonderes Verhältnis wechselseitiger Anerkennung, das auf Bindung und Verbindlichkeit auf beiden Seiten angewiesen ist, um bestehen zu können. Eine genaue Analyse dieser Interaktionen ist erforderlich, um sowohl die Möglichkeiten des Missbrauchs als auch die Chancen eines guten Gebrauchs in den Blick zu bekommen. Gerade aus feministischer Sicht erscheint eine Auseinandersetzung unter dem Titel "Autorität" geboten, wenn die Möglichkeiten autorisierender Praktiken konzeptuell analysiert, bedacht und praktisch genutzt werden sollen. Nötig ist also eine zunächst neutrale Beschreibung dieser spezifischen Interaktionsform, um die bisherige negativ-kritische Sicht verlassen und normative Ansprüche positiver Art an Autorität stellen zu können.Es ist paradoxerweise genau diese mögliche positive, autorisierende Seite der Autorität, die zum Frauenausschluss in den männlich geprägten Institutionen der Geschichte geführt und männerbündische Strukturen reproduziert hat. Denn die männlichen Autoritäten der Geschichte ermächtigten im Idealfall ihre ebenfalls männlichen Nachfolger, um ihr (jeweiliges) Werk in Bildung, Wissenschaft, Kunst oder Politik fortzusetzen. Genau dieses autorisierende Verhalten verlangt eine feinkörnige feministische Analyse, um den normativen Anforderungen an Autorität im Sinne des Übernehmens von Verantwortung gerecht zu werden. Die Beschreibung und begriffliche Durchdringung von Prozessen der Autorisierung ist aber auch erforderlich, um Instrumente zu entwickeln, die gezielt feministische Traditionslinien zu etablieren erlauben. Dabei sollte der Begriff der Autorität nicht auf eine feststehende Eigenschaft charismatischer Persönlichkeiten eingeengt werden, sondern als eine Relation verstanden werden, an der mindestens zwei Personen beteiligt sind und die in einem steten Prozess der Veränderung begriffen ist, ein Prozess, der freiwillig eingegangen wird und deshalb auch Anfang und Ende hat.Insgesamt ist uns bei der Neueröffnung der Debatte um Autorität daran gelegen, eingefahrene Denkweisen der disjunktiven Entgegensetzung von alten und neuen, von traditionellen und flacheren Formen der Autorität, von persönlicher und politischer, von väterlicher und mütterlicher Autorität, von einem auf die charismatische Persönlichkeit beschränkten und einem relationalen und prozessualen Autoritätsverständnis, von Kontinuitäten und Brüchen und schließlich vor allem von der "schlechten" und "guten" Autorität zu vermeiden und trotz begrifflicher Klarheit den Zusammenhang der zumeist dualistisch gedachten Seiten in seinen Ambivalenzen darzustellen. Nur im Bewusstsein der negativen Gefährdungen von Autorität lässt sich ein positives Ideal entwickeln, das der Realitätsprüfung standhält.Warum, so die naheliegende Frage, ist es so schwer, weibliche Autorität zu etablieren? Imaginationen folgen nicht unbedingt rationaler Einsicht, sondern speisen sich aus archaischen Quellen, aber natürlich auch aus dem kulturellen Bilderrepertoire. Das ergibt eine eigenartige Ungleichzeitigkeit von normativen egalitären Idealen und unbewussten Vorstellungen. Wer sich diese Mechanismen bewusst macht, hat die Möglichkeit, weibliche Bilder von Autorität in der Kulturgeschichte aufzurufen, etwa bestimmte Ausprägungen des Mutterbildes, wie es schon Horkheimer versucht hat, und wie insbesondere die italienischen Feministinnen es programmatisch verfolgt haben. Der Rückgriff auf eine positive Mütterlichkeit und einen positiven Autoritätsbegriff wurde zwar insbesondere in Deutschland nur sehr skeptisch rezipiert, weil er aufgrund beider Pole - dem der Mütter und dem der Autorität - gerade innerhalb der feministischen Theorie unter Ideologieverdacht stand. Wenn dagegen, wie wir es unternehmen, Autorität auch jenseits des bloß kritischen Modus zum Gegenstand gemacht werden soll, dann lassen sich hier äußerst produktive Anschlussstellen finden, wie in vielen Beiträgen zu diesem Band deutlich wird.Den Band eröffnen wir darum mit einem Interview mit Luisa Muraro, der großen italienischen Philosophin des "affidamento", der weiblich gedachten Autorität, das den Bogen über die wichtigsten in diesem Band verhandelten Themen spannt.Im Weiteren unterteilt sich der Band in vier Teile, die selbstverständlich nicht als streng getrennt zu verstehen sind, aber doch thematische Schwerpunkte anzeigen. Den Anfang macht eine Reihe von Texten, die sich dem Phänomen und den Debatten über Autorität sozialwissenschaftlich und historisch annähern. In Die Autorität der Kanzlerin - Eine Annäherung widmet sich Sylka Scholz der Frage, wie sich Angela Merkel als erste Frau im Kanzleramt am männlichen Bild des Berufspolitikers reibt und sich seiner gleichzeitig bedient. Till van Rahden stellt in Was war die "vaterlose Gesellschaft"? Alexander Mitscherlich und die Debatte über Demokratie und Autorität Mitscherlichs wirkmächtige Studie über die vaterlose Gesellschaft in den Kontext der Demokratie-Debatten der 1950er Jahre und das darin Ausdruck findende veränderte Geschlechterverständnis. Meike Sophia Baader untersucht in Autorität, antiautoritäre Bewegung und Autorisierung im Spannungsfeld von Politik, Erziehung und Geschlecht ausführlich die vor allem für die 1970er Jahre zentrale Debatte um antiautoritäre Erziehung und stellt fest, in welchem Umfang hier vor allem Kritik an väterlicher Autorität im Fokus stand, aber weibliche Autorität gerade nicht thematisiert wurde. Friederike Bahl rekonstruiert in Autorität im Richteramt und die "Feminisierung" der Justiz die Geschichte des Zugangs von Frauen zum Richteramt und diskutiert die neueren feministischen und diversity-orientierten Kritiken des Anspruchs auf richterliche Objektivität als zentrales Autoritätsmerkmal der richterlichen Entscheidung.Unter dem Titel Phänomenologie moderner Autorität folgt eine Serie von Texten, die unterschiedliche Autoritätsphänomene sozialphilosophisch analysieren. Ruth Großmaß führt in "Autorität" als sexuierte Dimension sozialer Beziehungen im Anschluss an Richard Sennett Autorität auf ein Orientierungsbedürfnis zurück, das in Autoritätsbeziehungen eingelöst wird. Dabei betont sie nicht nur den überkommenen Genderaspekt, sondern auch den prozessualen Charakter und die krisenhaft verlaufenden Transformationen von Autoritätsbeziehungen. In unserem eigenen Beitrag Verdeckte Autorita?t - Moderne Gefu?hlsdynamiken beschreiben wir Autorität als ein Interaktionsverhältnis, das sich über Gefühlsdynamiken etabliert und in alltäglichen personalen Beziehungen meist weitaus flachere Formen annimmt, als es das klassische Bildrepertoire nahelegt. Philipp Wüschner nimmt in Jovialität - Männliche Umgangsformen mit der eigenen Autorität die Jovialität als eine gut etablierte Möglichkeit für Männer, mit Autorität zu spielen, ins Visier, eine Möglichkeit, die Frauen bezeichnenderweise verwehrt ist beziehungsweise nicht ohne weiteres zur Verfügung steht.Aktuellen politischen Phänomenen, insbesondere dem Aufstieg des Rechtspopulismus und dessen Beziehung zu klassischen Autoritätsvorstellungen widmen sich die Texte des nächsten Teils. In Rückkehr der Autorität? Auf der Suche nach der verlorenen (Geschlechter-)Normalität deutet Maren Wehrle den rechtspopulistischen Backlash gegen die feministische Bewegung und die Gender Studies als Ausdruck der relativen Stärke dieser Bewegung. Autorität wird, so Wehrles Analyse, gewissermaßen im Spannungsfeld zwischen zwei verschiedenen normativen Orientierungen ausgehandelt. Simone Rosa Miller analysiert in Politische Autorität heute - Zwischen demokratischem Ideal und neurechter Transzendenz den grundlegenden Unterschied der konstituierenden demokratischen Vorstellung von Verfahrens- und Expertenautorität zur in neurechten Bewegungen virulenten Rückkehr zu älteren, transzendent begründeten Autoritätskonzepten. Auch Insa Härtel geht in "Nur nicht das Über-Ich"? Transformationen von Autorität in psychoanalytisch-kulturtheoretischer Sicht auf die rechtspopulistischen Krisensymptome der Männlichkeit ein und stellt eine Verbindung zu psychoanalytischen Konzepten des Über-Ichs als internalisierter Autorität her. Nancy Luxon untersucht in Switchpoints of Power - Gender and Authorial Practices in #MeToo die Legitimation und Autoritätsgrundlage der politischen Kritik an den bestehenden Geschlechterverhältnissen im Zuge der MeToo-Bewegung. Entscheidend sind ihr zufolge dabei die fragile weibliche Sprechposition und deren Zugang zu Mechanismen der Autorisierung.Im letzten Teil schließlich sind Texte versammelt, die sich der feministischen Aneignung von philosophischen Traditionen widmen. Während Frauke A. Kurbacher in Das ambivalente Verhältnis von Autorität und Freiheit - Von Thomasius über Derrida zu Arendt und Muraro den historischen Bogen bis in die Frühaufklärung zurückspannt, unternimmt Andrea Günter in ihrem Text Autorität und Gerechtigkeit - Die Generationen- und Geschlechterdifferenz als genealogische Konstellation eine noch tiefer in die Philosophiegeschichte zurückreichende Rekonstruktion des Verhältnisses von Geschlecht, Autorität und Gerechtigkeit, nämlich bis zu den antiken Gerechtigkeitstheorien von Platon und Aristoteles. Wie die beiden vorgenannten Autorinnen schließt auch Katrin Wille in Feministische Theorie und Praxis der Autorität positiv an Hannah Arendt und die Mailänder Philosophinnengruppe "Diotima" an, um aus dem philosophischen Traditionsbestand heraus den Begriff der Autorität für zeitgenössische feministische Vorhaben auch praktisch fruchtbar zu machen. Mit diesem Bezug auf die Gruppe Diotima und den Mailänder Frauenbuchladen schließt sich auch der Kreis wieder zu Luisa Muraro, deren Interview diesen Band eröffnet.Eine weitere Bezugnahme spannt sich wie ein roter Faden durch sehr viele Beiträge in unserem Band, nämlich die auf Hannah Arendts Essay "Was ist Autorität?". Erstaunlich ist, dass dabei immer wieder neue Nuancen dieses Textes sichtbar werden. Es hat uns überrascht und gefreut, dass die in diesem Band versammelten Aufsätze gewissermaßen im Subtext als Kommentierungen von Hannah Arendts inzwischen "klassisch" gewordener Arbeit über Autorität gelesen werden können und auf diese Weise selbst ein - bei mancher Kritik doch letztlich durchgängig positives - gemeinsames Autoritätsverhältnis zu ihr etablieren und so zu Arendts Kanonisierung beitragen.Wir danken Cornelia Klinger und den anderen Herausgeberinnen für die freundliche Aufnahme unseres Bandes in die Reihe "Politik der Geschlechterverhältnisse", Judith Wilke-Primavesi und dem Campus Verlag für die tatkräftige Unterstützung unseres Projekts und Carsten Flaig und vor allem Jenny Stupka für die zuverlässige, schnelle und präzise Hilfe bei der Erstellung des satzfertigen Manuskripts. Am meisten aber haben wir unseren Autorinnen zu danken, die unser Unternehmen durch ihre Intellektualität, Kreativität und Lust gefördert haben. Die Zusammenarbeit mit Euch und Ihnen war uns eine große Freude."Der Neid ist ein Huhn, das seine Eier ausbrütet und so unsere heimlichen Wünsche warm hält"Luisa Muraro im Gespräch über die Politik des "affidamento"Die Fragen stellten Hilge Landweer und Catherine NewmarkHilge Landweer (HL) und Catherine Newmark (CN): Affidamento bedeutet "sich anvertrauen". Könnten Sie dieses Konzept den Leserinnen bitte kurz erläutern? Warum sehen Sie Autorität als ein positives Phänomen an, nachdem Autorität doch mindestens seit der Aufklärung und verstärkt noch einmal nach dem Totalitarismus in Misskredit geraten ist?Luisa Muraro (LM): Den Namen Affidamento haben wir jener vorrangigen Beziehung gegeben, die sich zwischen zwei Frauen entwickeln kann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Vertrauen, Wertschätzung, Bereitschaft, sich einander zu helfen. Wie Lia Cigarini gesagt hat, ist das keine Beziehung, die wir erfunden haben, es gab sie schon früher und sie lässt sich oft in den Biographien von Frauen aufspüren, die versucht haben, ohne Unterordnung unter das Denken und Wollen von Männern zu leben.Dieser Beziehung haben wir einen Namen gegeben, um sie zu einer bewussten Beziehung zu machen, und um sie bekannt zu machen. So ist eine neue Praxis in den Beziehungen zwischen Frauen entstanden. Beziehungen zwischen zwei Frauen, die nicht um jeden Preis versuchen gleich zu sein: Der Gleichheit ziehen sie jenes dynamische Ungleichgewicht vor, das dann entsteht, wenn Autorität vorhanden ist.Aber Autorität, so wenden Sie ein, ist ein Wort, das seit der Aufklärung in Misskredit geraten ist. Das stimmt nicht ganz. Mitte des letzten Jahrhunderts hat Hannah Arendt einen hervorragenden Essay über den politischen Wert der Autorität geschrieben (in: Between Past and Future: Six Exercises in Political Thought, 1954). Allerdings räumt Arendt da auch ein, dass die Autorität in einer immer schlimmeren Krise ist und oft mit einer Form von Macht- oder Gewaltausübung verwechselt wird. Wir haben etwas getan, um diesen Zustand zu verändern.Was haben wir in der Autorität gesehen? Um diese Frage zu beantworten, schöpfe ich aus meinen Forschungsarbeiten, aus meiner Erfahrung in der feministischen Bewegung und aus dem Wissen, das andere erarbeitet haben. Autorität ist eine Beziehungsqualität, die mit Freiheit vereinbar ist - ja, sie ist der Freiheit sogar zuträglich, weil sie das Beziehungsleben dem Zugriff der Macht streitig macht. Macht ist eine Summe von Dominanz auf der einen und Ohnmacht auf der anderen Seite. Autorität besitzt eine Kraft wie die Sprache, die wir sprechen: Der Sinn für Autorität und der Sinn der Autorität entsteht nämlich, wenn wir sprechen lernen. Das Maximum an Autorität mit dem Minimum an Macht - diese Formel hat eine Lehrerin geprägt, die sich darüber bewusst war, dass Macht im organisierten Zusammenleben unvermeidlich ist, aber sie wusste auch, wie ihrem Vordringen entgegengewirkt werden kann: indem man sie so weit wie möglich überflüssig macht.HL/CN: Gibt es spezifisch weibliche Formen von Autorität? Üben Frauen Autorität anders aus, wenn sie in Machtpositionen sind (etwa in der Politik oder im Berufsleben)?LM: In den patriarchalen Kulturen, wo die Figur des Vaters Autorität und Macht in sich vereinte, herrschten die Männer in vielen Bereichen über die Frauen. Aber nicht in allen, denn Rollen und Kompetenzen waren - mit den entsprechenden Formen der Autorität - zwischen Männern und Frauen aufgeteilt.In der Moderne haben sich im Zuge der Emanzipation für die Frauen viele Dinge zum Besseren gewendet, doch die Emanzipation ist eine Falle. Dazu möchte ich nur ein Beispiel anführen (es stammt aus den historischen Forschungen von Waltraud Pulz): Als die Hebammen in Europa eine professionelle Ausbildung erhielten, verloren sie bei den Frauen Ansehen und Kredit, und zwar zugunsten der Ärzte. Mit der Emanzipation wird das Männliche zum einzigen Modell und zum Maßstab auch für die Frauen. Wenn ich zum Beispiel sage, dass Angela Merkel einen weiblichen Regierungsstil hat, rümpfen die emanzipierten Frauen die Nase: Das Wort "weiblich" ist für sie kein Plus, meiner Auffassung nach hingegen schon.Es gibt eine Tatsache, über die wir genauer nachdenken sollten: Der Aufschwung des Feminismus mitten in der 68er-Bewegung ist der Revolte von Frauen zu verdanken, die emanzipiert und in die Männerwelt integriert waren. Sie haben sich von der politischen Welt der Männer getrennt, um sie selbst zu werden, und nicht Kopien oder Untergeordnete der Männer.Natürlich ist die weibliche Art Autorität auszuüben, die ich zum Beispiel in der deutschen Kanzlerin sehe, eine subjektive Interpretation - von meiner Seite, die sie wahrnimmt, und von ihrer Seite, die sie verkörpert. Autorität nimmt je nach Personen und Kontext Gestalt an, sie zeigt sich auf unterschiedliche Art und wird auf unterschiedliche Art wahrgenommen.
Inhalt
InhaltDas Geschlecht der Autorität - Altlasten und feministische Neubestimmungen: Zur Einführung 7Hilge Landweer und Catherine Newmark"Der Neid ist ein Huhn, das seine Eier ausbrütet und so unsere heimlichen Wünsche warm hält" 19Luisa Muraro im Gespräch über die Politik des "affidamento"Autorität im 20. und 21. Jahrhundert -Sozialwissenschaftliche und historische PerspektivenDie Autorität der Kanzlerin - Eine Annäherung 31Sylka ScholzWas war die "vaterlose Gesellschaft"? Alexander Mitscherlich und die Debatte über Demokratie und Autorität 55Till van RahdenAutorität, antiautoritäre Kritik und Autorisierung im Spannungsfeld von Politik, Erziehung und Geschlecht 87Meike Sophia BaaderAutorität im Richteramt und die "Feminisierung" der Justiz 125Friederike BahlPhänomenologie moderner Autorität - Sozialphilosophische Perspektiven"Autorität" als sexuierte Dimension sozialer Beziehungen 153Ruth GroßmaßVerdeckte Autorität - Moderne Gefühlsdynamiken 177Hilge Landweer und Catherine NewmarkJovialität - Männliche Umgangsformen mit der eigenen Autorität 195Philipp WüschnerGegenwärtige politische Herausforderungen - Von der neuen Rechten bis MeTooRückkehr der Autorität? Auf der Suche nach der verlorenen(Geschlechter-)Normalität 219Maren WehrlePolitische Autorität heute - Zwischen demokratischem Ideal und neurechter Transzendenz 241Simone Rosa Miller"Nur nicht das Über-Ich"? Transformationen von Autorität in psychoanalytisch-kulturtheoretischer Sicht 263Insa HärtelSwitchpoints of Power - Gender and Authorial Practices in #MeToo 281Nancy LuxonFeministische Aneignungen philosophischer TraditionenDas ambivalente Verhältnis von Autorität und Freiheit - Von Thomasius über Derrida zu Arendt und Muraro 301Frauke A. KurbacherAutorität und Gerechtigkeit - Die Generationen- und Geschlechterdifferenz als genealogische Konstellation 317Andrea GünterFeministische Theorie und Praxis der Autorität 343Katrin WilleAutorinnen und Autoren 359
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