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Mehr Reichtum, mehr Armut

eBook - Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Erschienen am 09.03.2017, Auflage: 1/2017
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593427843
Sprache: Deutsch
Umfang: 211 S., 3.18 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Soziale Ungleichheit nimmt heute wieder zu. Im 20. Jahrhundert gab es aber auch Phasen, etwa die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg oder während des außergewöhnlichen "Wirtschaftswunders" der 1950er- bis 1970er-Jahre, in denen es zu einer Abmilderung sozialer Schärfen kam. Doch zur Dynamik und Geschichte der sozialen Ungleichheit haben sich Historiker bisher selten geäußert.Hartmut Kaelbles neues Buch wirft diesen längst überfälligen "Blick zurück". Es beschreibt die Entwicklungen der sozialen Ungleichheit dabei umfassend: Kaelble blickt auf die gesamte Zeitspanne von 1900 bis heute, auf Deutschland und Europa und auf die Verteilung der Vermögen und Einkommen. Er bezieht aber auch - anders als Wirtschaftswissenschaftler - Bildung, Wohnen, Gesundheit und individuelle Aufstiegsmöglichkeiten in seine Analyse ein. Zudem nimmt er die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit und den Einfluss der Politik auf sie ins Visier. So wird deutlich: Die Zunahme sozialer Ungleichheit ist vermeidbar.

Autorenportrait

Hartmut Kaelble ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Leseprobe

EinleitungDie Verschärfung der sozialen Ungleichheit ist eine prägende Erfahrung der Gegenwart. Dieses Buch möchte die Augen dafür öffnen, dass es dagegen in der Geschichte viele Entwicklungen der Ungleichheit gab, neben Verschärfungen auch Abmilderungen der sozialen Ungleichheit. Es behandelt Europa im 20. Jahrhundert als ein Labor ganz unterschiedlicher Entwicklungen der sozialen Ungleichheit. Es wendet sich daher gegen das Dogma, dass in der Moderne gesellschaftlicher Fortschritt und wirtschaftlicher Wohlstand mit sozialer Ungleichheit bezahlt werden müssten.1 Es richtet sich auch gegen das Diktum, dass der moderne Kapitalismus unvermeidlich Ungleichheit erzeugt. Das Buch möchte dazu anspornen, genau hinzusehen.Es sei daran erinnert, dass unsere Vorstellungen über soziale Ungleichheit viel mit Geschichte zu tun haben. In unseren Köpfen streiten sich fünf verschiedene historische Vorstellungen vom historischen Wandel der sozialen Ungleichheit: Wir glauben erstens, dass die modernen Industriegesellschaften mit weniger sozialer Ungleichheit belastet waren als die Gesellschaften vor der Industrialisierung. Die sozialen Gegensätze zwischen den prunkvollen Höfen, den reichen adligen, im Luxus lebenden Großgrundbesitzern, den wohlhabenden städtischen Patriziern und den armen, oft leseunkundigen Bauern und Tagelöhnern des alten Europa waren erheblich größer als zwischen den heutigen Managern und Industriearbeitern. Auch heute noch ist in den armen, wenig industrialisierten Ländern Afrikas und Lateinamerikas wie Guinea-Bissau oder Kolumbien die soziale Ungleichheit der Einkommen weit schärfer als in unseren modernen westlichen Gesellschaften. Selbst noch in dem halb industrialisierten deutschen Kaiserreich war die Vermögens- und Einkommensungleichheit erheblich größer als im heutigen, voll industrialisierten Deutschland. Industrialisierung dämpfte nach dieser Vorstellung die soziale Ungleichheit.Eine zweite Vorstellung: Wir beobachten im atlantischen Raum eine völlige Umkehrung der internationalen Unterschiede der sozialen Ungleichheit. Noch vor hundert Jahren galten die Vereinigten Staaten nicht nur als das Land der sozialen Aufsteiger vom Tellerwäscher zum Millionär, sondern auch als das Land der sozialen Gleichheit, der relativ geringen sozialen Unterschiede. Heute sehen wir genau umgekehrt die USA aus der europäischen Perspektive als das Land besonders scharfer sozialer Gegensätze an, unseren eigenen Kontinent dagegen als eine Weltregion begrenzter sozialer Unterschiede.Eine dritte Vorstellung: Blicken wir aus Europa nach Osten, dann stellen wir fest, dass ein Konkurrent Europas um die Abmilderung der sozialen Ungleichheit verschwunden ist. Noch vor 30 Jahren galt der riesige Raum von der ostdeutschen Mauer bis nach Shanghai, also das östliche Europa, die Sowjetunion und China, als eine Region mit erheblich weniger sozialer Ungleichheit als das kapitalistische Europa. Demokratie und marktwirtschaftlicher Wohlstand schien man im westlichen Europa und in den USA mit mehr sozialer Ungleichheit bezahlen zu müssen als im kommunistischen Teil der Welt. Das ist vorbei, denn sowohl das Putinsche Russland und als auch das kommunistische China sind nicht nur keine Demokratien, sondern auch mit weit mehr sozialer Ungleichheit belastet als Europa. Die Demokratien Ostmitteleuropas unterscheiden sich dagegen in ihrer sozialen Ungleichheit nicht mehr vom westlichen Europa. Anders als vor dem Fall der Mauer verbinden sich daher im heutigen Weltmaßstab Demokratie und Marktwirtschaft in Europa mit einer vergleichsweise milden sozialen Ungleichheit.Eine vierte Vorstellung steigert dies noch. Auch innerhalb Europas entwickelten sich die sozialen Ungleichheiten unterschiedlich. Als besonders beeindruckend gilt die Abmilderung der sozialen Ungleichheit in den skandinavischen Ländern. Sie waren noch in der Zwischenkriegszeit Länder mit moderaten Demokratien, aber mit hoher sozialer Ungleichheit der Einkommen im Vergleich jedenfalls mit Deutschland oder Österreich. Heute dagegen ist die Einkommensverteilung in den skandinavischen Ländern nicht nur erheblich weniger ungleich als in der Zwischenkriegszeit, sondern auch weniger ungleich als in den meisten anderen europäischen Ländern. Zusammen mit Japan weist dieser Teil Europas die geringsten Ungleichheiten der Einkommen weltweit auf.Die fünfte Vorstellung: Im Gegensatz dazu beobachten wir, dass die soziale Ungleichheit in der jüngsten Geschichte in Europa erheblich zunimmt. Vor allem die Managergehälter sprengen alles bisher Übliche und führen zu einer Ungleichheit, die noch vor wenigen Jahrzehnten nicht vorstellbar war. Die Gehälter in den Spitzenpositionen der Wirtschaft steigen und steigen. Gleichzeitig nimmt die Armut zu. Diese Entwicklung ist für viele überraschend. Das Ausbrechen der Managergehälter aus dem bisherigen Rahmen wird deshalb oft auch als Zeichen einer Amerikanisierung bezeichnet. In Deutschland verschärfte sich die soziale Ungleichheit sogar besonders spürbar. Noch vor einem halben Jahrhundert war das in Europa ganz anders. Die Einkommens- und Vermögensunterschiede milderten sich in Europa ein Vierteljahrhundert lang ab. Die sozialen Distinktionen gingen zurück. Reich und Arm schien dem gleichen Konsumideal der Autos, Kühlschränke, Staubsauger, Schallplatten und Fernsehapparate, der Telefone und Einbauschränke zu frönen.Nimmt man alle diese Vorstellungen zusammen, steht man vor einem tiefen Widerspruch: Einerseits erscheint die soziale Ungleichheit in Europa in einem immer milderen Licht nicht nur im Vergleich zu den vorindustriellen Gesellschaften der eigenen Geschichte und der globalen Gegenwart, sondern auch im Vergleich zu den USA und zu den neuen aufsteigenden Ökonomien China, Russland, Indien und Lateinamerika. Andererseits verschärft sich die soziale Ungleichheit in Europa spürbar. Um diesen Widerspruch aufzulösen und um zu wissen, welche dieser Tendenzen am Ende die gewichtigeren wurden, ist es notwendig, die Geschichte der sozialen Ungleichheit im 20. Jahrhundert im globalen Vergleich genauer zu betrachten.In jüngster Zeit wird uns von Experten der sozialen Ungleichheit eine sechste Vorstellung vorgetragen: Der moderne Kapitalismus verschärfte seinem Wesen nach in der Geschichte soziale Ungleichheit immer mehr. Die Reichsten häuften immer größere Vermögen in ihren Händen auf und verschafften sich damit auch immer mehr Macht. In der europäischen Geschichte wurde dieser kontinuierliche Prozess der Verschärfung der sozialen Ungleichheit bisher nur in einer Epoche unterbrochen: in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit zwischen 1914 und 1945. Die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise haben viele Vermögen zerstört und in der Folge soziale Ungleichheit abgemildert. In dieser Vorstellung war die Abmilderung der sozialen Ungleichheit also ganz an Katastrophen von großen Kriegen und schweren Wirtschaftskrisen gebunden. Diese Vorstellung von der Geschichte der sozialen Ungleichheit ist bisher noch nicht stark verbreitet, nicht einmal unter Experten. Aber sie wurde von einem prominenten Autor, dem französischen Ökonomen Thomas Piketty, zur Diskussion gestellt und wird deshalb auch in diesem Buch diskutiert.2 In scharfem Gegensatz dazu interpretiert Branko Milanovi? in seinem soeben erschienenen Buch die Geschichte der sozialen Ungleichheit als eine Serie von Zyklen. Der vorletzte Zyklus begann im 19. Jahrhundert mit zunehmender Ungleichheit und schlug im kurzen 20. Jahrhundert in abnehmende Ungleichheit um. Der neueste Zyklus setzte nach dieser Vorstellung in den 1980er Jahren wieder mit verschärfter Ungleichheit ein, die dann wieder in eine Periode der sich abmildernden Ungleichheit übergehen sollte. Auch darauf wird eingegangen.3AufbauJede der vier Epochen des 20. Jahrhunderts, die in diesem Buch behandelt werden, steht für eine andere Entwicklung der sozialen Ungleichheit. Die beiden Jahrzehnte vor 1914, mit denen sich das erste Kapitel befasst, stehen für die Industrialisierung und für einen unregulierten, liberalen Industriekapitalismus. Die soziale Ungleichheit entwickelte sich fast ohne staatliche Regulierungen, aber auch ohne die Einwirkung von Wirtschaftskrisen oder Kriegen. Im zweiten Kapitel behandeln wir die völlig andere Epoche der beiden Weltkriege und der bisher schlimmsten Wirtschaftskrise. Die umstrittenen Auswirkungen von Kriegen und Wirtschaftskrisen auf soziale Ungleichheit stehen im Zentrum dieses Kapitels. Es wirft die Frage auf, ob Kriege und Wirtschaftskrisen die sozialen Ungleichheiten verschärften oder ob sie sie abmilderten, dann allerdings mit den enormen Kosten von unzähligen Todesopfern und tiefer Misere. Das dritte Kapitel über die 1950er bis 1970er Jahre untersucht eine wiederum völlig andere Art von Abmilderung der sozialen Ungleichheit. Sie war in den wirtschaftlichen Prosperitätsjahren verbunden mit außergewöhnlich hohem wirtschaftlichem Wachstum und einer einzigartigen Steigerung des Wohlstands. In diesem Kapitel geht es also um die denkbar beste Option der Entwicklung der sozialen Ungleichheit. Allerdings ist diese Epoche abgeschlossen. Das vierte Kapitel befasst sich deshalb mit der Frage, warum sich die soziale Ungleichheit seit den 1980er Jahren wieder verschärfte: Lag dies in einer zielgerichteten Rückkehr der Politik in die Zeit vor 1914, also in den ungeregelten Kapitalismus mit seiner starken Zunahme der sozialen Ungleichheit, oder waren ganz neue Faktoren wie die Globalisierung oder der Finanzkapitalismus für den Abschied von der Abmilderung der sozialen Ungleichheit entscheidend? Jedes dieser vier Kapitel erschließt daher eine ganz unterschiedliche Entwicklungsoption der sozialen Ungleichheit. Es wäre sicherlich ein Trugschluss zu glauben, dass sich eine dieser Entwicklungen genauso in der Gegenwart und Zukunft wiederholte. Aber es lassen sich doch Schlüsse für die Gegenwart aus diesen unterschiedlichen Optionen ziehen.ZugängeFür dieses Buch wurden fünf Zugänge gewählt, die es von anderen Büchern zur sozialen Ungleichheit unterscheiden.Erstens handelt dieses Buch von Geschichte. Die Geschichte der sozialen Ungleichheit erschließt viel mehr unterschiedliche Entwicklungen als die Gegenwart. Vor allem eröffnet sie uns nicht nur Verschärfungen der sozialen Ungleichheit, wie wir sie in der Gegenwart erleben, sondern auch Abmilderungen. Die Geschichte macht daher Hoffnung, weil Abmilderungen der sozialen Ungleichheit nicht nur theoretisch denkbar sind, sondern tatsächlich stattgefunden haben und sogar von den älteren europäischen Zeitgenossen noch miterlebt wurden. Dabei soll, wie soeben gesagt, nicht übersehen werden, dass Geschichte nicht eins zu eins auf die Gegenwart übertragen werden kann und sie sich nicht wiederholen lässt.Zweitens behandelt dieses Buch den internationalen Wandel. Es stellt Europa in das Zentrum und vergleicht es mit der übrigen Welt. Auch diese internationale Perspektive erschließt viel mehr Entwicklungen als ein Buch, das nur von Deutschland handelt. Schon der europäische Vergleich erfasst ganz andere Entwicklungen als in Deutschland und beeinflusst damit auch unser Selbstverständnis als Deutsche. Darüber hinaus zeigt uns der Vergleich Europas mit außereuropäischen Regionen, vor allem mit den USA, aber auch mit den neuen aufsteigenden Ökonomien des Südens der Welt Entwicklungen, die auch für unser Selbstverständnis als Europäer wichtig sind. Die Verschärfung der Ungleichheit der Einkommen in Europa war in der jüngeren Geschichte nicht so massiv wie in außereuropäischen Länder. Das lag an bestimmten Vorzügen unserer europäischen Gesellschaften, deren wir uns stärker bewusst werden sollten und die wir uns auch für die Zukunft sichern sollten. Es ist sicher nicht einfach, die internationale Entwicklung in einem so kurzen Buch darzustellen. Nicht umsonst haben berühmte Wissenschaftler wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler und der Soziologe Pierre Bourdieu nur ihr eigenes Land behandelt. Trotzdem ist in diesem Buch die internationale Perspektive gewählt worden.Drittens behandelt dieses Buch nicht nur die Einkommens- und Vermögensverteilung wie das außergewöhnlich erfolgreiche Buch von Thomas Piketty und wie viele andere sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Meist unausgesprochen wird dort davon ausgegangen, dass die Vermögens- und Einkommensunterschiede alle anderen Dimensionen der sozialen Ungleichheit bestimmen. Das ist aber ein Irrtum. Die Geschichte zeigt uns, dass die soziale Ungleichheit in der Bildung, im Wohnen, in der Gesundheit, aber auch die der sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und sozialen Distinktionen sich in der Regel ganz anders entwickelte als in den Einkommen und Vermögen. Wie bedeutsam die Unterschiede der Einkommen und Vermögen für unsere Gesellschaft sind, kann man am Ende als Wissenschaftler und als Zeitgenosse erst beurteilen, wenn man diese anderen Dimensionen der sozialen Ungleichheit im Auge hat. Große Unterschiede der Vermögen oder Einkommen haben ein begrenztes Gewicht, wenn die Unterschiede in der Bildung oder in der Gesundheit gering oder die Aufstiegschancen weit gefächert sind. Sie haben ein viel größeres Gewicht, wenn auch in allen anderen Dimensionen der sozialen Ungleichheit die Unterschiede sich verschärfen und die Aufstiegschancen blockiert werden. Sicher ist es schwieriger, allen diesen Dimensionen gerecht zu werden. Aber Einkommen und Vermögen sind nur ein Ausschnitt, der manchmal beschönigt, manchmal verdüstert.Man mag sich fragen, was soziale Distinktionen oder - wie es auch heißen kann - soziale Trennlinien mit sozialer Ungleichheit zu tun haben. Solche sichtbaren, spürbaren und erfahrbaren sozialen Distinktionen sind für die Orientierung und Selbsteinordnung des Einzelnen in der Gesellschaft und für das soziale Vertrauen in Andere, also für den sozialen Zusammenhalt, ohne Zweifel nötig und unvermeidbar. Sie werden auch nicht täglich bewusst gezogen, sondern gelten sehr oft als eine Selbstverständlichkeit, als ein Habitus, der seit der Kindheit durch familiäre Erziehung und durch die soziale Umgebung eingeübt wird. Soziale Trennlinien können ein substantieller Teil sozialer Ungleichheit sein, wenn sie Berufs- und Bildungschancen versperren oder soziale Gleichheitserwartungen verletzen und deshalb Konflikte erzeugen. Soziale Trennlinien müssen deshalb nicht immer Teil der sozialen Ungleichheit sein, sind es aber oft und werden nur dann hier behandelt. Der Wandel sozialer Trennlinien spiegelt nicht einfach den Wandel der Disparitäten der Vermögen, der Einkommen, des Wohnens oder der Gesundheit wider. Sie können durch Veränderung von wirtschaftlichen Ressourcen in Krisen oder Kriegen entstehen, mit denen einzelne soziale Milieus die sozialen Trennlinien in den Lebensweisen aufrechterhalten. Soziale Trennlinien wurden im 20. und im 21. Jahrhundert aber auch durch wirtschaftliche Entwicklungen wie den Aufstieg der modernen Konsumgesellschaft oder die Durchsetzung neuer Medien, aber auch durch politische Entwicklungen wie den modernen Wohlfahrtsstaat beeinflusst. Soziale Distinktionen können dadurch eine andere Dynamik annehmen als die Ungleichheiten der Vermögen, Einkommen, des Wohnens oder der Gesundheit.Dieses Buch behandelt viertens auch die Entwicklung der Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit und die Debatten über dieses Thema. Auch dieser Teil der Geschichte der sozialen Ungleichheit wird oft beiseitegelassen. Aber die Wahrnehmungen der sozialen Ungleichheit und die Auseinandersetzungen mit ihr sind ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Geschichte und ihrer Gegenwart. Ohne sie lässt sich nur die Hälfte des Themas erfassen. Aus zwei Gründen verdienen sie es, ebenfalls behandelt werden. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass die Wahrnehmungen und die politischen Debatten nur ein Spiegel der sozialen Ungleichheit sind und man deshalb auf dieses Thema verzichten könne. Wahrnehmungen und politische Debatten besitzen ihre eigene Dynamik und werden nicht nur durch den breiteren historischen Kontext, sondern auch durch Medien und Wissenschaft bestimmt. Medien und Wissenschaft haben gerade im 20. Jahrhundert ihren Blick auf die soziale Ungleichheit stark verändert. Darüber hinaus beeinflussen die politischen Debatten und die Wahrnehmungen der sozialen Ungleichheit auch die Politik und können damit indirekt auch ein wichtiger Kontext für Verschärfungen oder Abmilderungen von sozialer Ungleichheit sein.Die Veränderungen von sozialer Ungleichheit werden fünftens in diesem Buch nicht nur beschrieben, sondern auch zu erklären versucht. Angeregt durch Studien von Ökonomen wird der Frage nachgegangen, wie die Politik mit ihren wichtigsten Instrumenten der Steuer- und Lohnpolitik, der Bildungspolitik und der Sozialpolitik Einfluss auf die Entwicklung der sozialen Ungleichheit nahm. Politik bewegt viel, aber nicht alles. Deshalb werden darüber hinaus auch die wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren der sozialen Ungleichheit behandelt, die durch politische Akteure wenig beeinflusst werden können, wie der Wandel des Arbeitsmarktes oder der sozialen Distinktionen. Es wird hierbei davon ausgegangen, dass der Kapitalismus nicht immer nur die gleichen Verschärfungen der sozialen Ungleichheit hervorbringt, sondern selbst in der relativ kurzen Zeitspanne des 20. Jahrhunderts ganz unterschiedliche Wirkungen auf die soziale Ungleichheit besaß, sie teils verschärfte, teils aber auch abmilderte.Was meint soziale Ungleichheit?Mit sozialer Ungleichheit sind hierarchische Unterschiede in den Lebenschancen, vor allem in den Einkommen und Vermögen, im Konsum und Wohnen, in der Bildung und in der Gesundheit, aber auch die Wahrnehmung dieser hierarchischen Unterschiede und der über sie geführten Debatten gemeint. Sehr oft wird dabei an Unterschiede zwischen ganzen sozialen Gruppen, oft zwischen sozialen Milieus, häufig auch zwischen Frauen und Männern, zwischen ethnischen Gruppen, zwischen Einwanderern und Indigenen gedacht. Besonders bei Einkommen und Vermögen, aber auch bei Bildung und Wohnen sind allerdings oft auch Ungleichheiten zwischen Individuen gemeint.Bei der Beschäftigung mit der Geschichte sozialer Ungleichheit stehen drei Fragen im Mittelpunkt. Die erste Frage betrifft die sozialen Gruppen, zwischen denen soziale Ungleichheit besteht. Diese sozialen Gruppen sind nicht stabil, sondern wandelten sich im 20. Jahrhundert grundlegend. Nur ein Beispiel: Wer die Bildungschancen des Bürgertums und der Arbeiter im späten Kaiserreich und im heutigen Deutschland vergleicht, der muss sich vergegenwärtigen, dass sich diese beiden Sozialmilieus völlig wandelten: Im Kaiserreich standen sich ein zahlenmäßig schmales, aber in sich sehr homogenes und verflochtenes, selbstbewusstes und politisch einflussreiches Bürgertum von einem bis zwei Prozent der Bevölkerung und eine weit größere, von der übrigen Gesellschaft weitgehend abgeschlossene, oft klassenbewusste Industriearbeiterschaft von 30 bis 40 Prozent der damaligen Gesellschaft gegenüber. Heute dagegen geht es um eine heterogene Akademikerschicht von wenigstens 30 Prozent und eine heterogene, ihrer selbst nicht bewusste Arbeiterschicht aus Indigenen und Zuwanderern, abgesicherten Arbeitern und Armen, die ebenfalls rund 30 Prozent der Bevölkerung stellen. Dieses Beispiel mag verständlich machen, warum man sich nicht einig darüber ist, zwischen wem soziale Ungleichheit zu untersuchen ist - weiterhin zwischen den klassischen sozialen Klassenmilieus, wofür nur noch eine Minderheit der Forscher eintritt; zwischen einer neuen Variante von klassischen Milieus, die in ihrem Lebensstil alle tief gespalten sind in konservative und nonkonformistische Milieus; oder zwischen ganz anderen sozialen Gruppen, religiösen und ethnischen Gruppen, Männern und Frauen, Immigranten und Indigenen. Eine weitere Untersuchungsoption bezieht sich auf eine grundsätzliche Ablösung der Bindung an solche Gruppen seit den 1970er Jahren und damit eine viel diffusere, kompliziertere Art von sozialer Ungleichheit, in der der Einzelne je nach Dimension der sozialen Ungleichheit unterschiedlich positioniert sein kann.Die zweite Frage betrifft die Stellung der Sozialwissenschaften zur sozialen Ungleichheit. Sozialwissenschaftler sind ebenso wie die Leser ihrer Bücher nicht in einer neutralen Beobachterstellung, sondern nehmen selbst eine Position in der sozialen Hierarchie ein und können sich davon nicht völlig lösen. Sie untersuchen keine Maikäfer, sondern können als Experten oder als Politikberater sogar Einfluss auf die Entwicklung der sozialen Ungleichheit nehmen. Der Blick der Sozialwissenschaftler und Historiker auf soziale Ungleichheit hat sich im Verlauf der letzten hundert Jahre ebenfalls stark verändert. Nicht mehr um den Blick von oben aus der gesicherten bürgerlichen Warte auf ein fremdes Phänomen weit unten in der eigenen Gesellschaft handelt es sich, sondern eher um eine Perspektive aus der Mitte der Gesellschaft, da heutige Wissenschaftler durch Zeitverträge ganz unterschiedliche soziale Lagen und Erfahrungen sozialer Ungleichheit am eigenen Leib erleben. Sie verwenden auch eine andere Sprache. Der Ausdruck soziale Ungleichheit, der diesen neuen Blick wiedergibt, wurde in den großen europäischen Sprachen noch bis weit ins 20. Jahrhundert wenig benutzt und verbreitete sich erst seit den 1970er Jahren. Diese Selbstreflektion der eigenen Stellung des Forschers ist von großer Bedeutung.Die dritte Frage der Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit, eine Kernfrage, betrifft den moralischen Unterton des Ausdrucks "soziale Ungleichheit". Man sollte den Ausdruck der sozialen Ungleichheit auch im Titel dieses Buches nicht missverstehen. Die Sozial- und Geschichtswissenschaften gehen in aller Regel davon aus, dass komplexe Gesellschaften jenseits kleiner Jäger- oder Sammlerstämme nicht ohne soziale Hierarchien funktionieren und von ihren Angehörigen die notwendigen Leistungen erhalten können. Dem folgt auch dieses Buch. Soziale Ungleichheit zu untersuchen heißt daher nicht, zu erwarten, jenseits der politischen, rechtlichen und menschenrechtlichen Gleichheit der Bürger könne auch eine völlige soziale und wirtschaftliche Gleichheit erreicht werden. Die Geschichte der sozialen Ungleichheit zu untersuchen heißt vielmehr herauszufinden, wo die Grenze zwischen den unverzichtbaren Hierarchien und den unnötigen sozialen Disparitäten lag und liegt. Diese Grenze ist sicher nicht leicht zu bestimmen und auch keineswegs unstrittig. Aber der Vergleich mit der jüngeren Geschichte nicht nur des eigenen Landes, sondern auch im internationalen Kontext ist dabei eine sehr große Hilfe. Wenn wir in der Geschichte und der jüngeren Gegenwart auf gut funktionierende, freiheitliche Gesellschaften treffen, die erheblich weniger Ungleichheit besaßen, müssen wir darüber nachdenken, wie das Übermaß an Ungleichheit in unserer Gesellschaft aussieht und was die genauen Ursachen dafür sind. Es ist dabei ganz entscheidend, solche Gesellschaften mit wenig sozialer Ungleichheit auch immer in den historischen Kontext zu rücken. Wurde ein Weniger an sozialer Ungleichheit mit politischem Terror wie in der stalinistischen oder maoistischen Gesellschaft oder mit bitterer Not wie im Zweiten Weltkrieg bezahlt, hilft uns das nicht weiter, weil die Kosten für soziale Ungleichheit zu hoch und zu schmerzhaft sind.1.Soziale Ungleichheit vor 1914 - der ungeregelte IndustriekapitalismusDie Zeit der Industrialisierung Kerneuropas von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914 ist für die Geschichte der sozialen Ungleichheit äußerst wichtig, da sich mit dem neuen Industriesektor, mit der Modernisierung der Landwirtschaft, mit dem Aufbau des neuen Verkehrssystems der Eisenbahn und der neuen Kommunikation durch Telegrafie und Telefon, mit dem enormen Wachstum der Städte, mit der Ausweitung des Wirtschaftsbürgertums und mit der Zunahme von Industriearbeitern und Angestellten, mit einer langsamen Verbesserung des Lebensstandards, aber auch mit der neuen städtischen Armut die Voraussetzungen von sozialer Ungleichheit massiv änderten. An dieser Epoche ist zu studieren, wie sich die soziale Ungleichheit in Europa im Industriekapitalismus mit wenig staatlicher Regulierung der Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch ohne lange Kriege und ohne tiefe Wirtschaftskrisen entwickelte. Das soll hier nur knapp geschehen.Die europäischen Regierungen griffen, verglichen mit heute, nur wenig in die Gesellschaft ein. Die drei klassischen Instrumente des Staates zur Abmilderung der sozialen Ungleichheit, Steuer- und Lohnpolitik, das Konzept des Wohlfahrtsstaates und die Bildungspolitik, waren den europäischen Regierungen vor 1914 sicher nicht fremd, wurden aber nur zögernd, begrenzt oder noch gar nicht eingesetzt. Größere Kriege blieben Europa erspart. Die zahlreichen Kolonialkriege besaßen keine erkennbaren Auswirkungen auf die sozialen Ungleichheiten in Europa. Die einzige größere Wirtschaftskrise, die Gründerkrise ab 1873, lief vergleichsweise mild ab und führte zu keinem so tiefen Einbruch des Wirtschaftswachstums wie die Weltwirtschaftskrise ab 1929 oder wie die jüngste Krise 2008-2012. Auch spürbare Verschärfungen der sozialen Ungleichheit sind bisher nicht bekannt.1 In dem am besten dokumentierten Fall, in Sachsen, gingen die Einkommensunterschiede zwischen 1874 bis 1878 sogar zurück.2 Insgesamt wurde diese Epoche der Industrialisierung in der Erinnerung vieler Europäer während der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Glanzzeit erhoben.Der Industriekapitalismus, der sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Kerneuropa durchzusetzen begann, produzierte allerdings wachsende soziale Ungleichheit. Viele Anzeichen in allen Dimensionen der sozialen Ungleichheit sprechen für diese verbreitete These, sehr wenige Untersuchungsergebnisse dagegen für das Gegenteil. Wie entwickelte sich die soziale Ungleichheit in ihren wichtigsten Dimensionen, also Vermögen und Einkommen, Bildung, Wohnen, Gesundheit, soziale Distinktion und Aufstiegsmobilität?Die Vermögen konzentrierten sich vor 1914 in Europa immer stärker. Zumindest für Frankreich, England, Schweden und Preußen, also für einen großen Teil des industrialisierten Europa, daneben auch für die USA ist das belegt. Allerdings war damals die Vermögenskonzentration in den USA erheblich geringer als in Europa. Schon in dieser Hinsicht war Europa noch der Kontinent der sozialen Ungleichheit (vgl. Tabelle 1).3Die Einkommensunterschiede vergrößerten sich ebenfalls meistens. Das ist zumindest für England ab 1800, für Finnland seit den 1880er Jahren, für die schwedische Industriestadt Eskilstuna seit den 1870er Jahren, für Italien zwischen 1894 und 1922, für Preußen ab den 1850er Jahren, für Sachsen mit seiner besonders dichten Einkommenssteuerstatistik seit den 1870er Jahren, für Württemberg seit den 1880er Jahren und daneben auch für einzelne deutsche Städte nachgewiesen worden. Nur eine einzige Untersuchung zu acht norwegischen Provinzstädten zwischen 1850 und 1920 kommt zu eindeutig gegenteiligen Ergebnissen.4 Auch die Einkommensdisparitäten waren in den USA damals etwas weniger groß als in Europa. Die obersten zehn Prozent der Einkommensempfänger besaßen in den USA um 1910 18 Prozent des Volkseinkommens, in Großbritannien dagegen 22 Prozent, in Frankreich, Dänemark und Schweden sogar um 20 Prozent, in Deutschland dagegen nur 17 Prozent.5 Vermögens- und Einkommenssteuern hätten die Vertiefung der sozialen Ungleichheit dämpfen können. Sie wurden in einer Reihe von europäischen Ländern eingeführt, blieben verglichen mit heute jedoch minimal und tangierten die hohen Einkommen und Vermögen wenig. Die Vermögenssteuer war noch sehr niedrig angesetzt und lag beispielsweise in Preußen seit 1893 bei einem halben Promille der besteuerten Vermögen. Die Einkommenssteuern machten in den Ländern, in denen sie eingeführt wurden, ebenfalls nur einen Bruchteil der heutigen Steuern aus. Sie lag am Vorabend des Ersten Weltkriegs für die Spitzeneinkommen bei 5 Prozent in Großbritannien, Österreich und Sachsen, bei 4 Prozent in Preußen, bei geplanten 2 Prozent in Frankreich, bei 12 Prozent in Italien und bei 7 Prozent in den USA.6Wohlfahrtsstaatliche Instrumente hätten zu einem größeren Anteil der unteren Einkommen am Volkseinkommen führen und damit ebenfalls die soziale Ungleichheit abmildern können. Ihr Beitrag war jedoch noch zu schmal. Zwar wurden von der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg in fast allen europäischen Ländern die klassischen staatlichen, obligatorischen oder freiwilligen Sozialversicherungen für Krankheit, Invalidität und Alter eingerichtet. Aber die Sozialausgaben und damit auch die Transfers an die untersten Einkommen waren sehr niedrig. Selbst in den ausgabefreudigen Ländern Großbritannien, Schweden und Deutschland lagen sie um 1910 höchstens bei 4 Prozent des Sozialprodukts. Sie blieben damit weit hinter dem Niveau nicht nur von heutigen europäischen Sozialstaaten, sondern auch von heutigen Schwellenländern zurück.7 Wie viel von diesen begrenzten staatlichen Wohlfahrtsausgaben an die Armen ging, ist noch nicht geschätzt worden.In einer anderen Dimension der sozialen Ungleichheit, im wenig regulierten Wohnsektor, waren die Unterschiede ebenfalls krass und verschärften sich eher noch. Die sozialen Disparitäten in den Belastungen mit den Wohnkosten wuchsen, weil die Belastung der Haushalte mit Wohnausgaben anstieg und dadurch die besonders hohe Belastung der unteren Einkommen durch Mieten in den Haushaltsbudgets immer stärker wog. Das zentrale Problem war der Mangel an preiswerten kleineren Wohnungen. Dieses Problem entstand aus verschiedenen Gründen. Die Zuwanderung in die Städte war in vielen europäischen Ländern ähnlich massiv wie in heutigen Schwellenländern. Die Zuwanderung von Armen überwog. Sie benötigten vor allem preiswerte, kleinere Wohnungen. Der Bau solcher Wohnungen reichte aber meist nicht aus, weil andere Optionen für die Investoren oft mehr Gewinn abwarfen und der Wohnungsbau wegen der heftigen Bauzyklen überhaupt riskant war. Der Staat schuf damals noch keinen Ausgleich. Stadtplanung setzte zwar ein, beschränkte sich aber meist auf Gebäudehöhe, Hinterhöfe und die Linienführung der Straßen und Plätze. Stadtplanung als soziale Wohnungs- und Städtebaupolitik war noch äußerst selten. Private Stiftungen und gemeinnützige Baugenossenschaften für Mieter und Eigenheimbesitzer wurden nur allmählich gegründet. In Deutschland befand sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs nur rund ein Prozent der Wohnungen in genossenschaftlichem Eigentum. Sie waren nicht preiswerter, und die Mieter waren nur vor Kündigungen sicherer. Ein weiterer Grund für die Knappheit preiswerter kleiner Wohnungen resultierte aus dem Umstand, dass die ärmeren Städter sehr häufig umzogen und nicht unbedingt die besten Mietzahler waren. Auch deshalb waren die Mieten für preiswerte, kleinere Wohnungen besonders hoch.Soziale Ungleichheiten verstärkten sich auch im Zusammenleben im städtischen Raum. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in den großen Städten die verschiedenen sozialen Milieus oft noch im selben Haus zusammen, wenn auch säuberlich getrennt nach guten und schlechten Stockwerken. Am Ende des 19. Jahrhunderts vertiefte sich die Trennung. Man lebte nun in verschiedenen, guten und schlechten Stadtvierteln. Viele Städte Europas waren darüber hinaus durch die Aufteilung in getrennte ethnische Viertel geprägt. Vor allem eine technisch anmutende Neuerung, der Bau der städtischen Verkehrssysteme Bus, U-Bahn, Straßenbahn und Regionalbahn, ermöglichte diese Verschärfung der sozialen Ungleichheit.8Eine weitere Dimension der sozialen Ungleichheit, der Gesundheitssektor, war damals ebenfalls noch wenig staatlich geregelt. Auch in den sozialen Unterschieden vor Krankheit und Tod gab es Tendenzen zur Verschärfung. Sicher schlugen nicht alle Krankheiten und Todesursachen sozial unterschiedlich zu. Die sozialen Disparitäten waren besonders groß in der Säuglingssterblichkeit und bei den Volkskrankheiten Typhus und Tbc, während sie bei der Cholera umstritten sind.Die sozialen Unterschiede vor Krankheit und Tod hingen auch nicht allein mit der wachsenden Ungleichheit der Einkommen und der Bezahlbarkeit von Medizin zusammen. Vielmehr spielten die massiven Unterschiede in den Einstellungen und dem Wissen über Neuerungen in der Medizin, der Ernährung und der Hygiene eine wichtige Rolle. Diese Neuerungen wurden in den höheren und mittleren sozialen Schichten oft rascher übernommen und in die Lebensführung integriert. Sie verlängerten daher in den höheren und mittleren Rängen der Gesellschaft das Leben stärker. Die Durchsetzung von Neuerungen wurde von den unteren Schichten oft als Einengung ihrer Freiheitsräume und als soziale Kontrolle aufgefasst und deshalb verweigert.Ein Beispiel für die sich verschärfende soziale Ungleichheit vor dem Tod durch raschere Übernahme von Neuerungen in höheren und mittleren Schichten war die Säuglingssterblichkeit in Deutschland. Dabei war Deutschland damals sicher ein Extremfall, was das Ausmaß der Säuglingssterblichkeit angeht: Um 1880 starben in Deutschland in Familien der öffentlichen Beamten und Angestellten 18 Prozent der Säuglinge, eine heute unvorstellbar hohe Quote. In Familien ungelernter Arbeiter lag die Säuglingssterblichkeit damals nur vier, in Familien von Dienstboten allerdings gleich elf Prozentpunkte höher. Diese Unterschiede verschärften sich erheblich. Um 1912 war die Säuglingssterblichkeit in Familien von öffentlichen Beamten und Angestellten sehr erfolgreich auf 8-9 Prozent abgesenkt worden, viel rascher als in den unteren sozialen Schichten. Die Säuglingssterblichkeit in Familien ungelernter Arbeiter überstieg diesen Anteil um 8-9 Prozentpunkte, in Dienstbotenfamilien sogar um 13-14 Prozentpunkte.9 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Verschärfung der sozialen Ungleichheit vor dem Hintergrund einer verlängerten Lebenserwartung stattfand. Die Lebenserwartung stieg zwischen 1875 und 1910 für 20-jährige Männer und Frauen im europäischen Durchschnitt um rund vier Jahre, für männliche Neugeborene sogar um rund zehn Jahre. Freilich entstanden erhebliche Unterschiede zwischen England, Italien und Deutschland mit besonders rascher Erhöhung und Frankreich, der Schweiz und Norwegen mit besonders langsamer Erhöhung der Lebenserwartung. Die Skandinavier lebten schon damals weit länger, die Bewohner des Zarenreichs und der Habsburger Monarchie weitaus kürzer als der europäische Durchschnitt.10In einer noch anderen Dimension der sozialen Ungleichheit, der Bildung, waren die Unterschiede ebenfalls enorm. Die große Masse der Bevölkerung - in Preußen beispielsweise um 90 Prozent - besaß nur eine Elementarschulausbildung von acht oder weniger Jahren oder waren sogar Analphabeten. Nur ein verschwindend kleiner Teil kam an eine mittlere Schulausbildung oder an eine Hochschulausbildung heran. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfte sich diese Ungleichheit eher noch, da Elementarschulabsolventen so zahlreich wie zuvor blieben, aber die Hochschulabsolventen deutlich zunahmen, auch wenn ihre Zahl verglichen mit heute minimal blieb. Zudem fielen die Frauen in ihrem Bildungsniveau in der Regel hinter die Männer auf allen Ebenen - von der Alphabetisierung bis zur Zunahme des Hochschulstudiums - zurück. Auch die Disparitäten zwischen den Geschlechtern nahmen daher häufig zu.Die Ungleichheit der Bildung wurde durch einen zunehmend schärferen Wettbewerb um Bildungschancen geprägt, weil die Bildungsabschlüsse für gut bezahlte und prestigereiche Berufskarrieren immer wichtiger wurden, für die Spitzen der Verwaltung und Rechtsprechung ebenso wie für die Spitzen der Unternehmen und der Kultureinrichtungen wie für die Leitungspositionen der expandierenden naturwissenschaftlichen und technischen Forschung. Eine Hochschulausbildung zu haben, zahlte sich immer mehr aus. Alte und neue Eliten konkurrierten mit den Mittelschichten um den Zugang zu den Universitäten, der sich daher immer mehr formalisierte. Wer arm, aber begabt war, hatte im 18. Jahrhundert eher eine Chance, von Geistlichen, Lehrern oder Mäzenaten gefördert zu werden als nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Ergebnis dieser wachsenden Konkurrenzsituation engten sich in den ersten Teilen des 19. Jahrhunderts die Bildungschancen an den Sekundarschulen und den Hochschulen eher ein, weil damals die Zahlen der Schüler an Sekundarschulen und der Studenten an Hochschulen zwar schwankten, aber nicht langfristig zunahmen. Das änderte sich erst in den letzten Jahrzehnten vor 1914. Die Konkurrenzsituation milderte sich etwas ab, weil sich die Sekundarschüler- und Studentenzahlen erhöhten und die Bildungschancen erweiterten. Die Bildungschancen von Söhnen aus den städtischen Mittelschichten, aus dem Kleinbürgertum und aus Angestelltenfamilien, verbesserten sich etwas. Die Verlierer war allerdings die große Masse der ländlichen und städtischen Arbeiter, der Dienstboten und der damals noch gewichtigen ländlichen Mittelschichten. Ihre Bildungschancen nahmen auch nicht erkennbar zu, als das Bildungssystem expandierte. Für sie verschärfte sich eher die Ungleichheit des Zugangs zur höheren Bildung und damit zu vielen gut bezahlten, angesehenen höheren Positionen in der Gesellschaft. Das Ergebnis dieser Konkurrenz um Bildungschancen sah allerdings in Europa nicht einheitlich aus. In Schweden, Schottland und Deutschland waren die Hochschulen und Sekundarschulen gegenüber den Mittelschichten etwas offener als in England und meist auch in Frankreich. Für Frauen waren umgekehrt die Hochschulen in Frankreich und England etwas offener als in Preußen.11Der Staat griff in die soziale Verteilung der Bildungschancen in der Regel nicht ein. Er beschränkte sich darauf, die Expansion der Universitäten zu finanzieren, den Zugang zur Bildung zu formalisieren, die Qualität der Ausbildung und Forschung zu sichern und diese an die neue Industriegesellschaft anzupassen. In der Öffentlichkeit begannen zwar die Debatten über die soziale Ungleichheit beim Zugang zu den Sekundar- und Hochschulen. Die Bildungsstatistiker begannen genauer zu beobachten, aus welchen sozialen Schichten die Sekundarschüler und Studenten stammten. Aber in eine Politik der sozialen Öffnung des Bildungssystems mündeten diese Debatten noch selten. Großbritannien war das einzige größere Land, in dem die Regierung am Beginn des 20. Jahrhunderts eine soziale Öffnungspolitik mit Stipendien für einkommensschwache Studenten versuchte.12Schließlich wurden auch die sozialen Trennlinien zwischen den verschiedenen Sozialmilieus in Europa zunehmend schärfer gezogen. Der Adel versuchte sich, wenn er keinen ökonomischen Aufstieg wie etwa in England erlebte, gegenüber dem wachsenden neuen Reichtum des Großbürgertums durch einen eigenen, oft ländlichen Lebensstil abzusetzen oder sich in die Fluchtburgen des Adels, in die hohen Ränge der Armee und der Diplomatie zu retten und abzuschotten. Das reiche Großbürgertum grenzte sich in seinem Lebensstil, seinen Villen, seinen Reisen, seinen Heiratsnetzwerken und seiner Ausbildung immer stärker von den mittleren Unternehmern und dem Bildungsbürgertum ab. Das Kleinbürgertum, das sich zunehmend wirtschaftlich von den Großunternehmen bedrängt fühlte, verschärfte als Kompensation die Trennlinien gegenüber den städtischen Arbeitern, wenn es ihm nicht gelang, zu Unternehmern aufzusteigen. Die Angestellten versuchten sich ebenfalls in ihrem Lebensstil und Konsum, in ihrem Berufsverständnis und ihren Heiratsnetzen gegenüber den Arbeitern abzugrenzen. Soziale Trennlinien nach oben und nach unten erschienen oft noch als naturgegeben.Eine große Hoffnung des liberalen Europas im 19. Jahrhundert war es, die sozialen Ungleichheiten durch eine Öffnung der europäischen Gesellschaften und durch mehr sozialen Aufstieg auszugleichen. Diese Hoffnung stellte sich als trügerisch heraus.13 Zwar waren die europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts durchaus nicht geschlossene Formationen. Sozialer Aufstieg von unten in die Mitte und aus der Mitte in die Spitze der Gesellschaft war in Grenzen durchaus möglich. Aber eine Zunahme der sozialen Aufstiegswege im Zuge der Industrialisierung ließ sich nicht beobachten. Wir überblicken zwar noch nicht voll und ganz, wie sich die sozialen Aufstiegswege in die mittleren Schichten, vor allem in das selbständige Handwerk und den Kleinhandel, veränderten. Die höheren Schichten und die Eliten öffneten sich jedoch, anders als man erwarten mag, während der Industrialisierung nicht weiter. Aufstiege in die höheren Schichten gab es, aber sie wurden im Ganzen nicht häufiger. Die Unternehmer, Symbol des aufsteigenden Industriekapitalismus, stammten um 1914 ähnlich überwiegend aus den höheren Schichten und zudem ähnlich häufig aus dem eigenen Unternehmermilieu wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Aufsteiger blieben selten. Auch im Bildungsbürgertum und in den höheren Rängen der Verwaltung vermehrten sich die Aufsteiger nicht.14 Die Verschärfung der sozialen Ungleichheit wurde daher nicht durch mehr soziale Aufstiege abgemildert oder gar ausgeglichen.Insgesamt stützt diese Epoche daher größtenteils die klassische These, die auch in den heutigen Schwellenländern zu gelten scheint: Wirtschaftswachstum und soziale Ungleichheit hängen in der Zeit der Industrialisierung eng miteinander zusammen. Industrialisierung muss mit zunehmender sozialer Ungleichheit bezahlt werden. Dazu gehörte auch, dass die europäischen Regierungen vor 1914 noch wenig in die Entwicklung der sozialen Ungleichheit eingriffen; sie milderten deshalb insgesamt die soziale Ungleichheit noch kaum ab und hatten auch nicht diese Absicht.Überhaupt stand in der öffentlichen politischen Debatte soziale Ungleichheit, wie wir sie heute verstehen, noch nicht im Blickpunkt. Gleichheit war der damaligen Zeit zwar kein fremdes Konzept, denn sie war eine der Forderungen der Französischen Revolution gewesen. Unter Gleichheit verstand man aber vor allem die religiöse Gleichheit vor Gott, die Gleichheit der Marktteilnehmer bei Verträgen oder die Gleichheit der politischen Bürger bei Wahlen oder bei politischen Versammlungen, als Folge vielleicht auch die Gleichheit im sozialen Umgang, nicht aber die Gleichheit der sozialen Lage und der Bildungs- und Berufschancen. Man übersah die Unterschiede der sozialen Lagen nicht, aber Optimisten gingen davon aus, dass die Ungleichheiten der sozialen Lage durch religiöse, wirtschaftliche und politische Gleichheit abgebaut oder kompensiert werden würden.15 Vom Staat wurde deshalb keine umverteilende Rolle erwartet. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich dies teilweise.Allerdings stützt das Europa zwischen 1850 und 1914 die These vom engen Zusammenhang von ungeregeltem Industriekapitalismus und sozialer Ungleichheit nicht widerspruchslos. In zwei wichtigen Aspekten ist sie einzuschränken.Wichtige soziale Trennlinien, die die europäischen Gesellschaften prägten, entstanden nicht durch den Kapitalismus, sondern waren eher Überbleibsel des "Ancien Régime", die unter den neuen Bedingungen des Industriekapitalismus heftig verteidigt wurden und sich dabei auch änderten. Das gilt vor allem für die Trennlinien, die der Adel nach unten zog und die teilweise vom Bürgertum übernommen wurden, aber auch für die Trennlinien, die das Kleinbürgertum gegenüber der Arbeiterschaft zog, und teilweise auch für die Grenzen, die die Angestellten nach unten markierten und die sich an dem traditionellen Modell des Beamten ausrichteten. In der Gesellschaft der USA besaßen alle diese Trennlinien des europäischen "Ancien Régime" keine Bedeutung. In dieser Gesellschaft des puren Kapitalismus war die soziale Ungleichheit daher damals milder als in den europäischen Gesellschaften. Deswegen wurden sie auch von damaligen liberalen Europäern bewundert. "Ein Charme des amerikanischen Lebens, über den einige Europäer lächeln werden, ist die soziale Gleichheit [] Die Menschen begegnen sich in einfacher und natürlicher Weise, mit mehr Offenheit und Unkompliziertheit als es in [europäischen] Ländern möglich ist, in denen jeder zum anderen hinauf- oder auf ihn herabsieht", schrieb 1888 der britische Jurist und liberale Politiker James Bryce.16 Freilich stützt auch die Entwicklung in den USA die Grundthese, dass im wenig geregelten Industriekapitalismus der Epoche vor 1914 die soziale Ungleichheit zunahm. Auch dort stiegen Vermögenskonzentration und Einkommensdisparitäten an.17

Inhalt

Inhalt Einleitung 7 Aufbau 10 Zugänge 11 Was meint soziale Ungleichheit? 14 1. Soziale Ungleichheit vor 1914 - der ungeregelte Industriekapitalismus 17 Zusammenfassung 30 2. Soziale Ungleichheit in der Zeit der Kriege und der Weltwirtschaftskrise zwischen 1914 und 1945 - eine Phase des Rückgangs? 33 Der Erste Weltkrieg 34 Die 1920er Jahre 41 Die Weltwirtschaftskrise 51 Der Zweite Weltkrieg 55 Zusammenfassung 60 3. Soziale Ungleichheit in den 1950er bis 1970er Jahren - eine Epoche der Abmilderung 63 Verteilung der Vermögen und Einkommen 65 Wohnen 73 Gesundheit 76 Bildung 78 Aufstieg und Abstieg 81 Soziale Distinktion in Konsum und Lebensstilen 84 Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit 93 Die politische Debatte über soziale Ungleichheit 96 Zusammenfassung 99 4. Soziale Ungleichheit seit den 1980er Jahren - eine Ära der Wiederzunahme 103 Verteilung der Einkommen 105 Armut 114 Verteilung der Vermögen 121 Wohnen 124 Gesundheit 127 Bildung 133 Aufstieg und Abstieg 136 Soziale Distinktion 142 Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit 151 Die politische Debatte über soziale Ungleichheit 159 Zusammenfassung 168 Fazit 171 Anmerkungen 178 Verzeichnis der Tabellen und Grafiken 204 Literatur 205

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