Beschreibung
Mit streng wissenschaftlichen Methoden eine Darstellung der Probleme des Erotischen zu geben, lag nicht in der Absicht des Verfassers. Wer die wissenschaftlich geordneten Tatsachen des menschlichen Sexuallebens studieren will, der wird eine vortreffliche Literatur darüber vorfinden. Das Thema dieses Buches ist also nicht das Geschlechtsleben des Menschen in seinen physiologischen Rapporten, wenn auch, gewissermaßen als Stichprobe, darauf Bezug genommen wird. Denn so luftzart sich auch manche erotischen Bildungen darstellen, bleiben sie oder sind sie doch erdgebunden und vollziehen sich nicht im luftleeren blutleeren Raum. Das nicht zu erschöpfende Thema des Buches ist die Phantasie, welche das menschliche Individuum, zeit- und gruppenbestimmt, zur Erhaltung oder Steigerung seines Lustgefühls aufbringt, diese Lustgefühle über den Tod hinaus zu verewigen. Die nichts als physiologische Tatsache der Lustgefühle erhält die Art und nichts weiter. Sie führt zu den stagnierenden Formen des Tierlebens. Mangel an der diesbezüglichen Phantasie macht das Liebes- und Kulturleben echt primitiver Völker so einfach wie das der Tiere, deren Verhalten auf die Einform der Gattung gerichtet ist, nicht auf die Varietät der Individuen. Im Gegensatz zum Menschen, der sich in Einzelehe und Einzelwirtschaft Formen geschaffen hat, welche die Varietät begünstigen - bis zur Bedrohung der Gattung. Das Thema dieses Versuches ist mehr als irgendein anderes voller Fallen. Vorurteile gebärden sich als Urteile, Vorlieben wollen die natürliche Perspektive der Dinge verschieben, und Scheu tut das ihre, Wichtiges zu verschleiern und aus dem Licht, in dem es steht, in ein Clair-Obscur zu rücken. Wir sind noch nicht einmal so weit, nur das zu sagen, was sich sagen läßt. Unser Vorrat an Fragen ist noch weit größer als unser Vorrat an Antworten. Darum sind die Menschen geneigt, Wichtiges in den Fragen zu überhören, um mit einer bereiten, gefälligen Antwort zurechtzukommen.
Autorenportrait
Franz Blei (* 18. Januar 1871 in Wien, Österreich-Ungarn; gestorben 10. Juli 1942 in Westbury, New York, USA) war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker. Sein Hauptwerk ist Das große Bestiarium der deutschen Literatur, darin er ausgewählte zeitgenössische Schriftsteller in Tierallegorien vorstellte. Unter seinen Übersetzungen gelten die von Oscar Wilde Märchen und De Laclos Gefährliche Liebschaften als weiterhin vorzüglich.