Atmen beim Lesen
Bibliotheken im Industriezeitalter, ifk lectures & translations
Harrasser, Karin / Macho, /
Erschienen am
01.10.2024, Auflage: 1. Auflage
Beschreibung
Ab 1850 vollzieht sich eine radikale Transformation der Bibliotheken, und das weltweit. Sie bleiben Literaturarchive, werden aber nun durch regelmäßige Etats zu Orten, die das Neueste im Regal haben und das aktuellste Wissen kommunizieren. Das Lesen wird in den modernen Industriegesellschaften zur umfassenden Beschäftigung mit der eigenen Welt, der Aufenthalt in der Bibliothek zu einem Akt der Selbstvergewisserung. Problematisch ist im 19. Jahrhundert die Umweltverschmutzung; der Gang zur Bibliothek führt durch Schmutz und Smog. Karl Marx beschwert sich über den 'Stadtnebel', der den Lesesaal zur vorzeitigen Schließung zwingt. Belüftungsanlagen und Ventilationseinrichtungen werden entworfen und eingesetzt, um das Atmen beim Lesen zu stützen. Der Lesesaal wird zur Klimaoase. Hygiene heißt das neue Wissen von der schlechten Luft und dem, was sie transportiert: Staub, Ruß, Keime, Bazillen. Lehrstühle und Institute widmen sich diesem Wissen, Zeitschriften tragen es um die Welt. Das Interesse ist groß, und wer sich kundig machen will, geht in die Bibliothek. Dort wird die Alltagserfahrung des modernen Stadtmenschen problematisiert. In den Lesesälen kommen die hygienischen Diskussionen zusammen, dort sind sie präsent wie nirgends sonst. In den Lesesälen wird eine künftige Welt erdacht, in der wir nicht so schnell sterben.
Autorenportrait
Ulrich Johannes Schneider lehrt am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Er leitete von 2006 bis 2022 die Universitätsbibliothek Leipzig. Sein aktuelles Forschungsvorhaben ist die globale Bibliotheksgeschichte in der Moderne. Frühere Publikationsschwerpunkte: Europäische Philosophiegeschichte, Wissens- und Buchgeschichte, Enzyklopädistik, französische Philosophie. Zuletzt bei Turia & Kant: F'oucault im Hörsaal. Über das mündliche Philosophieren' (2022). Weiteres unter www.ujschneider.de