Beschreibung
Die Rede von der Krise oder dem Verlust des Subjekts ist am Ende des 20. Jahrhunderts zum verbreiteten Topos geworden. Die Wissenschaft vom Menschen kennt keine Seele und kein substantielles Selbst. Doch datiert die Problematisierung des Subjekts nicht erst von heute. Sie ist in der Moderne in unterschiedlichen Kontexten und verschiedenen Phasen artikuliert worden. Drei Aspekte der Problematisierung seien benannt. Ein erster betrifft die Infragestellung der Seele als Substanz. Nicht wie die Seele beschaffen sei, sondern ob es so etwas wie die Seele überhaupt gibt, ist hier die Frage. Ihre prominenteste Behandlung findet sich in Kants Kritik der Paralogismen der rationalen Psychologie. Zurückgewiesen wird die Unterstellung der Substantialität des Selbst, von welcher die Annahmen über die Einheit, Personalität und Unsterblichkeit der Seele logisch abhängen. Es geht um die Auseinandersetzung mit einer Tradition, die bis auf die Seelenlehre in Platons Phaidon zurückreicht und in Descartes' Meditationen eine maßgebliche Formulierung erhalten hat, die nicht zuletzt für viele Anschlussdebatten - über das Verhältnis von Körper und Geist, über die Eigenschaften und Vermögen der Seele grundlegend gewesen ist. Nicht infrage gestellt wird darin der unhintergehbare Subjektbezug im Verstehen und Sprechen, den Kant als das >Ich denke<, das alle Vorstellungen begleitet, umschreibt und den Husserl in Anknüpfung an Descartes als apodiktische Gewissheit statuiert. Doch ist diese Unbezweifelbarkeit formell und ohne inhaltliche Bestimmung; es handelt sich, wie Kant sagt, um ein Selbstbewusstsein ohne Selbsterkenntnis. Was das Ich, die Seele, das Selbst ist und in welchem Sinn es ist, bleibt die Frage. Eine zweite Problematisierung betrifft die inhaltlichen Bilder des autarken, rationalen, >starken< Subjekts. Die Ansätze dieser Problematisierung reichen von der historischen und sozialen Relativierung individueller Autonomie über die psychoanalytische Infragestellung des Bewusstseins bis zur kulturwissenschaftlichen, medientheoretischen oder dekonstruktivistischen Zersplitterung oder Auflösung des Selbst. Gegenüber der durch Kant exemplifizierten Richtung ist diese Problematisierung gleichsam gegenläufig angelegt. Sie geht nicht vom substantiellen Kern des Selbstverhältnisses aus, sondern hinterfragt dessen postulierte Strukturmerkmale und Zielvorstellungen: die Geschlossenheit, Einheitlichkeit, Transparenz und Ursprünglichkeit des Selbst. Gegen sie hebt moderne Subjektkritik auf die Fragilität, Diskontinuität, Segmentierung des Selbstbezugs ab. Die Kritik ist nicht weniger radikal als die an der Nicht-Substantialität des Ich, auch wenn sie nicht von vornherein als >totale< Kritik, sondern nur als Zurückdrängung, Partialisierung, Abschwächung des Subjekts auftritt. Solche Kritiken setzen gleichsam von innen, an der Konsistenz und Fundamentalität des subjektiven Selbstverhältnisses an. Eine dazu komplementäre, dritte Sichtweise kommt mit der Naturalisierung des Selbst zum Tragen. Hier geht es um eine Beschreibung des subjektiven Erlebens und Tuns aus der Außenperspektive der wissenschaftlich- objektivierenden Beobachtung. Die Frage ist, wieweit in dieser Perspektive überhaupt das Spezifische des Selbstseins thematisiert und diskutiert werden kann. Die aktuelle und elaborierteste Version dieser Debatte stellt die Herausforderung durch die Neurowissenschaften dar. Die faszinierenden Fortschritte unserer Kenntnis von der Funktionsweise des Gehirns haben klassische Fragen des Zusammenspiels von Bewusstsein und Materie, wie sie seit der antiken Atomistik Thema waren, in neuer Schärfe aufgeworfen. Als Gegenwendung zur klassischen Bewusstseinsphilosophie steht die neurologische Beschreibung zunächst für eine externe Sichtweise, die etwa die Lokalisierung bestimmter Bewusstseinsprozesse oder funktionale Abhängigkeiten
Autorenportrait
Emil Angehrn ist Professor für Philosophie an der Universität Basel. Joachim Küchenhoff ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Basel und Leitender Arzt der Universitären Psychiatrischen Kliniken.
Inhalt
Einleitung
i. Historische Positionen
Thomas Buchheim, Wie und warum existieren Seelen nach Aristoteles?
Ursula Renz, Rationalismus mit und ohne Grenzen. Zur Erklärbarkeit
von Erfahrung bei Descartes, Hobbes und Spinoza
Lore Hühn, Die philosophische Entwirklichung des Selbst. Hegel im Lichte
der Kritik Kierkegaards
Rudolf Bernet, Leib und Seele bei Husserl und Bergson
ii. Die Herausforderung der Neurowissenschaften
Daniel Hell, Zur Naturalisierung der Subjektivität
Peter Henningsen, Vom Nutzen der Neurobiologie für die Erforschung
der Seele
Michael Pauen, Das Problem des Selbst in den Neurowissenschaften
und der Philosophie des Geistes
iii. Konstruktionen des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse
Emil Angehrn, Selbstsein und Selbstverständigung. Zur Hermeneutik
des Selbst
Brigitte Boothe, Die narrative Mitteilung als Seelensprache
Peter Welsen, Die Figuration des Selbst im Spannungsfeld
zwischen Kraft und Sinn
Rolf-Peter Warsitz, Konstruktion und Dekonstruktion des Selbst
Raymond Borens, Die Unabschließbarkeit der Subjektkonstitution
Joachim Küchenhoff, Die Grenzen des Selbst: der Andere und der Körper