Beschreibung
Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war nicht das Ergebnis eines Putschs einer hochdisziplinierten und autoritär geführten Partei, wie es viele Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft dargestellt wurde. Der amerikanische Historiker Alexander Rabinowitch zeigt in seiner glänzenden Studie, dass die engen Beziehungen der Bolschewiki zu den Arbeiter- und Soldatenmassen und die Unterstützung, die sie in den Betrieben gewonnen hatten, die entscheidenden Faktoren für ihren Sieg im Oktober waren. Detailreich schildert Rabinowitch die Entwicklung von den 'Juli-Tagen' bis zum Oktoberaufstand 1917 in Petrograd (St. Petersburg).Als die erste Auflage von The Bolsheviks Come to Power erschien, war das Schicksal vieler Petrograder Bolschewiki, die in meinem Buch eine bedeutende Rolle spielen, noch ungeklärt. Dies ist nicht länger der Fall. Einige starben im Kampf ums Überleben während des Bürgerkriegs. Zu ihnen gehören W. Wolodarski und M. Urizki (beide Opfer von Terroranschlägen in Petrograd), A. I. Sluzki, W. K. Sluzkaja, I. A. Rachia und S. G. Roschal. Viele, die den Bürgerkrieg überlebten, verloren ihr Leben im Großen Terror Stalins. So erging es den meisten Mitgliedern, die auf dem Sechsten Parteitag Ende Juli 1917 ins Zentralkomitee gewählt worden waren und Anfang der 1930er Jahre noch lebten, Stalin selbst natürlich ausgenommen. Unter den Opfern der Säuberungen waren T. Smilga, L. B. Kamenew, G. E. Sinowjew, A. S. Bubnow, N. N. Krestinski, J. A. Bersin, W. P. Miljutin, A. I. Rykow, N. I. Bucharin und Leo Trotzki (der von einem Agenten Stalins in Mexiko ermordet wurde). Zu den prominenten Opfern der Säuberungen unter den Mitgliedern des bolschewistischen Petersburger Komitees zählten A. G. Schljapnikow, P. A. Saluzki, M. J. Lazis, I. N. Stukow, G. E. Jewdokimow, W. A. Antonow-Owsejenko, G. I. Boki, S. M. Gessen, M. A. Saweljew, J. N. Jegorowa, S. K. Ordschonikidse und M. P. Tomski (die beiden Letztgenannten entgingen ihrer Hinrichtung durch Selbstmord). Folgende Mitglieder der bolschewistischen Militärischen Organisation wurden ermordet: W. I. Newski, N. W. Krylenko, M. S. Kedrow, K. A. Mechanoschin, A. F. Iljin-Schenewski und F. P. Chaustow; zwei prominente Kronstädter Bolschewiki; auch F. F. Raskolnikow und A. M. Ljubowitsch fielen Stalin zum Opfer. Zu den prominenten Petrograder Bolschewiki, die sowohl den Bürgerkrieg wie auch Stalins Terror überlebten, gehörten W. M. Molotow, M. I. Kalinin, Jelena Stasowa, Alexandra Kollontai und N. I. Podwoiski.«
Autorenportrait
Alexander Rabinowitch, emeritierter Professor an der Indiana University in Bloomington, wird weltweit als Experte für die Geschichte Russlands anerkannt. Besondere Beachtung verdient seine Vorreiterrolle bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der beiden Revolutionen des Jahres 1917.Weitere Schwerpunkte seiner Forschungen bildeten die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Als einer der ersten Wissenschaftler aus dem Westen erhielt er Zugang zu sowjetischen Archiven, um die Geschichte der Kommunistischen Partei zu rekonstruieren.Sein Klassiker'The Bolsheviks Come to Power' (1976) (dt.'Die Revolution der Bolschewiki 1917', 2012) war die erste umfangreiche Studie eines Historikers aus dem Westen, die unter Gorbatschow in der Sowjetunion publiziert wurde, und hat sich in der Fachwelt als Standardwerk etabliert.Rabinowitch ist Autor von Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising (1968) und Mitherausgeber von Russia in the Era of NEP: Explorations in Soviet Society and Culture (1991). Er lehrte an Universitäten in Amerika, Europa, Russland und Asien und hat zahlreiche Beiträge für internationale Fachzeitschriften verfasst.Im Mehring Verlag ist Alexander Rabinowitchs Studie'Die Sowjetmacht. Das erste Jahr' erschienen. 2012 folgt die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe seines Hauptwerks'Die Revolution der Bolschewiki 1917'.
Leseprobe
Aus dem Blickwinkel eines zeitlichen Abstands von nunmehr fast einhundert Jahren stellt sich die Oktoberrevolution von 1917 als Schlussphase eines ebenso komplexen wie dynamischen politischen und gesellschaftlichen Prozesses dar, der durch die zutiefst ungerechten Zustände im zaristischen Russland hervorgerufen und durch dessen absehbare Niederlage im Ersten Weltkrieg beschleunigt worden war. Der Beginn dieser Phase datiert kurz nach der Februarrevolution von 1917, die zum Sturz von Zar Nikolaus II geführt hatte und in erster Linie auf die Enttäuschung der Bevölkerung über die unschlüssige Innen- und Außenpolitik der neugebildeten Provisorischen Regierung zurückzuführen war. Ihren abschließenden Höhepunkt fand sie nach acht Monaten stürmischer Ereignisse in der Machtübernahme durch Lenin, Trotzki und die Bolschewiki (die sich ab März 1918 Kommunistische Partei nannten). Der Sieg der Bolschewiki im erbitterten Kampf um die Macht 1917 und im anschließenden dreijährigen, grausamen Bürgerkrieg wiederum mündete in die Festigung des sowjetischen Einparteienregimes, das die gesamte russische Politik und Gesellschaft beherrschte und über weite Strecken des letzten Jahrhunderts die Weltpolitik maßgeblich prägte. Unter Stalin entwickelte sich dieses Regime zu einer äußerst repressiven, allgewaltigen Diktatur. Und doch war die Machtübernahme der Bolschewiki auch der Aufbruch in einen egalitären Sozialismus ein kolossales Experiment mit Auswirkungen auf alle Länder, das bis heute weltweit Interesse auf sich zieht. Die Oktoberrevolution ist, soviel steht fest, eine herausragende, wenn nicht die bedeutsamste historische Begebenheit des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt.Besonders tiefgreifende Auswirkungen hatte die Oktoberrevolution in Deutschland, wo sie unter anderem den Verlauf der revolutionären Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg und deren gewaltsame Niederschlagung stark beeinflusste. Die anhaltende rote Gefahr war ein wesentlicher Faktor für die Machtübernahme Hitlers, der mit seinem Versprechen, die Sowjetunion und den Bolschewismus endgültig zu vernichten, den Weg zum Zweiten Weltkrieg und zur späteren Teilung Deutschlands in West und Ost vorzeichnete. Umgekehrt besaß auch Deutschland für Russland große historische Bedeutung, besagte doch eines von Lenins Hauptargumenten zugunsten der Machtübernahme 1917, dass die Flammen eines radikalen Umsturzes in Russland die schwelende Revolution im deutschen Kaiserreich endlich entfachen würden und dass der Sieg sozialistischer Revolutionen im Westen, insbesondere in Deutschland, eine unabdingbare Voraussetzung für das Überleben der Revolution in Russland sei. Wegen dieses eminent wichtigen, oftmals übersehenen Zusammenhangs zwischen der Revolution in Russland und Deutschland sowie in Anbetracht dessen, dass man die eine Revolution schwerlich ohne die andere verstehen kann, bereitet es mir besondere Genugtuung, dass The Bolsheviks Come to Power: The 1917 Revolution in Petrograd nun in einer sorgfältig bearbeiteten Ausgabe auch in deutscher Sprache erscheint.Einleitend möchte ich schildern, welche Einflüsse meine Vorstellungen über die Bolschewiki und die Oktoberrevolution von 1917 in Russland geformt hatten, bevor ich begann, mich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. An erster Stelle steht sicherlich, dass ich in einer russischen Emigrantenfamilie aufwuchs, die sich als liberal und demokratisch verstand. Meine Eltern hatten 1932 geheiratet. Meine Mutter, die aus Kiew stammte, war Schauspielerin an einem russischen Theater, mein Vater Eugene Rabinowitch, gebürtig in Petersburg, war ein bekannter Chemiker und Biophysiker. Wie unzählige junge Russen war auch mein Vater im Jahr 1921 nach Westeuropa geflohen und durfte dank der Bemühungen des führenden Sozialdemokraten Eduard Bernstein an einer deutschen Universität studieren. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es ihm, am chemischen Institut des Massachussetts Institute of Technology (MIT) eine feste Anstellung zu bekommen.Und so verbrachte ich die prägenden Jahre meiner Kindheit und Jugend in einer Familie, die fest in der rührigen russischen Emigrantengemeinde an der Ostküste der USA verankert war. Unsere Sommerferien verbrachten wir in der üppigen Natur der Berge von Vermont. Das Ferienhaus, das mein Vater dort gekauft hatte, lag in der Nähe des Sommersitzes des berühmten Harvard-Historikers Michail Karpowitsch, der sich 1917 zu den gemäßigten Sozialisten bekannt hatte. Einige meiner lebhaftesten Erinnerungen aus jener Zeit kreisen um Mittags- und Abendmahlzeiten, auf denen sehr bekannte Russen, von Nabokow bis Kerenski, die damals in den USA lebten, über Themen der Geschichte, Literatur und aktuellen Politik Russlands diskutierten. Zwar kam es dabei bisweilen zu lebhaften Auseinandersetzungen, doch über gewisse Dinge herrschte offenbar Einvernehmen: Die Oktoberrevolution, die zu einem Bruch im Leben dieser Menschen geführt hatte, war ein Militärputsch einer verschworenen Gruppe revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins und Trotzkis. Sie war von den Deutschen finanziert worden und hatte in der Bevölkerung wenig Unterstützung gefunden. Hervorgebracht hatte sie nichts als Scheußlichkeiten und Gefahren für die ganze Welt. Diese Ansichten entsprachen natürlich den vorherrschenden Meinungen der meisten westlichen Historiker über die Oktoberrevolution und ihre Folgen. Und so kam es, dass das aus meiner familiären Herkunft rührende Interesse an der russischen Kultur und Geschichte, das mich mein Leben lang begleitet hat, ursprünglich mit einem zutiefst negativen Bild der Bolschewiki, der Oktoberrevolution, ja der gesamten historischen Erfahrung der Sowjetunion verbunden war.Mein Hochschulstudium der russischen Geschichte begann ich bei Leopold Haimson an der University of Chicago und bei John M. Thompson an der Indiana University. Haimson, der mittlerweile verstorben ist, leistete damals Pionierarbeit auf dem Gebiet der Sozialgeschichte des revolutionären Russlands; Thompson war ein anerkannter Experte für die Geschichte der Diplomatie. Zusammen weckten sie mein Interesse an der russischen Revolution als politisches und gesellschaftliches Phänomen von herausragender Bedeutung, das eine genauere Erforschung verdiente. Als es an der Zeit war, ein Thema für meine Doktorarbeit zu wählen, hatten sich meine grundlegenden Ansichten über die Sowjetunion und ihre Entstehung allerdings noch nicht geändert. Ursprünglich wollte ich eine Biografie Irakli Zeretelis verfassen, jenes bekannten georgischen Menschewiken und unversöhnlichen Gegners des Bolschewismus, den ich einst in Vermont kennengelernt hatte. Als sich aber herausstellte, dass eine umfassende Lebensgeschichte Zeretelis Kenntnisse des Georgischen voraussetzte, beschloss ich, mich auf den Abschnitt seines Lebens zu konzentrieren, der in die Zeit nach dem gescheiterten Aufstand vom Juli 1917 fiel. Als Kabinettsmitglied und de facto Führer der gemäßigten sozialistischen Sowjetführung auf nationaler Ebene war er damals maßgebend daran beteiligt, die Provisorische Regierung zu stützen und die Bolschewiki zu kriminalisieren.Wie kam es, dass sich mein Interesse von der Rolle, die Zereteli Mitte 1917 gespielt hatte, immer mehr auf die Bolschewiki verlagerte? Und was führte, um vorauszugreifen, später zu meinem Bruch mit der im Westen vorherrschenden Ansicht über die bolschewistische Partei und die Revolution, die sie an die Macht trug? Die Antwort auf diese Fragen, die mir oft gestellt wurden, ist eigentlich recht einfach. Durch die Arbeit mit Haimson und Thompson hatte ich neben einer bleibenden Leidenschaft für das Sammeln historischer Quellen auch die Überzeugung erworben, dass diese möglichst unvoreingenommen und redlich interpretiert werden müssen. Und so stellte ich bald fest, dass die weithin akzeptierte Einschätzung Zeretelis, wonach der Juli-Aufstand lediglich ein gescheiterter Putschversuch Lenins war, im Widerspruch zu dem Bild stand, das sich unabweisbar aus den verhältnismäßig spärlichen Primärquellen ergab, die mir damals zur Verfügung standen. Noch bevor ich mir selbst darüber Rechenschaft ablegte, hatte sich mein vorrangiges Forschungsinteresse von Zereteli im Jahr 1917 auf die Bolschewiki und ihre Rolle im Juli-Aufstand verlagert. Im Jahr 1968 veröffentlichte ich meine erste Studie über die russische Revolution von 1917, Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising ...
Inhalt
DanksagungAnmerkungen zu Transkription und TransliterationVorwort zur deutschen AusgabeEinleitung zur englischen Ausgabe1. Der Juli-Aufstand2. Die Bolschewiki unter Beschuss3. Petrograd zur Zeit der Reaktion4. Repression ohne Wirkung5. Der Wiederaufstieg der Bolschewiki6. Der Aufstieg Kornilows7. Kornilow gegen Kerenski8. Die Bolschewiki und Kornilows Niederlage9. Die Frage einer neuen Regierung10. Alle Macht den Sowjets11. Lenin ruft zum Aufstand12. Ein Aufstand mit Hindernissen13. Die Garnisonskrise und das Militärische Revolutionskomitee14. Am Vorabend15. Die Bolschewiki erobern die Macht16. EpilogAnmerkungenAuswahl-Bibliografie
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