Beschreibung
Er war nach antiken Vorstellungen fast ein Greis, als er 14 n. Chr. als zweiter Kaiser Roms den Thron bestieg: Tiberius Claudius Nero. Seine überaus ehrgeizige Mutter Livia Drusilla hatte ihm den Weg dorthin freigemordet.
Nach anfänglich milder Herrschaft zog sich Tiberius, zu Schwermut neigend, misstrauisch und finster, für seine letzten Lebensjahre auf die Insel Capri zurück. Er überließ die Regierungsgeschäfte dem Prätorianerpräfekten Seianus, einem skrupellosen Mann, der in Rom eine beispiellose Schreckensherrschaft errichtete. Gerade noch rechtzeitig wurde er vom Kaiser entmachtet und wegen Hochverrats zum Tode verurteilt.
Doch Tiberius' Weigerung, nach Rom zurückzukehren, ließ bald die wildesten Gerüchte über die Grausamkeit und die sexuelle Abartigkeit des alten Mannes aufkommen. "Biberius" nannten ihn die Römer, den Trinker. Und als er gestorben war (37 n. Chr.), forderte das aufgebrachte Volk, seine Leiche im Tiber zu versenken.
In den Annalen zeichnet der römische Historiker Tacitus ein düsteres Bild des Kaisers. Doch mancher Nachfolger sah in ihm den gerechten Herrscher schlechthin und erkor ihn zum Vorbild der eigenen Regentschaft.
Mit der gebotenen Behutsamkeit des neuzeitlichen Forschers nähert sich Ute Schall der komplexen Persönlichkeit des Menschen und des Kaisers, wobei sie in erster Linie die alten Quellen vergleichend heranzieht.
Autorenportrait
Ute Schall wurde 1947 in Buchen/Odenwald geboren. Seit 1980 veröffentlicht sie zahlreiche Essays über althistorische, vornehmlich altrömische Themen. Seit vielen Jahren macht sie Führungen durch die vor- und frühgeschichtliche Abteilung des Bezirksmuseums Buchen.
Sie leitet Führungen zu antiken Stätten in die klassischen Mittelmeerländer. Als Gastdozentin der Volkshochschule Buchen hält sie zahlreiche Vorträge und gibt Seminare über antike und frühchristliche Geschichte. Von Ute Schall sind bereits mehrere Bücher über römische Geschichte erschienen, u.a. 'Marc Aurel', 'Die Frauen im alten Rom', 'Die Juden im Römischen Reich'; außerdem 'Herodes', 'Domitian', 'Agrippina', 'So starben die römischen Kaiser' und 'Kleopatra' im acabus Verlag.
Leseprobe
Kindheit und JugendFast elf Jahre lebte Kaiser Tiberius schon auf Capri, als er, ein verbitterter Greis, von einem der wenigen Vertrauten, die ihm geblieben waren, angesprochen wurde: "Erinnerst du dich noch, Caesar?" "Nein", fuhr ihm der Alte schroff dazwischen. "Ich erinnere mich an nichts, was ich jemals gewesen bin."Wie soll sich ein Kind entwickeln, das im zarten Alter von vier Jahren von seiner Mutter im Stich gelassen und im Haus eines mürrischen, zu Depressionen neigenden Vaters in die Obhut von Ammen gegeben wird? Was kann aus einem Menschen werden, der, durch Flucht, Vertreibung und Unglück schon in frühester Kindheit traumatisiert, über Jahrzehnte ausschließlich für fragwürdige politische Zwecke missbraucht wird? Tiberius Claudius Nero, der nachmalige Kaiser, war solch ein Mensch. Er wurde am 16. November 42 v. Chr. Geboren, im Jahr 711 seit Gründung der Stadt, nach der die Römer ihre Jahre zählten. Nach dem Glauben der Alten berechtigte der Geburtsort zu den größten Hoffnungen: Das Kind soll nach herrschender Meinung auf dem Palatin, dem Hügel Roms, der dem Himmel so nahe ist, das Licht der Welt erblickt haben. Dies kann jedoch kaum richtig sein. Denn die alteingesessene Familie der Claudier wohnte auf dem kaum weniger vornehmen Caelius, der dem Palatin gegenüber liegt. Und Tiberius Eltern waren zum Zeitpunkt seiner Geburt noch verheiratet. Erst einige Jahre später sollte seine Mutter auf den Palatin umziehen. Es ist möglich, dass der antike Biograf Suetonius Tranquillus, Sekretär im Dienste Kaiser Hadrians (117-138 n. Chr.), der der interessierten Nachwelt die Biografien der ersten zwölf Kaiser Roms von Caesar bis Domitian hinterließ und dem wir auch viele Nachrichten über Tiberius verdanken, durch den Geburtsort "Palatin" die Herkunft seines Protagonisten aufwerten wollte.Freilich sahen einige seinen Geburtsort in Fundi, einer Kleinstadt in Latium, die an der Via Appia lag. Sie stützten ihre Behauptung darauf, dass Tiberius Großmutter mütterlicherseits aus Fundi stammte. Aber durfte es damals schon sein, dass ein römischer Herrscher seine Wurzeln in einem unbedeutenden Dorf hatte? Rom oder dieses Städtchen auf dem Land: Wo der nachmalige Kaiser das Licht der Welt erblickte, spielte für seinen Werdegang keine Rolle. Denn alles schien vorherbestimmt in diesem Leben, das wie kaum ein anderes von Verlust und Verzicht und alles andere als selbstbestimmt, aber auch seit früher Jugend von Wunderzeichen und mehr oder weniger günstigen Vorhersagen geprägt war. Schon unmittelbar nach seiner Geburt wurde Tiberius eine große Zukunft geweissagt. Seine Mutter Livia war sich übrigens ganz sicher gewesen, einen Sohn zu gebären. Denn sie hatte während ihrer Schwangerschaft versucht, das Geschlecht des Kindes, das sie in sich trug, zu erfahren, und dazu unter anderem einer brütenden Henne ein Ei weggenommen, das sie, abwechselnd mit ihren Dienerinnen, in der Hand so lange wärmte, bis ein Hähnchen mit einem besonders großen Kamm schlüpfte. Nach dem Glauben der Alten wies das eindeutig auf die Geburt eines Knaben hin. Dann sagte der Astrologe Scribonius dem Neugeborenen eine große Zukunft voraus: Der Knabe werde einst König sein, allerdings ohne die Abzeichen der königlichen Würde. Eine mutige Vorhersage zu einer Zeit, als die Herrschaft der Caesaren noch völlig im Dunkeln lag.
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