Beschreibung
In der Arbeit mit den Patienten ist die Müdigkeitsreaktion von Analytikern nicht selten, wenn auch in der Regel unerwünscht. Gleichzeitig ist sie ein zentraler Indikator für die Qualität der analytisch-therapeutischen Beziehung. Der Autor macht Vorschläge, wie sie bearbeitet und bewältigt werden kann.Die Müdigkeit des Analytikers ist eine unvermeidliche, wenn auch in der Regel unerwünschte Reaktion in der analytischen Situation. Richtig verstanden kann ihm dieses Phänomen wertvolle diagnostische und behandlungstechnische Hinweise liefern. Ausgehend von der inneren Arbeitsweise des Analytikers fasst Zwiebel die Müdigkeit als symptomatische Reaktion im Sinne einer »Störung« des abwartenden Zuhörens auf: Patient, Analytiker und die besondere Struktur der analytisch-therapeutischen Situation tragen zur Entwicklung dieses Phänomens bei. Er diskutiert die »Dynamik von Anwesenheit und Abwesenheit« und zeigt, wie der Analytiker Müdigkeit durcharbeiten und bewältigen kann.Zielgruppe:- PsychoanalytikerInnen- Therapeuten aller Richtungen, denen das Phänomen Müdigkeit nicht unbekannt ist»Ein sehr reiches, zeitloses Buch - sehr emofehlenswert!«Dunja Voos, Medizin im Test, 28.04.2019
Autorenportrait
Ralf Zwiebel, Prof. Dr. med., ist Lehranalytiker am Alexander- Mitscherlich-Institut Kassel (DPV, IPV), war Professor für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Er ist heute in eigener psychoanalytischer Praxis tätig.
Leseprobe
Vorwort Die beiden ersten Auflagen des Buches »Der Schlaf des Analytikers« sind seit Jahren vergriffen. Aufgrund vielfacher Nachfragen haben sich Verlag und Autor daher entschlossen, den bisherigen Text überarbeitet neu herauszugeben. In einigen wesentlichen Punkten ist dieser daher vom Autor ergänzt und erweitert worden. Dabei wurde der ursprüngliche Text in seinem Grundaufbau übernommen, zumal die darin postulierten Thesen auch heute noch weitgehend zutreffend erscheinen. In einem ergänzenden Kapitel werden manche Aussagen aus heutiger Sicht kommentiert und erweitert, so dass einige der Weiterentwicklungen in den letzten 15 Jahren deutlich werden. Dem Leser, der die vorliegende Arbeit als Ganzes lesen will, wird empfohlen, nach jedem Kapitel die entsprechenden Kommentare in Kapitel 8 zu lesen. 1. Einleitung Wie mit einem Thema beginnen, das so komplex, mehrdeutig, schillernd und letztlich so persönlich ist? Da der Titel der folgenden Arbeit auch »Das Verschwinden des Analytikers« lauten könnte, ist es meiner Ansicht nach von besonderer Wichtigkeit, dass dieses »Verschwinden« nicht in dem vorliegenden Text geschieht. Das scheint aber gleichzeitig die besondere Schwierigkeit dieser Arbeit zu sein: Nur wenn die Person des Autors »anwesend« bleibt, wird der doch recht umfangreiche Text zu rechtfertigen und werden die zentralen Thesen der Arbeit überzeugend darstellbar sein. Immerhin gibt es bereits einige, wenn auch überwiegend englischsprachige, Untersuchungen über die Müdigkeitsreaktion des Analytikers, in denen einige der wesentlichen Aspekte dieses Phänomens sehr klar beschrieben werden (Dean 1957, McLaughlin 1975, Brown 1977, Alexander 1981) 1 . Bereits in der Arbeit von Dean, der sich in wünschenswerter Kürze von eineinhalb Seiten zu dem Problem äußert, werden manche der zentralen Aspekte in der Zusammenfassung formuliert: »Es werden einige Beobachtungen berichtet, in denen Müdigkeit als Symptom der Gegenübertragung im Analytiker auftrat. Dies erwies sich als ein Versagen, die zähen Widerstände in der Übertragung von zwei zwanghaften Patienten aktiv zu analysieren. Seine passive analytische Haltung verhinderte die Berücksichtigung der Notwendigkeit, die negative Übertragungshaltung dem Patienten zu deuten. Diese Auslassung induzierte im Analytiker Gefühle der Machtlosigkeit und Entmutigung, die seine Müdigkeit verursachten. Indem eine stillschweigende Haltung des Patienten in eine explizite Aussage übersetzt wurde, wurde der Anreiz geschaffen, die negativen Aspekte der Übertragung und Gegenübertragung aufzulösen und eine günstige Bewegung in Richtung Behandlung zu vermitteln.« (Dean, 1957) Das, was hier zwischen den Zeilen steht, soll im Wesentlichen der Inhalt der folgenden Arbeit sein: also beispielsweise das »Versagen« des Analytikers, die Gefühle von Machtlosigkeit und Entmutigung und die Angst, sich wirklich schonungslos mit dem Patienten auseinanderzusetzen. Dabei mag in der Folge der Eindruck entstehen, als würde der persönliche Anteil des Analytikers an der Müdigkeitsreaktion überschätzt werden. Die Intention der Arbeit ist allerdings der Versuch, die Müdigkeitsreaktion des Analytikers als ein Beziehungsphänomen in den verschiedenen subtilen Interaktionen zwischen Patient und Analytiker zu beschreiben. Wenn ich in der Müdigkeitsreaktion auch ein »Versagen« in den Funktionen der Selbstanalyse des Analytikers entdecke, so sollte eine Arbeit über dieses Thema in jedem Fall diese selbstanalytischen Elemente enthalten, auch wenn es sich immer nur um einen Versuch handeln kann und auch die Gefahr beinhaltet, für diese Offenheit kritisiert oder gar diffamiert zu werden. Aber das Schreiben darf eben nicht zu sehr nach dem potentiellen Leser schielen, sonst führt es nämlich gerade wieder zur Selbstverhüllung und Selbstverleugnung. Der selbstanalytische Aspekt ist damit ein zentrales Ziel dieser Arbeit, auch wenn gleichzeitig die Grenzen dieses Bemühens anzuerkennen sind: es kann nur darum gehen, trotz dieser Begrenztheit unermüdlich diesen Weg zu gehen. Wenn ich meine bisherige analytische Tätigkeit betrachte, so entdecke ich neben vielen interessanten, bewegenden und befriedigenden Momenten auch viele Situationen, die schwierig, enttäuschend, belastend, verwirrend und rätselhaft waren oder auch geblieben sind. Um es noch dramatischer zu sagen: Ich erlebe in mir eine Ambivalenz, ja manchmal eine innere Zerrissenheit gegenüber der psychoanalytischen Arbeit mit meinen Patienten, eine Zerrissenheit, in der Faszination, Befriedigung und Überzeugung auf der einen Seite und Zweifel, Entmutigungen und manchmal sogar Verzweiflung auf der anderen sich die Waage halten. In klinischen Diskussionen und in der Literatur meine ich eine Tendenz zu spüren, die diese schwierigen und widersprüchlichen Seiten der analytischen Tätigkeit eher verkleinert oder gar verleugnet, verbunden mit einem manchmal rigoros-moralischen oder aber auch allmächtig klingenden Unterton, der eine gewisse Entmutigung, sich diesen Schwierigkeiten der analytischen Arbeit wirklich zu stellen, zur Folge hat. Als eine der Konsequenzen daraus sehe ich eine nicht unbeträchtliche Doppelbödigkeit, die sich bis zur Unaufrichtigkeit steigern kann, mit erheblichen Auswirkungen auf die Ausbildung zukünftiger Analytiker und auf die wissenschaftliche Forschung und ihre Ergebnisse. Aus diesem Grund möchte ich mich in der folgenden Arbeit mit einem Phänomen beschäftigen, das ich selbst als eine solche Schwierigkeit betrachte und das mich schon seit dem Beginn meiner analytischen Tätigkeit immer wieder bewegt hat: das der Müdigkeit und Schläfrigkeit, in besonderen Situationen sogar das Einschlafen des Analytikers in der analytischen Sitzung. Dass die Literatur zu diesem Thema so spärlich ist, empfinde ich als ebenso erstaunlich wie die in kollegialen Diskussionen zu hörenden Auffassungen, in denen eher undifferenziert eine spezifische Problematik des Patienten (meist die unterdrückte Aggressivität) oder des Analytikers (seine oder ihre unaufgelöste Neurose) geäußert wird. Demgegenüber bin ich selbst der Meinung, dass die Analyse der Müdigkeitsreaktion tiefe Einblicke in die Natur der analytischen Situation und der analytischen Beziehung gestattet und dass ein umfassenderes Verständnis dieser komplexen kognitiv-emotionalen Reaktion (im Sinne der Veränderung der Bewusstheit) von großem Wert für Analysand und Analytiker werden kann. Bevor ich in dieser Einleitung in knapper Form meine Hauptthesen formulieren werde, möchte ich noch auf eine weitere Schwierigkeit aufmerksam machen: Vor allem wird in dieser Arbeit von meiner Müdigkeit die Rede sein. Die mir vorliegende Literatur gestattet zwar die Vermutung, dass bei anderen Analytikern ähnliche Phänomene und Prozesse vorkommen. Dennoch sind weitgehende Schlussfolgerungen und Generalisierungen mit Vorsicht zu betrachten. Dies beginnt schon mit der Frage der Bewertung dieses Phänomens: Sollte man es vorwiegend als ein negatives, störendes Element oder als einen unverzichtbaren Bestandteil der analytischen Beziehung betrachten? Ich persönlich empfinde zwar nach wie vor manche Formen von Müdigkeit als ziemlich unangenehm und unerwünscht und gehe auch in der Regel davon aus, dass diese Reaktion als eine Störung der analytischen Beziehung anzusehen ist; ich halte es aber für durchaus denkbar, dass andere Analytiker andere Erfahrungen damit haben. So ist meine bisherige Einschätzung vor einiger Zeit durch die Erfahrung mit Frau A., über die ich später genauer berichten werde, ins Wanken geraten. Die analytische Arbeit mit dieser Patientin war immer wieder geprägt von relativ starken Müdigkeitsreaktionen auf meiner Seite, und ich hatte oft das Gefühl, dass die analytische Arbeit keinen Millimeter voranschreitet. Das z.T. aus äußeren Gründen notwendige Ende der Behandlung enthüllte jedoch zu meiner großen Überraschung einige erstaunliche Veränderungen, die die Patientin lange Zeit vor mir verborgen hatte. Das in dem Abschlußgespräch erarbeitete Verständnis schien die Vermutung nahe zu legen, dass die Patientin meine »Müdigkeit« brauchte, um sich sozusagen ungestört ein Stück weit entwickeln zu können. (Siehe auch S. 43.) Modells Arbeit, auf die ich später noch ausführlicher zu sprechen kommen werde, bietet einen überzeugenden theoretischen Rahmen, der dieses erstaunliche Phänomen zu beleuchten vermag (Modell, 1990). Vor allem die Einschätzung und Bewertung der entstehen den Müdigkeit und die Reaktion darauf wird wohl sehr unterschiedlich ausfallen; davon wird es abhängen, ob sich der Analytiker für dieses Phänomen interessiert, sich damit aktiv auseinandersetzt, es stärker zulässt oder intensiver bekämpft. Der Ausgangspunkt der Betrachtungsweise ist also immer die eigene Erfahrung; die daraus abgeleiteten generalisierenden Überlegungen sind als Fragen und Hypothesen zu verstehen, die nur im kollegialen Dialog eine weitere Klärung erfahren können. Im Folgenden werde ich in ganz knapper Form die wesentlichen Thesen darstellen, bevor diese in den anschließenden Kapiteln mit größerer Ausführlichkeit erörtert werden. 1. Müdigkeitsreaktionen und Schlafimpulse in der analytischen Situation sind wahrscheinlich relativ häufig und beruhen primär auf latenten Impulsen des Analytikers, die auch unabhängig vom Patienten existieren. Sie sind Ausdruck einer mehr oder weniger starken unbewussten Tendenz, die analytisch-therapeutische Position aufzugeben und eine andere Beziehungsform mit dem Patienten zu realisieren (Kapitel 2). 2. Diese analytisch-therapeutische Position( ATP ) lässt sich nur begrenzt umfassend und allgemein beschreiben. Nach meiner Auffassung handelt es sich um eine komplexe, dynamische und widersprüchliche Struktur, die in ihrem Kern paradoxe Elemente enthält. Ihre unbewusste Repräsentanz im Innern des Analytikers bekommt eine spezifische und potentiell konflikthafte Bedeutung - um zentrale Themen der Getrenntheit, der Vollkommenheit und der Bisexualität kreisend - und führt auch dadurch zu einer unvermeidlich ambivalenten Besetzung dieser Position. Die latenten Müdigkeitsimpulse könnte man also auch als Ausdruck oder symptomatische Folge dieser grundlegenden Ambivalenz oder auch als einen Widerstand der analytischen Position gegenüber betrachten (Kapitel 3). 3. Diese grundlegende, meist eher latente Ambivalenz scheint von einigen Patienten stärker stimuliert zu werden als von anderen Patienten. Es handelt sich überwiegend um Patienten, bei denen »narzisstische« Probleme im Vordergrund stehen. Besonders eindrucksvoll lassen sich bestimmte Störungen im Bereich des Selbstgefühls, der affektiven Kommunikation und einer Objektbeziehung, die man mit Balint als archaische oder primitive Objektbeziehung bezeichnen kann, beschreiben. Aufgrund meiner klinischen Erfahrung postuliere ich eine »oknophile« Variante und eine »philobatische« Variante dieser narzisstischen Problematik: im ersten Fall handelt es sich um Patienten, die die analytisch-therapeutische Position des Analytikers nicht wahrnehmen, verleugnen und verzerren, zugunsten starker Wünsche nach einer persönlichen, direkten Beziehung zu ihm oder ihr 2 ; im zweiten Fall handelt es sich um Patienten die die »persönliche Beziehung« zu ihrem Analytiker nicht wahrnehmen, verleugnen oder verzerren mit einer Neigung, den Analytiker auf eine Karikatur von analytischer Professionalität festzulegen. Als ein entscheidendes Merkmal lässt sich die Modalität der Bezogenheit beschreiben, die Modell in Anlehnung an Winnicott in verschiedene Stadien unterteilt: die Dehumanisierung des Analytikers, die Schaffung eines sich selbst erhaltenden Kokons und die geteilte Kreativität, die ich selbst als eine Beziehungsform verstehe, die auf Gegenseitigkeit beruht. Patienten mit den beiden zuerst genannten Modi der Bezogenheit bzw. Nicht-Bezogenheit lösen bevorzugt chronische Müdigkeitsreaktionen beim Analytiker aus. Das Phänomen der projektiven Identifizierung, vor allem in der Form der pathologischen, exzessiven projektiven Identifizierung und mit der Folge der Rollenumkehr, spielt hier eine besondere Rolle. Die Projektion eines als »orales Selbst« zu bezeichnenden Persönlichkeitsanteils erweist sich als besonders wirksam. Beim Analytiker lassen sich aufgrund dieser Charakteristika der Patienten unspezifische, spezifische und szenische Reaktionsformen unterscheiden. Als unspezifische Reaktion kann man die durch die besondere Form der Nicht-Bezogenheit der Patienten ausgelösten und nicht selten abgewehrten Gefühle der Enttäuschung und des Ärgers ansehen. Die spezifische Reaktion lässt sich als Folge der Introjektion der pathologischen projektiven Identifizierung des Patienten verstehen, wodurch im Analytiker seine eigene abgewehrte und abgespaltene Bedürftigkeit stimuliert wird. Die szenische Reaktion schließlich kann man als Wiederbelebung einer früheren Objektbeziehung mit einem »schlafenden« bzw. abwesenden Objekt auffassen. Nicht selten wird die klinische Situation durch das Phänomen der Konfusion bestimmt, der sich der Analytiker infolge der unlustvollen Erlebnisqualität durch die Müdigkeitsreaktion zu entziehen sucht. Diese Müdigkeitsreaktion stellt selbst eine veränderte Modalität der Bezogenheit gegenüber dem Patienten dar, in der sehr viele identifikatorische Elemente enthalten sind (Kapitel 4). 4. Nach der Darstellung des Phänomens aus der überwiegenden Perspektive des Patienten folgt die Betrachtung der Müdigkeitsreaktion aus der Sicht des Analytikers, da man ja berücksichtigen muss, dass auch andere Reaktionen auf eine bestimmte Charakterologie des Patienten möglich ist. Die »narzisstische Bedürftigkeit« vieler Analytiker, die man auf Grund der Literatur und analytischer Erfahrungen postulieren kann, wird in der Regel durch eine kompensierende Progression in Richtung auf die von mir beschriebene analytische Position umgewandelt. Die mit der Ausübung dieser Haltungen und Funktionen verbundenen Befriedigungen stellen eine Art »sublimierte« Form der Umwandlung ursprünglich drängender Wünsche nach Anerkennung, Spiegelung, Versorgtheit, Reparation und Verständnis dar. Allerdings bleiben die progressiven Kompensierungen vulnerabel und zwar durch Ereignisse im Leben des Analytikers, aber auch durch spezifische Begegnungen mit seinem Patienten. Gerade die Patienten, die in gewisser Weise in ihrer Struktur auch eine bestimmte Ähnlichkeit mit der Struktur des Analytikers haben, können diese Vulnerabilität verschärfen, vor allem durch ihre besondere Form der Nicht-Bezogenheit. Meiner Erkenntnis nach lassen sich mindestens 3 typische, regressive Dekompensierungen der analytischen Position beschreiben: wiederum eine »oknophile« Variante, in der der Patient zum Objekt des therapeutischen Ehrgeizes seines Analytikers wird; eine »philobatische« Variante, in der der Patient zum Objekt scheinbar wissenschaftlicher Neutralität mit der Gefahr der negativen Diagnostik wird; und eine »persönliche« Variante, in der Analytiker nur noch persönlich reagiert, also in der Regel gekränkt, verliebt, verärgert, enttäuscht oder begeistert. Diese drei Varianten erscheinen mir wie die Spaltprodukte der analytischen Position, die bei größerer Integration sonst in ihr enthalten sind. Die Folgen dieser regressiven Dekompensierung sind unübersichtliche, chaotische Situationen, die nicht mehr durch Verstehen aufgelöst werden können. Dadurch werden Tendenzen im Analytiker mobilisiert, sich dieser Situationen zu entziehen - in Form der Müdigkeitsreaktion vor allem dann, wenn der Analytiker immerhin noch an der analytischen Situation mit ihren Grenzen und Regeln festhält (Kapitel 5). 5. Die Müdigkeitsreaktion lässt sich aber auch aus der spezifischen Sicht der analytischen Situation selbst diskutieren. Die Betrachtung der Müdigkeitsreaktion unter den Gesichtspunkten beispielsweise der freien Assoziation des Patienten, der Neutralität, der Abstinenz und Anonymität des Analytikers, der Frequenz der Sitzungen und des Settings im engeren Sinn (liegend oder sitzend) und der Beschränkung des Analytikers auf verbale Interventionen lässt einige Beschreibungen zu, die ich folgendermaßen zusammenfassen kann: Die beschriebenen Besonderheiten der Patienten und die spezifischen Probleme des Analytikers führen gelegentlich dazu, dass diese Elemente der analytischen Situation nicht mit aller notwendigen Sicherheit und Entschiedenheit vertreten werden. Vielmehr kann dies zu einer kollusiven Einigung zwischen Patient und Analytiker führen, die im Grunde auf eine Aufhebung oder zumindestens In-Frage-Stellung der zentralen Elemente der analytischen Situation hinauslaufen. Nicht selten sind es auch die persönlichen Konflikte des Analytikers, die spezifischen Ängste und Bedürfnisse, die in Verbindung mit dem Einfluss seines Patienten zu dieser kollusiven Entwicklung beitragen. Auch hier kann die Müdigkeitsreaktion als ein Versuch verstanden werden, sich einer als problematisch erlebten, aber nicht veränderbar erscheinenden Situation zu entziehen. Zwar werden immer wieder auch die Beteiligungen des Analytikers diskutiert, die aber erst in Wechselbeziehung mit seinem Patienten und den Besonderheiten der analytischen Situation ihre volle Wirksamkeit entfalten. In diesem Zusammenhang wird zu diskutieren sein, ob es einen gleichsam unpersönlichen Faktor bei der Müdigkeitsreaktion gibt, der Ausdruck einer Inkompatibilität von Methode und Problematik ist. Hier wird auch die Frage zu diskutieren sein, ob die Müdigkeitsreaktion spezifisch für die analytische Methode ist oder als ein generelles Phänomen in der psychotherapeutischen Arbeit zu verstehen ist. Die etwas genauer zu besprechende Untersuchung von I. Auerbach weist in die Richtung, dass es sich um ein generelles Phänomen handelt. Insofern ist das analytische Verständnis der Müdigkeitsreaktion auch als ein Beitrag zu einem allgemeinen Verständnis psychotherapeutischer Arbeit zu verstehen, die zu einer Theorie therapeutischer Professionalität beitragen könnte (Kapitel 6). 6. Es folgen einige Anmerkungen zur »Behandlung« des Phänomens. Vor allem plädiere ich dafür, Störungen der analytischen Position durch Selbstexploration und Selbstreflexion zu bearbeiten. Als wesentliches »Behandlungsphänomen« betrachte ich die Toleranz der paradoxen Grundelemente der analytischen Position, die in einer Haltung des »non-attachement« oder des »In-der-Schwebe-Haltens« der Bipolarität von »Persönlichem« und »Technischem Pol« des Analytikers am besten zu beschreiben ist: Dies lässt sich nur in widersprüchlichen Formulierungen fassen. »Festhalten« und »Loslassen« sind aus meiner persönlichen Sicht die entscheidenden Beziehungsmuster, die zu diskutieren sind (Kapitel 7). 7. In dem abschließenden Kapitel »Zur Dynamik von Anwesenheit und Abwesenheit« (Kapitel 8) versuche ich, einige der seit der Erstveröffentlichung des Textes gemachten Erfahrungen und Überlegungen zusammenzufassen und vor allem eine weiterführende Diskussion zu initiieren. Dazu wird noch einmal das Konzept der ATP mit dem besonderen Schwerpunkt der inneren Arbeitsweise des Analytikers aufgegriffen, in dem auch eine kürzlich veröffentlichte Arbeit in die Überlegungen einbezogen wird (Zwiebel 2007). Die Dynamik von Anwesenheit und Abwesenheit wird genauer sowohl aus der Sicht der Wunsch- und Beziehungsregulierung (Moser, 2009) als auch aus er Sicht des Konzepts der »Traumgedanken im Wachen« (Ferro, 2009) als ein notwendig oszillierender Prozess beschrieben. Zentral ist hier die Fähigkeit des Analytikers zum »Träumen« in einem von Bion erweiterten Sinn, eine Fähigkeit, die auch verloren gehen und dann zur Abwesenheit und zur Müdigkeitsreaktion führen kann. 8. In der Zusammenfassung (Kapitel 8), die auch unter dem Motto: ?Wie bleibt man Analytiker? gelesen werden kann, wird die Müdigkeitsreaktion noch einmal in diesen größeren Rahmen gestellt: weniger als ein spezielles technisches Problem, als Ausdruck der Gegenübertragung bei bestimmten Patienten, sondern als ein grundlegendes Problem im Sinne einer generellen Gegenübertragung auf die analytische Arbeit selbst (Parson, 2007). In diesem erweiterten Sinn wird dann die Müdigkeitsreaktion in ihren verschiedenen Ausprägungen ein Leitindikator für die Qualität der analytischen Arbeit oder des »analytischen Weges«. 2. Das Phänomen Es ist eine schwierige Frage, ob man die Müdigkeitsreaktion als ein einheitliches Phänomen aufzufassen hat oder ob sich in dieser scheinbar so monotonen Reaktion doch ganz unterschiedliche Prozesse verbergen. Man könnte geneigt sein, zu mindestens zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Müdigkeit zu unterscheiden, wenn dies nicht die Gefahr einer zu starken Bewertung enthielte. Damit könnte aber ausgedrückt werden, dass es Müdigkeiten von unterschiedlicher affektiver Qualität gibt, also eine wohlige, angenehme, vielleicht auch schöpferische Müdigkeit und eine Müdigkeit, die quälend, zerstörerisch und unerträglich erlebt wird. In dieser Arbeit interessiert mich vor allem diese letzte, »quälende« Müdigkeit, die ich aus meiner Sicht folgendermaßen charakterisieren möchte: Meist ohne erkennbaren äußeren Anlass tritt die Müdigkeit im Beisammensein mit dem Patienten auf, entweder plötzlich und unverhofft oder langsam und schleichend. Als besonders charakteristisch empfinde ich das Zwingende des Phänomens: Ich möchte diese Müdigkeit nicht, beginne mich innerlich dagegen zu wehren, aber fühle mich zunehmend hilflos einem Drang oder Sog ausgeliefert, einem Prozess, den ich nicht steuern und kontrollieren kann. Ich spüre gleichzeitig ganz deutlich, dass »irgendetwas mit mir gemacht wird« und dass dieser Einfluss vom Patienten zu kommen scheint. Diese Müdigkeit lässt sich nicht nur mental, sondern auch körperlich beschreiben: Neben der einsetzenden Schläfrigkeit, der Leere des Kopfes und fehlenden Einfällen sind es körpernahe Gefühle des Kopfdruckes, der Schwere und Lähmung in den Gliedern, ein Brennen und Spannen des Gesichts, eine Schwere und Enge des Atmens, eine Anspannung des Nackens, der Fäuste und viele andere körperliche Reaktionen, die man oft selbst gar nicht mehr wahrnimmt. Je länger diese Müdigkeit andauert, umso mehr gesellen sich auch andere Gefühle hinzu: ich beginne mich schuldig zu fühlen, dass ich nicht richtig zuhören kann und mich für den Patienten offenbar nicht mehr interessiere; ich fühle mich gequält oder auch wütend und vorwurfsvoll, dass der Patient wieder einmal so etwas mit mir macht; ich beginne krampfhaft an andere, angenehmere Dinge zu denken, oder ich male mir aus, wie schön es wäre, jetzt in meinem gemütlichen Bett zu liegen und einschlafen zu können. Seltener gebe ich mich dann diesen Wünschen hin und schlafe vielleicht für einen kurzen Moment ein; zu anderen Zeiten gebe ich mir einen Ruck und entschließe mich zu einer Intervention, offenbar auch in der Hoffnung, diesen mich quälenden Prozess auf diese Art und Weise unterbinden zu können. Ich bemerke dann - manchmal fast ein wenig erschrocken -, dass diese Interventionen einen unterschwelligen Klang haben, der vielleicht vorwurfsvoll, kritisch und anklagend ist. Die Deutung sagt dann im Wesentlichen: »Hören Sie endlich damit auf!« Zu dieser Art der Müdigkeit gehört es auch, dass sie manchmal wie im Fluge verschwindet, wenn etwas Überraschendes in der Stunde passiert oder am Ende der Sitzung wie weggezaubert ist. Es kann aber auch sein, dass sich diese Müdigkeit von Patient zu Patient steigert und ich mich am Ende eines Arbeitstages ganz zerschlagen, kaputt und »krank« fühle. Daher wäre die Bezeichnung »schlechte« Müdigkeit auch so naheliegend, wenn diese Bewertung nicht gleichzeitig das Problem weiter vertiefen würde. In jedem Fall handelt es sich aber bei der Müdigkeit, die mich in dieser Arbeit interessiert, um eine symptomatische Reaktion aufseiten des Analytikers, die als mehr oder weniger ich-dyston erlebt wird. Ich beeile mich nochmals, die darin enthaltene Wertung zu relativieren, weil ich nicht mehr der Auffassung bin, dass es sich um eine prinzipiell pathologische Reaktion handelt: Die etwas paradoxe Aufgabe des Analytikers scheint mir eher darin zu liegen, auch für dieses Phänomen ausreichend Interesse aufzubringen und es damit einem analytischen Verständnis näher zu bringen. Eine weitere interessante Frage ist die nach der Häufigkeit des Phänomens: Kennen alle Analytiker solche Müdigkeiten, erleben sie diese Müdigkeiten in ähnlicher Art und Weise, wie gehen sie damit um? Tritt sie nur bei bestimmten Patienten auf oder potentiell bei allen? Da ich nicht annehme, dass es eine Untersuchung über diese quantitativen Aspekte gibt, habe ich für meine Person den Versuch gemacht, einen halbwegs quantitativen Eindruck zu bekommen. Über einen Zeitraum von 13 Wochen habe ich jede einzelne Sitzung daraufhin untersucht, ob und in welchem Maße Müdigkeitsreaktionen bei mir auftraten. Dafür habe ich nach jeder Sitzung eine Selbsteinschätzung nach einer Skala vorgenommen, die von 0 bis 5 reichte. 0 bedeutete keine Müdigkeit, 1 geringe Müdigkeitstendenzen, etwa eine charakteristische Spannung um die Augen herum, 2 deutlichere Müdigkeiten, vor allem auch in einem bestimmten Abschnitt der Stunde, 3 und 4 stärkere bis massive Müdigkeiten mit Einschlaftendenzen und 5 manifester Schlaf. Eine weitere Differenzierung in »gute« und »schlechte« Müdigkeit machte ich nicht. Insgesamt habe ich 276 Sitzungen dieser Bewertung unterzogen und kam dabei zu folgendem Ergebnis: 138 Sitzungen habe ich mit 0 bewertet, 102 Sitzungen mit 1, 29 Sitzungen mit 2, 5 Sitzungen mit 3, 1 Sitzung mit 4 und ebenfalls 1 Sitzung mit 5. Darüber hinaus habe ich noch den Wochendurchschnitt errechnet, der zwischen 0,6 und 0,8 lag. Bei drei Patienten lag der Wert mit 1,4, 1,1 und 1,0 deutlich über den Werten der anderen Patienten. Die Zahlen scheinen eine Objektivität widerzuspiegeln, die sie natürlich nicht haben. Ich kann allerdings sagen, dass sie für mich relativ charakteristisch sind und auch für Zeiten gelten können, in denen ich diese Selbstbeobachtung nicht durchführte. Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Beobachtungen ziehen? Wenn ich sie vorsichtig generalisiere, so lässt sich Folgendes sagen: 1. Müdigkeitsimpulse sind offenbar recht häufig, wenn auch oft nur in diskreter Art und Weise; diese sind vielleicht nur zu beobachten, wenn man überhaupt darauf achtet.2. Massive Müdigkeiten sind eher selten, in meinem Material etwas über 10% (Bewertung 2-5), Einschlafreaktionen die Ausnahme.3. Leichte und diskrete Müdigkeiten treten bei allen Patienten auf; bei einigen Patienten sind sie jedoch häufiger und intensiver als bei anderen. Der für mich interessanteste Befund ist der Hinweis, dass es offenbar eine latente Bereitschaft zu Müdigkeitsreaktionen unabhängig vom jeweiligen Patienten gibt. Ich werde später auf diesen Hinweis zurückkommen und davon ausgehend eine meiner zentralen Thesen entwickeln. Zuvor möchte ich jedoch noch eine Stunde mit einer Patientin schildern, in der eine relativ typische Müdigkeit auftrat. Frau B. ist seit einigen Jahren in Analyse. Die folgende Sitzung habe ich in der anschließenden Bewertung mit 2 festgehalten. In der Anfangsphase der Behandlung waren teilweise relativ starke Müdigkeitsreaktionen aufgetreten, die mittlerweile aber deutlich nachgelassen hatten. Zur Vorgeschichte der Stunde möchte ich erwähnen, dass Frau B. die Stunde mit einem ihr bekannten Mit-Patienten getauscht hatte und dass sie die vorige Stunde wegen einer beruflichen Verpflichtung hatte ausfallen lassen. Sie kommt heute pünktlich und begrüßt mich freundlich, wenn auch eine Spur zurückhaltender als üblich; dies meine ich jedenfalls ihrem Händedruck entnehmen zu können. Sie erzählt von einem Erfolgserlebnis aus ihrem Sport, wo sie sich in letzter Zeit sehr viel besser habe abgrenzen können, und sie habe gedacht: Wenn ich das wirklich kann, dann ist die Analyse bald zu Ende. (Ich spüre bei mir eine merkwürdige Überraschung, so als hätte ich an diese Möglichkeit bislang überhaupt nicht gedacht). Danach erzählt sie von der Reise, vor allem über die Beziehung zu einer Kollegin, die sich ausgesprochen merkwürdig verhalten habe, was sie in einer längeren Passage mit einigen Einzelheiten verdeutlicht. Sie habe jedenfalls als einzige ihrer Kollegen in einer Besprechung darauf hingewiesen, dass sie mit einem Menschen, der so distanzlos sei, nicht zusammenarbeiten könne. (Etwa bis zu diesem Zeitpunkt in der Sitzung bin ich wach, interessiert, mache mir Gedanken über das Material, überlege, welchen Übertragungsbezug das Gesagte hat, vor allem auch in Hinblick auf den Beginn der Sitzung, finde aber keinen rechten Anhaltspunkt). Sie fährt dann fort, über andere Arbeitskollegen in ihrer Firma zu sprechen, vor allem von einem jungen Kollegen, der auf seine schwierige Arbeit überhaupt nicht richtig vorbereitet wird und damit von der Leitung alleine gelassen wird. (Etwa an dieser Stelle setzt meine Müdigkeit ein, die sich recht deutlich spüren lässt, diesmal mit einem leichten Gefühl von Ärger, aber auch Schuldgefühl; der Gedanke dabei ist: Ertrage ich die Sitzungen mit den Patienten nur, wenn ich immer alles auf mich beziehe! Ich überdenke das Gesagte noch einmal, spüre auch, dass Frau B. mir etwas Wichtiges zu sagen versucht, kann es aber nicht fassen). Die Patientin schweigt für einige Zeit und sagt dann, dass sie sich im Moment nicht so wohl fühle, was ihr sage, dass irgendetwas nicht stimme. Daraufhin sage ich: Ja, auch mir sei es so vorgekommen, als würde zum Verständnis noch etwas fehlen, und ich hätte an den Tausch der Stunde gedacht, der für sie offenbar so unkompliziert sei, dass sie ihn mit keinem Wort erwähnt habe. Sie stimmt zu, dass es ihr gar keine Probleme gemacht habe. (Die Müdigkeit ist fast schlagartig verschwunden und taucht auch bis zum Ende der Sitzung nicht wieder auf). Jetzt fällt ihr aber eine andere Frau ein, von der sie neulich gehört habe, dass diese bei mir in Analyse sei. Auf diese Frau habe sie ziemliche Neid- und Wutgefühle, gerade weil sie wisse, dass diese Frau auch viele positive Eigenschaften habe. Und plötzlich spürt sie ein Traurigkeitsgefühl, und sie denkt an den Anfang der Stunde, wo sie ja schon fast mit der Analyse aufhören wollte, was sie sich im Moment gar nicht mehr vorstellen könne, denn wenn sie so viele Gefühle mir gegenüber noch empfinde, könne das Ende der Analyse noch nicht gekommen sein. Natürlich ist die Frage, ob das hier wiedergegebene Protokoll all die Elemente festhält, die für das Entstehen der Müdigkeitsreaktion maßgebend waren. Ich möchte dies bezweifeln. Allerdings werden einige Aspekte erwähnt, auf die ich immer wieder im Zusammenhang mit der Müdigkeitsreaktion gestoßen bin. Am wichtigsten erscheint mir der Punkt, dass ich in einer bestimmten Phase der Stunde ein sich verstärkendes Gefühl des Nicht-Verstehens und des Nicht-Wissens verspürte bei dem gleichzeitigen starken Wunsch, doch zu erfassen, worum es der Patientin ging. Es ließ sich zwar ahnen, dass es eine Verbindung zwischen den »Kollegen«,über die die Patientin in ihren manifesten Assoziationen sprach, und den »Analyse-Kollegen« gab, aber die Hinweise waren für mich zu mehrdeutig, als dass ich sie hätte verstehen können. Kann man also die Müdigkeitsreaktion auch als eine Antwort auf dieses Gefühl des Nicht-Verstehens und Nicht-Wissens auffassen? In diesem Zusammenhang ist dann auch sehr interessant, dass der Hinweis der Patientin, dass sie das Gefühl habe, irgendetwas stimme nicht, zu einer Veränderung der Situation führt: Die Bestätigung des Analytikers und der Hinweis auf die aktuelle Situation fördert Phantasien und vor allem Affekte zu Tage, die offenbar das fehlende Glied in der Verständniskette waren. Die Abwehr der Übertragungsaffekte ist in dieser Stunde also besonders bemerkenswert und scheint in irgendeiner Weise mit der Müdigkeitsreaktion des Analytikers in Verbindung zu stehen. Denn als die Patientin diese Übertragungsaffekte spürt und zulassen kann, löst sich die beschriebene Müdigkeitsreaktion wieder auf. An diesem hier vorgestellten Beispiel ist weiterhin relativ charakteristisch, dass die aufkommende Müdigkeit vom Analytiker als störend, ich-fremd und unangenehm empfunden wird. Es handelt sich mit anderen Worten um eine symptomatische Reaktion, die nach psychoanalytischem Verständnis immer Ausdruck eines inneren unbewussten Konfliktes ist. Da im Symptom defensive und expressive Aspekte enthalten sind, fällt es vorerst nicht schwer, einen Teil dieses inneren Konfliktes zu beschreiben: Es entsteht offenbar in einer als frustrierend erlebten Situation ein ziemlich ausgeprägtes Schlafbedürfnis, das in Form der Müdigkeit und Schläfrigkeit seinen kompromisshaften Ausdruck findet, denn das Schlafbedürfnis ist nur teilweise bewusst und wird überlagert durch defensiv motivierte Selbstvorwürfe. Man könnte also die manifeste Müdigkeitsreaktion als eine symptomatische Reaktion ansehen, die als Ausdruck eines inneren Konfliktes zwischen Schlafbedürfnis und Abwehr dagegen aufzufassen ist. Erst wenn sich die Müdigkeit vertieft und der Analytiker wirklich einschläft, setzt sich das Schlafbedürfnis voll durch, und es fällt dann schwer, von einer symptomatischen Reaktion zu sprechen. Von entscheidender Bedeutung für die weitere Diskussion scheint die Frage nach dem Stellenwert des Schlafbedürfnisses zu sein. Aus psychoanalytischer Sicht lässt sich das Schlafbedürfnis etwa ähnlich wie der Hunger zu den elementaren, biologischen Bedürfnissen des Menschen zählen, die als grundsätzlich, unverzichtbar und natürlich angesehen werden. So kehrt das Schlafbedürfnis ebenso wie der Hunger täglich wieder, und nur Abweichungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht und ihr Auftreten in nicht angemessen erscheinenden Situationen werden als störend oder krankhaft aufgefasst. Diese Abweichungen werden in der Psychoanalyse in der Regel als »regressiv« bezeichnet, weil sie Verhaltensweisen betonen, die in einer früheren Entwicklungsperiode, vor allem in der Säuglingszeit, dominieren. Mit dem Schlafbedürfnis wird weiterhin die Bezeichnung »narzisstisch« verknüpft, weil mit dem Schlafen ein Rückzug von der Welt und den äußeren Objekten und eine Hinwendung zu sich selbst und den inneren Objekten verbunden zu sein scheint. Für den Erwachsenen und sein Schlafbedürfnis lässt sich daher postulieren, dass es sich um eine natürliche, narzisstische Regression im Dienste des Ichs handelt, in der eine Erholung von den Mühsalen des täglichen, konflikthaften Lebens gesucht und gefunden wird. Die Frage bleibt, wohin der Schlafende regrediert. Nach meinem Verständnis ist dies eine der wichtigen Fragen für das Verständnis der Müdigkeitsreaktion des Analytikers. Ich frage mich, ob man auf Grund alltäglicher und klinischer Erfahrungen nicht annehmen muss, dass das Schlafbedürfnis und sein Schicksal mit den Erfahrungen der Primärbeziehung (siehe auch G. Knapp, 1988) verknüpft bleibt: mit der Aktivierung des Schlafbedürfnisses findet eine regressive Bewegung in Richtung Primärbeziehung statt, in der bestimmte affektive Bereiche sowohl Voraussetzung für die Befriedigung als auch Befriedigung selbst finden. Knapp erwähnt in seiner Arbeit die Bereiche Aufgehobenheit, Versorgtheit, Vertrauen und Anerkennung. Balint hat dies in einer ähnlichen Formulierung zusammengefasst: »Rückzug und Alleinsein, die als Narzissmus gedeutet werden, zeigen jedoch bei näherer Betrachtung, daß der Schläfer nur versucht, die Last seiner Alltagsbeziehungen abzuwerfen und eine primitivere, befriedigendere Form der Beziehung zu Objekten aufzunehmen, deren Interessen mit den seinigen identisch sind. Beispiele solcher Objekte sind: ein bequemes Bett, das Kissen, das Haus, das Zimmer, Bücher, Blumen, Spielsachen, die Übergangsobjekte (Winnicott) usw. Natürlich sind das alles Repräsentanten oder Symbole innerer Objekte, die ihrerseits aus frühen Umweltbeziehungen stammen, von sättigenden Stillmahlzeiten, warmen, weichen Hüllen, vom Erlebnis, von der Mutter sicher gehalten und geliebkost, gewiegt und in den Schlaf gesungen zu werden (Balint, 1968).« Für den Moment scheint mir folgende Passage zentral: ... »die Last seiner Alltagsbeziehungen abzuwerfen und eine primitivere, befriedigendere Form der Beziehung zu Objekten aufzunehmen, deren Interessen mit den seinigen identisch sind ...« Anders als etwa Lewins These einer oralen Trias aus Verschlingen, Verschlungen werden und Schlafwunsch wird hier das Schlafbedürfnis primär aus einer Beziehungsdynamik geschildert und eine Hierarchie von Beziehungsmodi postuliert. Wendet man diese Aussage auf die Müdigkeit und das darin ausgedrückte Schlafbedürfnis des Analytikers an, könnte man fragen, ob die »Alltagsbeziehung«, von der hier die Rede ist, nicht die professionelle Beziehung zum Analysanden darstellt, die aus bestimmten Gründen für den Analytiker unbefriedigend wird und dass eine andere, primitivere, aber auch befriedigendere Beziehung gewünscht wird, eine Beziehung, in der Identifizierung möglich und dominierend ist. Ich werde später noch ausführlicher auf die Quellen der Unzufriedenheit zu sprechen kommen. An dieser Stelle möchte ich jedoch fragen, ob man nicht nach diesem Verständnis die Müdigkeitsreaktion des Analytikers auch als Wunsch, die professionell-analytische Position aufzugeben, verstehen könnte. In dem vorgestellten Beispiel einer Stunde mit Frau B. trägt die analytisch-therapeutische Position (vor allem eine bestimmte Form des Zuhörens und des Verstehens) nicht zu einem weiteren Verständnis bei, sondern führt beim Analytiker zu einer Situation, in der er unzufrieden und enttäuscht ist und beginnt, sich Selbstvorwürfe zu machen. Er zweifelt an seiner Kompetenz, und die Müdigkeitsreaktion beginnt etwa zu diesem Zeitpunkt. An dieser Stelle kann man die Vermutung, die Müdigkeitsreaktion sei Ausdruck eines Wunsches, die professionelle Position aufzugeben, noch nicht weiter differenzieren. Dazu müssen wir erst genauer untersuchen, was im Einzelnen unter der analytischen Position zu verstehen ist. Dies wird im nächsten Kapitel geschehen. Abschließend möchte ich nur noch einmal auf die in diesem Kapitel anfänglich erwähnte Selbstuntersuchung zurückkommen. Eines der Ergebnisse bestand ja darin, dass ich für mich feststellte, dass Müdigkeitsreaktionen in diskreter Form relativ häufig sind und unabhängig von bestimmten Strukturen der Patienten auftreten. Muss man daraus folgern, dass es generell Impulse des Analytikers gibt, seine analytische Position aufzugeben und sich in eine andere Beziehung zu seinen Patienten zu begeben? Ich hoffe, im Rahmen dieser Arbeit zeigen zu können, dass diese Auffassung tatsächlich berechtigt erscheint. Die Folgen für Theorie, Technik und Praxis der Psychoanalyse sind beträchtlich, wie sich später hoffentlich deutlicher wird zeigen lassen. Schließlich ist noch anzumerken, dass ich mich in der Beschreibung der Müdigkeit und Schläfrigkeit vor allem auf die Beziehungsdimension konzentriere und nicht Fragen der Bewusstseinspsychologie, die mit den verschiedenen Zuständen von Wachheit, Konzentration, Schlaf und Bewusstlosigkeit beschäftigt ist, diskutiere. Eine Folge dieser Fokussierung ist, dass das Phänomen selbst, das hier im Zentrum der Arbeit steht, eher selten und nur punktuell auftaucht, während die gleichsam umgebenden und motivierenden Faktoren stärker in den Vordergrund treten.
Inhalt
Vorwort 7 1. Einleitung 8 2. Das Phänomen 18 3. Die analytisch-therapeutische Position 28 4. Der Beitrag des Patienten 50 5. Der Beitrag des Analytikers 90 6. Der Beitrag der analytischen Situation 119 7. Die »Behandlung« des Phänomens 139 8. Zur Dynamik von Abwesenheit und Anwesenheit 159 9. Schlussbetrachtung oder: Wie man Analytiker bleibt 193 Bibliographie 198 Über den Autor 203 Forbildungsveranstaltungen 204
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