Beschreibung
Rechtspopulistische Parteien verzeichnen bei Wählerinnen und Wählern aus allen Klassen und Schichten der Bevölkerung Erfolge. Gerade bei Arbeiterinnen und Arbeitern stoßen sie jedoch besonders häufig auf Zustimmung. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Gefühle verletzter sozialer Gerechtigkeit und politischer Obdachlosigkeit verbinden sich mit fremdenfeindlichen Ressentiments. Rechte Orientierungen sind auch im Denken gewerkschaftlich organisierter und aktiver Arbeiterinnen und Arbeiter, bei Betriebsräten und ehrenamtlichen Funktionären, weitverbreitet. Das Buch nimmt diese Entwicklung zum Ausgangspunkt.Es versammelt Beiträge, die sich damit beschäftigen, weshalb rechtspopulistische Formationen bei Produktionsarbeiterinnen und -arbeitern überdurchschnittlichen Anklang finden und wie sich dieser autoritären Revolte wirksam begegnen lässt.Mit Beiträgen unter anderem von Brigitte Aulenbacher, Sophie Bose, Annelie Buntenbach, Silke van Dyk, Jörg Flecker, Dora Fonseca, Stefanie Graefe, Wilhelm Heitmeyer, Gudrun Hentges, Arlie Hochschild, Dirk Jörke, Klaus Kraemer, Adam Mrozowicki, Andreas Nölke, Birgit Sauer, Dieter Sauer und Hans-Jürgen Urban
Autorenportrait
Karina Becker, Dr. phil., ist wiss. Geschäftsführerin an der DFG-Kollegforschergruppe »Postwachstumsgesellschaften« an der Universität Jena.Klaus Dörre ist dort geschäftsführender Direktor und Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie.Peter Reif-Spirek ist Sozialwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen.
Leseprobe
Zur Einführung: Arbeiterbewegung von rechts?Karina Becker, Klaus Dörre und Peter Reif-SpirekDie Bundestagswahl im September 2017 markiert eine Zäsur in der politischen Entwicklung der Bundesrepublik. Das traditionelle deutsche Parteiensystem, gruppiert um die zwei großen Volksparteien CDU und SPD, ist in dieser Wahl zusammengebrochen. Für die Partei Alternative für Deutschland (AfD) bedeutete sie den bundesweiten, parlamentarischen Durchbruch. Damit ist jene historische Phase der bundesdeutschen Geschichte beendet, in der Parteien rechts der CDU, zumal mit offensichtlichen Übergangsbereichen zur extremen Rechten, auf nationaler Ebene politisch nicht erfolgreich agieren konnten. "Die Imprägnierungsschicht gegen Rechtsextreme durch die NS-Geschichtsaufarbeitung ist gerissen" (Reinecke 2017), so ein Kommentar unmittelbar nach der Bundestagswahl. Schon lange sind Mentalitäten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechtspopulistische Einstellungsmuster weit verbreitet, wie nicht zuletzt die Langzeit-Untersuchungen Deutsche Zustände von Wilhelm Heitmeyer zeigen. Sie fanden jedoch lange keinen eigenständigen politischen Ausdruck. Das ist nun nicht mehr so. Der Rechtspopulismus hat sich auch in Deutschland auf nationaler Ebene politisch formiert und allein darin liegt bereits ein Moment seiner Radikalisierung.Mit dem Aufstieg einer radikalen Rechten steht Deutschland nicht allein da. In anderen europäischen Staaten hat eine Stärkung rechtspopulistischer und rechtsextremer politischer Formationen bereits deutlich früher stattgefunden. In einigen nordeuropäischen Ländern, in Italien oder in Österreich werden solche Formationen nunmehr als Koalitionspartner demokratischer Parteien akzeptiert. Das ist in Deutschland noch nicht der Fall. Aber schon jetzt gelingt es dem Rechtspopulismus auch hierzulande, das politische Klima zu beeinflussen und die Ausrichtung der anderen Parteien nach rechts zu verschieben. Das ist vor allem in den Auseinandersetzungen zur Migrations- und Flüchtlingspolitik erkennbar.Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in anderen europäischen Ländern spricht derzeit wenig für eine schnelle Rückkehr zu jener demokratischen Stabilität, die einst die Bonner Republik auszeichnete. Vielmehr haben wir uns auf eine langwierige Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus einzustellen. Die politische Agenda des nächsten Jahrzehnts wird in Europa vom Kampf gegen den Rechtspopulismus und die Re-Nationalisierung der Politik geprägt sein.Die Bundestagswahl 2017Neben der FDP war vor allem die AfD die eigentliche Gewinnerin der Bundestagswahl 2017. In den ostdeutschen Bundesländern hat sie insgesamt Ergebnisse einer Großpartei erzielt, in Sachsen ist sie mit 27 Prozent sogar die stimmenstärkste Kraft. Nach den Analysen von infratest dimap haben überdurchschnittlich viele Arbeiter_innen und Arbeitslose (jeweils 21 Prozent) die AfD gewählt, aber auch in anderen Berufsgruppen und bei Wähler_innen im Bereich der mittleren Bildungsabschlüsse konnte sie Stimmen im zweistelligen Bereich für sich gewinnen (infratest dimap 2017). Bei den Gewerkschaftsmitgliedern hat die AfD mit 15 Prozent leicht überdurchschnittliche Unterstützung; bei den Gewerkschaftsmitgliedern im Osten liegt sie mit 22 Prozent gleichauf mit der Linkspartei (DGB 2017). Gerade in den Kohorten, die von Erwerbstätigen geprägt werden, verzeichnet sie Zugewinne, und zwar insbesondere bei den Männern in der Altersgruppe von 25 bis 59 Jahren. Bei den Männern in Ostdeutschland ist die AfD mit 26 Prozent die stärkste Partei - hier erreichte sie 13 Prozentpunkte mehr als bei den Männern im Westen (Welt 2017). Die AfD hat im Vergleich zur vorausgegangenen Bundestagswahl über 3,8 Millionen Wähler_innen hinzugewinnen können, darunter 1,2 Millionen frühere Nichtwähler_innen. Stimmen kamen ebenfalls von der CDU (980.000), der SPD (470.000), der Linken (400.000) und sonstigen Parteien (690.000). 61 Prozent ihrer Wähler_innen geben "Protest" als Wahlmotiv an, zugleich sind aber für 76 Prozent die angebotenen Sachthemen wichtig, während das Spitzenpersonal keine Rolle spielt. Im Vergleich zu anderen Erfolgsgeschichten des europäischen Rechtspopulismus reüssiert die AfD auch ohne Führungsfiguren wie beispielsweise Jörg Haider und Heinz-Christian Strache in der österreichischen FPÖ oder Marine Le Pen im französischen Front National.Verortet man die AfD auf der Landkarte der sozialen Milieus, wird deutlich, dass der Rechtspopulismus ein soziales Mitte-Unten-Bündnis repräsentiert. Im prekären Milieu der Unterklasse hat sie laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung mit 28 Prozent ihr bestes Ergebnis und ihre stärksten Zuwächse. Aber auch im Milieu der Bürgerlichen Mitte (20 Prozent AfD-Zustimmung) und im Traditionellen Milieu (16 Prozent), das Soziallagen der Unterklassen und der Mittelklassen umfasst, hat die AfD überdurchschnittliche Ergebnisse und Zuwächse erzielt. "Damit ist die AfD bei der Bundestagswahl 2017 von unten in die Mitte eingedrungen und hat sich dort als rechtspopulistische Protestpartei der sozial-kulturell Abgehängten und der sich sozial-kulturell bedrängt fühlenden Mitte etabliert", resümieren die Autor_innen Robert Vehrkamp und Klaudia Wegschaider (Vehrkamp/Wegschaider 2017: 60) und ziehen einen interessanten Vergleich zur Bundestagswahl 1998: "Das soziale Profil und Mobilisierungsmuster dieses Schröder/Lafontaine-Effekts [] ähnelt stark dem sozialen Profil und Mobilisierungsmuster des AfD-Effekts bei der Bundestagswahl 2017. In beiden Fällen führten Wahl- und Mobilisierungserfolge in den sozial benachteiligten Nichtwählermilieus zu einer spürbaren Verringerung der sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung" (ebd.: 11).Das Thema Flüchtlingspolitik konnte den Bundestagswahlkampf vor allem deshalb dominieren, weil es sich als ideale Projektionsfläche eignet, um es mit anderen Problemfeldern - von innerer Sicherheit bis sozialer Gerechtigkeit - zu verbinden. Zugleich steht es für das Brüchigwerden klarer Grenzziehungen: In der globalisierten Gesellschaft lösen sich die vormaligen Trennungen von Außen- und Innenpolitik und von nationalstaatlicher Politik zunehmend auf. Die Versprechen des Rechtspopulismus zielen demgegenüber auf die Wiederherstellung der Vergangenheit als Zukunftsprogramm, auf eine imaginierte alte Ordnung, in der es "uns" (verstanden als ethnisch homogenes Wir) noch gut zu gehen schien. In die gleiche Richtung weist der AfD-Wahlkampfslogan "Hol Dir Dein Land zurück". In ihn lassen sich alle Verlustängste projizieren. Die Flüchtlinge sind - wie es Zygmunt Bauman mit Brecht formuliert - die Boten des Unglücks (Bauman 2017: 20). Sie erinnern zum einen an die eigene soziale Verwundbarkeit, die es abzuwehren gilt, sie repräsentieren zum anderen eine zerfallende Weltordnung, welche vielen im globalen Norden eine hegemoniale Lebensweise ermöglicht hat, die global nicht verallgemeinerbar ist (McCarthy 2015: 375). Diese alte Ordnung, deren sozialen Preis andere zu zahlen hatten und haben, droht wegzurutschen. Der Rechtspopulismus ist insofern der radikale Ausdruck und radikalisierender Faktor einer Politik, die vom Elend der Welt nicht berührt sein will. Die Weltpolitik rückt mit den Flüchtlingen gewissermaßen vor die eigene Haustür. Hinzu kommt: Im Osten ist der Geschichtsbruch von 1989 mit seinen Kontroll- und Traditionsverlusten sowie Entwertungserfahrungen längst nicht aufgearbeitet. Medial und politisch wird er ausschließlich mit dem Freiheitsgewinn verknüpft. Dass mit ihm auch soziale Verlusterfahrungen verbunden sind, verbleibt im Bereich des Vorpolitischen. Nun scheint gerade für die älteren Generationen ein neuer Geschichtsbruch zu drohen, gegen den "das Gestern" - ohne die "Zumutungen" ethnischer Vielfalt - wieder als heile Welt erscheint.Der Rechtspopulismus und seine soziale BasisDie wahl- und parteiensoziologischen Befunde im internationalen Kontext bestätigen eine fortschreitende Abkoppelung sozialer Unter- und Arbeiter_innenklassen von ihren früheren politischen Repräsentationsformen. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump verdankt sein Amt nicht allein bürgerlichen Wähler_innen, sondern auch vorwiegend männlichen Produktionsarbeitern aus dem deindustrialisierten rust belt des Landes. Bei seiner Wahl konnte er 10 Millionen Wähler_innen aus dem Gewerkschaftslager für sich mobilisieren - Stimmen, welche die Demokraten in ihrer einstigen Stammwähler_innenbasis verloren haben. Auch die Brexit-Kampagne unter Federführung der rechten UKIP fand überdurchschnittliche Zustimmung in der Arbeiter_innenschaft. In Frankreich erzielt der Front National schon seit den 1990er Jahren Spitzenwahlergebnisse in den ehemaligen Hochburgen der Kommunistischen Partei (PCF). Bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl votierten 86 Prozent der Arbeiter_innen für den knapp unterlegenen FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer, während der SPÖ-Kandidat noch nicht einmal in die Stichwahl kam. Mittlerweile ist die FPÖ auch dank dieser sozialen Verankerung Regierungspartei. Wegen der rechtspopulistischen Erfolge bei den "einfachen Leuten" wird international bereits eine Diskussion um eine "Arbeiterbewegung von rechts" geführt. In ihr geht es nicht zuletzt um die Konsequenzen, die - ehemalige - Arbeiterparteien auf der politischen Linken aus dieser Entwicklung zu ziehen haben.Mit unserem Buch wollen wir in die laufende Debatte intervenieren und dabei sowohl neue Momente des (Rechts-)Populismus auf der konzeptionellen Ebene erfassen als auch deren gesellschaftlichen Ursachen nachgehen. Der im Gange befindliche Umbruch wirft eine Reihe von Fragen auf, die zivilgesellschaftliche Akteure, aber auch Forscher_innen aus den Sozialwissenschaften höchst unterschiedlich beantworten. Handelt es sich bei den rechtspopulistischen Formationen tatsächlich um "Arbeiterbewegungen von rechts"? Oder haben wir es doch mit politischen Akteuren zu tun, die mehrheitlich im Bürgertum und den Mittelschichten verankert sind? Welche Ursachen und Motive sind für den Aufstieg des rechten Populismus verantwortlich? Sind soziale Deklassierung und Deprivation ausschlaggebend? Geht es den Anhänger_innen der Neuen Rechten primär um Besitzstandswahrung? Ist Wohlstandschauvinismus das Hauptmotiv? Und nicht zuletzt: Wie kann dem Aufstieg der Neuen Rechten entgegengewirkt werden? Welchen Beitrag können Gewerkschaften und demokratische Parteien leisten? Die Antwortversuche in den Beiträgen, die dieses Buch versammelt, fallen uneinheitlich und teilweise kontrovers aus. Das ist beabsichtigt. Themen und Autor_innen sind so gewählt, dass ein Debattenspektrum erkennbar wird. Die beteiligten Autor_innen führen eine - wie wir meinen konstruktive - Kontroverse. Aus diesem Grund verzichten wir darauf, den Beiträgen eine umfassende Rechtspopulismusdefinition voranzustellen und belassen es bei einigen einführenden Anmerkungen, die sich schwerpunktmäßig auf das im Buch behandelte Zusammenspiel von sozialer Frage und Aufstieg der radikalen Rechten beziehen.Eine intensive sozialwissenschaftliche Debatte über die Entstehung eines neuen Rechtspopulismus in Europa wurde im deutschen Sprachraum bereits in den 1990er und frühen 2000er Jahren geführt. Das Gros der Autor_innen (vgl. u.?a. Decker 2004; Loch/Heitmeyer 2001; Bischoff u.?a. 2004; Werz 2003) ging davon aus, dass es sich beim Rechtspopulismus um Strömungen, Bewegungen und Parteien handelte, deren Triebkräfte wesentlich in Umbrüchen wurzelten, welche die wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen seit den 1980er Jahren durchliefen. Beim neuen Rechtspopulismus handelte es sich demnach um ein ideologisch, politisch und organisatorisch schwer abgrenzbares Phänomen, obwohl diese Strömungen sich - trotz mancher Kontinuitäten - eindeutig von tradierten Formen des Rechtsextremismus abhoben. Auf der ideologischen Ebene betonten rechtspopulistische Ideologeme die sozialen Pflichten des Einzelnen, lehnten jedoch zugleich bürokratische Bevormundung und kollektiv verordnete "Zwangssolidarität" ab. Die "Haltung der Ehrerbietung" gegenüber den Eliten war ihnen ebenso fremd wie die "Haltung des Mitleids" gegenüber benachteiligten Gruppen (Lasch 1995). Beim Versuch, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Einbindung auszubalancieren, erwiesen sich die Repräsentanten der neuen Formationen häufig als "Pioniere der Ambivalenz" (Decker 2004: 30; Kann 1983: 371), die Affinitäten zu neoliberalen Programmen programmatisch und agitatorisch mit sozialpopulistischen Elementen koppelten. Radikal rechts wurden die populistischen Strömungen durch eine ideologische Figur, die Decker (2004: 31) wie folgt skizzierte:Die Ideologie der neuen populistischen Rechten setzt anstelle der nationalen Überlegenheitsansprüche von einst eine Position des ethnischen und kulturellen Partikularismus, die das Grundrecht auf Verschiedenheit allen Menschen oder Rassen gleichermaßen zuerkennt. Mit dieser Umdeutung, die den Hauptunterschied zum klassischen Rechtsextremismus markiert, verbindet sich eine - auf den ersten Blick - durchaus zeitgemäße Vorstellung von kultureller und politischer Autonomie. Die neue Rechte hat damit die westliche Kolonisierung der dritten Welt ebenso geißeln können wie die Bedrohung der europäischen Zivilisation durch den "Amerikanismus" oder die Unterdrückung von ethnischen und Regionalismusbestrebungen in Europa selbst. Die anti-liberale Kehrseite des Relativismus wird erst offenbar, wenn man seine innerstaatlichen Konsequenzen betrachtet. Die theoretische Neuorientierung des Nationalismus trägt dem Umstand Rechnung, dass die Identitätskrisen heute primär im Inneren der Gesellschaft - infolge von Migrationsbewegungen und einer veränderten Bevölkerungszusammensetzung - entstehen, nachdem sich die Gefahr einer Aggression von außen verflüchtigt hat. In der Abwehr solcher Tendenzen, der Absage an jegliche Form der ethnischen oder geistig-kulturellen Vermischung (und ihrer Idealisierung), liegt die eigentliche Stoßrichtung der neurechten Forderungen. Dem Festhalten an der "reinen Nation" korrespondiert dabei das Konzept eines machtbewussten Staates, der als Träger der Vergemeinschaftung gegen den herrschenden Pluralismus in Stellung gebracht wird.Ethnopluralistische Ideologeme waren das Konstrukt einer intellektuellen Neuen Rechten, die sich im Laufe der Zeit anschickte, mit ihrem Kulturbegriff auch die soziale Frage zu besetzen. Dabei konnte sie an alltagsweltlichen Erfahrungen anknüpfen, die sich aus der Diskrepanz zwischen offiziellem Flexibilisierungsdiskurs und realen oder antizipierten Desintegrations- und Prekarisierungserfahrungen speiste. Arbeiter_innen und Angestellte fühlten sich häufig als Objekt einer marktgetriebenen Flexibilisierung, die sie selbst als Entzug von sozialer und öffentlicher Sicherheit erlebten (Sennett 1998). Für viele schien es nur um den Preis des "sozialen Todes" möglich, sich fremdbestimmten Anforderungen wie der permanenten Flexibilität und Mobilität, der ständigen Anpassung und Umschulungen zu entziehen (Castel 2005: 71). Es war der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel, der den Aufstieg des Front National (FN) ursächlich mit der Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft in Verbindung brachte. Für Castel war die "Wiederkehr der Unsicherheit" eine mächtige Triebkraft für "poujadistische Reaktionen". Der neue Rechtspopulismus habe seine Ursachen wesentlich in Statuskonkurrenzen abstiegsbedrohter Gruppen, die mit dem Mittel des Ressentiments ausgetragen würden:Das Ressentiment als soziale Reaktion auf soziales Leid zielt auf Gruppen im direkten Statuswettbewerb. Es handelt sich um eine Reaktion von Gruppen am unteren Ende der sozialen Leiter, die sich selbst in einer Situation der Deprivation und in Konkurrenz mit anderen, ebenso oder stärker deprivierten Gruppen befinden []. Sie suchen nach Gründen, um ihre Lage zu begreifen, und maßen sich durch Ausländerhass und rassistische Verachtung Überlegenheit an (Castel 2005: 73).Castels Hypothese wurde überaus kontrovers diskutiert und in Deutschland zeigte sich, dass rechtspopulistische Orientierungen in allen Zonen der Arbeitsgesellschaft existierten und sich keineswegs auf prekarisierte Gruppen beschränkten (Brinkmann u.?a. 2006; Dörre u.?a. 2006). Ungeachtet dessen handelte es sich beim neuen Rechtspopulismus schon damals um politische Versuche, in einer globalisierten Welt die soziale Frage als nationale zu rethematisieren und sie gegen die etablierte, vermeintlich problemlösungsunfähige politische Elite zu wenden. Dabei konnten rechtspopulistische Formationen an Deutungsmuster, Wertorientierungen und Interessenkonfigurationen anknüpfen, die erhebliche Schnittmengen mit dem Sozialstaatsbewusstsein sozialdemokratischer und gewerkschaftlich orientierter Arbeitnehmer_innen aufwiesen.Umformungen politischer Orientierungen werden immer dann wahrscheinlich, wenn sich im politischen System gravierende Repräsentationsdefizite bemerkbar machen. Populistische Strömungen sind - in diesem Punkt gleich ob mit rechtem oder linkem Selbstverständnis - immer auch ein Produkt von Krisen des politischen Systems (Priester 2005; 2012). Das Aufkommen populistischer Formationen resultiert aus einem Verschleiß anderer politischer Optionen, das heißt, populistische Strömungen besitzen immer etwas Prozessartiges. Es ist keineswegs ausgemacht, dass sie sich organisatorisch in Parteiform verselbstständigen. Über längere Zeiträume können sie sich in einem Stadium der Latenz innerhalb etablierter demokratischer Parteien und Gewerkschaften entfalten. Offenbar ist in Deutschland ein Zeitpunkt erreicht, an dem eine rechtspopulistische Unterströmung ihre Latenz endgültig abstreift, um als eigenständiger Faktor in das politische Geschehen zu intervenieren. Das nicht nur, weil der Rechtspopulismus sich in Gestalt der AfD als Partei auf dem nationalen Level etabliert hat. Mit Pegida und ihren Ablegern ist er außerparlamentarisch mobilisierungsfähig geworden. Seine Repräsentant_innen verfügen über Geld, Einfluss und allmählich auch über institutionelle Verankerung. Vor allem jedoch durchläuft er in der Parteiform AfD im Schnellverfahren eine programmatische Entwicklung, für die andere rechtspopulistische Parteien in Europa viele Jahre gebraucht haben (Bieling 2017). Von einer ursprünglich marktradikalen, neoliberalen Partei hat die AfD sich mehr und mehr zu einer Formation gemausert, die der politischen Linken und den Gewerkschaften die soziale Frage abspenstig machen will. Der sozialpopulistische Flügel ist vor allem in den ostdeutschen Landesverbänden verankert, die zugleich die innerparteiliche Rechtsentwicklung forciert haben.Die soziale, globalisierungs-, europa- und teilweise kapitalismuskritische Wende des Rechtspopulismus hat eine sozialwissenschaftliche Debatte über deren Ursachen ausgelöst. Wiederum kommt der Anstoß für diese Diskussion aus Frankreich. In seiner autobiografischen Studie "Rückkehr nach Reims" (Eribon 2016) schildert der französischen Soziologe Didier Eribon, wie er sich als junger Mann von seiner Familie und dem Milieu ungelernter Arbeiter_innen mit Bindung an die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) löste, um den Aufstieg durch Bildung zu schaffen. Von Autoritarismus und Homophobie abgestoßen, hatte der junge Homosexuelle mit dem Elternhaus gebrochen. Erst nach dem Tod des Vaters kehrte er zurück und musste feststellen, dass die gesamte Familie, statt links zu wählen, nun für den Front National stimmte.Eribons Studie hat in Deutschland außergewöhnliche Aufmerksamkeit erregt, weil sie zumindest implizit sowohl am wissenschaftlichen als auch am politischen Grundkonsens des Landes rüttelt. Wissenschaftlich macht Eribon die Klassenvergessenheit von Soziologie und Sozialwissenschaften dafür mitverantwortlich, dass es an angemessenen Interpretationen der sozialen Frage fehlt. Seine Kritik zielt auch auf einen Prekarisierungsdiskurs, der unsichere Arbeits- und Lebensformen als Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts diskutiert, ohne dessen Klassenbezug ausreichend zu thematisieren. Entferne man "Klassen und Klassenverhältnisse" aus "den Kategorien des Denkens und Begreifens und damit aus dem politischen Diskurs", verhindere man aber noch lange nicht, "dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben" (Eribon 2016: 122). Politisch behauptet der französische Soziologe eine Mitverantwortung der sozialistischen und sozialdemokratischen Linken am Aufstieg des Rechtspopulismus: "Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von notwendigen Reformen und einer Umgestaltung der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen und sozialem Schicksal, sondern von Zusammenleben und Eigenverantwortung. Die Idee der Unterdrückung, einer strukturierenden Polarität zwischen Herrschenden und Beherrschten, verschwand aus dem Diskurs der offiziellen Linken und wurde durch die neutralisierende Vorstellung des Gesellschaftsvertrages ersetzt" (ebd.: 120). Von den linken Parteien verlassen, wurde die Wahl des Front National für Teile der Arbeiterschaft zu einer "Art politischer Notwehr" (ebd.: 124), provoziert Eribon.Die Behauptung, hinter den Voten für eine rechtspopulistische Formation verberge sich vor allem der Wunsch, das Establishment zu attackieren, was mit Stimmen für die politische Linke nicht mehr möglich sei, hat auch in Deutschland heftige wissenschaftliche und politische Kontroversen ausgelöst. Weitgehend Einigkeit besteht allenfalls darin, dass die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 jenes Ereignis darstellt, das Goodwyn in seiner klassischen Studie zur "Agrarian Revolt in America" (1978) als "populist moment" bezeichnet hat. Eine Repräsentationslücke des politischen Systems, die sich lange vorbereitet hat, ist gewissermaßen akut geworden und hat so den Aufstieg einer populistischen Kraft ermöglicht. Hinsichtlich tiefer liegender Ursachen gehen die Meinungen weit auseinander. Rechtspopulistische Formationen repräsentierten einen Bürgerprotest, der auf Repräsentationsdefizite im politischen System reagiere, eine überfällige Normalisierung des Parteiensystems darstelle und mit der "Funktionslogik pluralistischer Demokratie" (Patzelt 2016: 80) zu befrieden sei, behaupten die einen. Es handele sich um einen Bruch in der politischen Kultur, ja um den "Saatboden für einen neuen Faschismus" (Habermas 2016: 39), entgegnen andere. Wo manche einen kulturellen Konflikt ausmachen, der von den Mittelschichten ausgeht (Koppetsch 2017: 212; Lengfeld 2017), erkennen kontrastierende Deutungen bereits eine Tendenz zu "neuen Arbeiterparteien" (Jörke/Nachtwey 2017: 174), durch die den Habenichtsen ein wirksamer Protest gegen den "progressiven Neoliberalismus" (Fraser 2017) ermöglicht werde. Spaltungslinien seien "weniger in den ökonomischen als in der kulturell-identitären Sphäre" zu verorten (Merkel 2017: 56), lautet die Essenz wichtiger Erklärungsversuche. Es gehe um Spannungen zwischen "kulturellen Klassen", fügen kundige Expert_innen hinzu (Reckwitz 2017: 273ff.).Wie die wissenschaftlichen Diagnosen zum Aufstieg des Rechtspopulismus, so fallen auch die politischen Schlussfolgerungen unterschiedlich, ja mitunter gegensätzlich aus. Klassen- versus Identitätspolitik lautet vordergründig eine Alternative, die sich zahlreiche Stimmen indes keineswegs zu eigen machen möchten. Wissenschaftlicher wie politischer Disput wird, so hoffen wir jedenfalls, auch in den im Buch versammelten Beiträgen sichtbar. Ungeachtet aller Kontroversen taucht in vielen Beiträgen zumindest unterschwellig, mitunter aber auch explizit, eine Frage auf, die wohl nicht abschließend zu beantworten ist. Die Wahlerfolge der AfD waren möglich, obwohl führende Repräsentanten der Partei immer wieder mit einer Relativierung des Faschismus und der Nähe zu extrem rechten Formationen kokettieren. Bei Anhängern der Partei ist die Ablehnung gewaltsamer Systemveränderung, die als latente Option freilich schon vor einem Vierteljahrhundert bei jungen Arbeitern präsent war (Dörre 1994: 181f.), ebenfalls ins Rutschen gekommen (Dörre u.?a. 2018). Kann man unter diesen Bedingungen überhaupt noch von Rechtspopulismus im alten Sinne sprechen? Haben wir es nicht vielmehr mit einer Selbstradikalisierung zu tun, die, um sie angemessen zu bezeichnen, nach neuen Begriffen verlangt? Und schließlich: Wirft diese Selbstradikalisierung nicht auch die dringliche Frage nach angemessenen Gegenstrategien in neuer Weise auf?Die hier in konstruktiver Kontroverse vereinten Autor_innen bearbeiten diese und andere Themen aus unterschiedlichen Perspektiven. Im ersten von vier thematischen Blöcken finden sich Artikel, die den Rechtspopulismus eher konzeptuell und über die Verdichtung empirischer Forschungen angehen. Im Zentrum der Beiträge steht die Frage, wie der Aufstieg der Neuen Rechten und die überdurchschnittliche Sympathie von Arbeiter_innen zu erklären sind. Als Ursachenkomplexe werden unter anderem Gerechtigkeitsprobleme, Rassismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie Haltungen zu Flucht und Migration diskutiert. Schwerpunkt ist die bundesdeutsche Konstellation, die jedoch im Kontext von europäischer Rechter und dem US-amerikanischen Milieu der Tea-Party-Anhänger_innen verortet wird. Im zweiten Teil des Buches sind Studien versammelt, die sich mit völkisch-populistischen Orientierungen in der Arbeitswelt und der Rolle von Gewerkschaften befassen. Diskutiert wird auch, wie eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem radikalisierten Populismus aussehen könnte. Im dritten Teil wird der Blick nunmehr systematisch über den deutschen Tellerrand hinaus auf verschiedene europäische Länder gerichtet. Als kontrastierende Fälle werden rechtspopulistische oder rechtsextreme Formationen in Österreich, Polen und Portugal beleuchtet. Während sie in Polen und Österreich einen Teil der Regierung bildet, ist die äußerste Rechte in Portugal ohne nennenswerte Bedeutung. Die Länderbeispiele geben Aufschluss über politische, soziale und kulturelle Kontextbedingungen, die den Rechtspopulismus befördern oder hemmen können. Im vierten Teil des Buches wird die Kontroverse um Klassen- und/oder Identitätspolitik wieder aufgenommen und ein Überblick über markante Positionierungen im öffentlichen Streit gegeben.Das Buch ist aus der Tagung "Arbeiterbewegungen von rechts?" hervorgegangen (Platzdasch 2017; Blättler 2018), die die DFG-Kollegforscher_innengruppe "Postwachstumsgesellschaften" im Juni 2017 gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen durchgeführt hat. Für ihre Unterstützung und wichtigen Anregungen bedanken wir uns besonders herzlich bei Henri Band, Sophie Bose, Felix Gnisa, Jan-Peter Herrmann, Anna Mehlis, Cora Puk, Ilka Scheibe und Christine Schickert, ohne deren tatkräftige Mitwirkung weder Konferenz noch Buch zustande gekommen wären. Wir vermuten, dass uns die Thematik des Bandes noch lange erhalten bleibt und hoffen deshalb sehr, zur Versachlichung einer Diskussion beitragen zu können, die in Wissenschaft und Gesellschaft mit Recht hohe Wellen schlägt.
Inhalt
InhaltZur Einführung: Arbeiterbewegung von rechts?Karina Becker, Klaus Dörre und Peter Reif-Spirek 9Teil IGrundlagen: Was ist Populismus? Was macht ihn rechts?Warum ist er für die Arbeiterschaft attraktiv?Warum Trump? Fremd in ihrem Land: Interview mit Arlie Russell Hochschild 25Die gespaltene Gesellschaft und die Transformation des Kapitalismus: Über Arlie Hochschilds "Reise ins Herz der amerikanischen Rechten" mit Blick auf die Situation in EuropaBrigitte Aulenbacher 35In der Warteschlange. Rassismus, völkischer Populismus und die ArbeiterfrageKlaus Dörre 49Warum und wie die Linke heute für soziale Gerechtigkeit streiten mussMartin Kronauer 81Die populistische Lücke: Flucht, Migration und Neue RechteGudrun Hentges 101Autoritärer Nationalradikalismus: Ein neuer politischer Erfolgstypus zwischen konservativem Rechtspopulismus und gewaltförmigem RechtsextremismusWilhelm Heitmeyer 117Teil IIEmpirische Befunde: Arbeiter_innen, Autoritarismus, GewerkschaftenRechtspopulismus und Lebenslagen: Das junge Prekariat und die AfDJule-Marie Lorenzen, Denis Neumann, Alexandra Seehaus und Vera Trappmann 137Arbeitsbewegung von links? Gerechtigkeit, Rationalität und Privatismus in der ArbeitsweltHarald Wolf 157Keine Alternative zur Arbeiterbewegung: Die Anziehungskraft der AfD für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen - Eine Herausforderung für GewerkschaftenAnnelie Buntenbach 169Rechtspopulismus, Gewerkschaften und Demokratiepolitik: Soziologische Befunde und transformatorische OptionenHans-Jürgen Urban 183Betriebliche Zustände - Ein Nährboden des Rechtspopulismus? Eine arbeitsweltliche SpurensucheRichard Detje und Dieter Sauer 197Rechtspopulistische Gewerkschaftsaktive: Gesellschaftsbilder und Einstellungsmuster aktiver GewerkschaftsmitgliederSophie Bose, Jakob Köster und John Lütten 211"Klare Kante" gegen rechts? Befunde einer qualitativen Untersuchung zum Umgang der Gewerkschaften mit dem RechtspopulismusSophie Bose 227Teil IIIInternationale Perspektiven: Arbeiter_innen und Rechtspopulismus in EuropaErfolg des Rechtspopulismus durch exkludierende Solidarität?Das Beispiel ÖsterreichJörg Flecker, Carina Altreiter und Saskja Schindler 245Rechtspopulismus in PolenAdam Mrozowicki und Justyna Kajta 257"Die fliegende Kuh": Warum Rechtspopulisten in Portugal nicht Fuß fassenElísio Estanque und Dora Fonseca 271Teil IVKontroversen: Klassen- und/oder Identitätspolitik?Moralisierung und die Instrumentalisierung sozialpsychologischer ErklärungenDirk Jörke 287Symbolische Ökonomie des neuen NationalismusKlaus Kraemer 297Radikaler Rechtspopulismus als männliche IdentitätspolitikBirgit Sauer 313Politische Irrwege beim Umgang mit dem Rechtspopulismus - und eine linkspopuläre AlternativeAndreas Nölke 325Identitätspolitik oder Klassenkampf? Über eine falsche Alternative in Zeiten des RechtspopulismusSilke van Dyk und Stefanie Graefe 337Autorinnen und Autoren 355
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