Beschreibung
Was bedeutet es in unserer Gesellschaft, zu dick zu sein? Die Studie rückt erstmals die Erlebnisse, Perspektiven und Wünsche von Jugendlichen ins Zentrum, die diese Erfahrung täglich machen. Sie zeigt, in welch umfassendem Maß das Dicksein die Lebenswelt der Jugendlichen bestimmt, denn sie werden wie eine soziale Klasse behandelt: die Klasse der Dicken. Die Ursache für ihr Dicksein wird in ihnen selbst gesehen, denn für seinen Körper und damit für gesellschaftlichen Erfolg gilt man heute als persönlich verantwortlich. Diese Sichtweise auf den Körper hat sich fest in die gesellschaftliche Ordnung eingeschrieben. Ihre Legitimität bestreiten die dickeren Jugendlichen keineswegs, im Gegenteil: Sie haben sie selbst verinnerlicht. Dennoch sähe ihre »ideale Welt« anders aus. Darin wären alle gleichberechtigt und hätten gleiche Zukunftschancen, unabhängig vom Aussehen: Dicksein darf nicht mehr das Verhältnis in und zu der Gesellschaft bestimmen. Die Studie basiert auf zahlreichen Gruppeninterviews mit Jugendlichen im Alter von 11 bis 12 und 14 bis 16 Jahren sowie mit Eltern dickerer Jugendlicher und mit Therapeuten.
Autorenportrait
Eva Barlösius ist Professorin für Makrosoziologie an der Universität Hannover. Zu ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehören die Ungleichheitssoziologie und die Soziologie des Essens, die sie in diesem Buch miteinander verbindet.
Leseprobe
Vorbemerkung"Der Körper ist der Nullpunkt der Welt,der Ort, an dem Wege und Räume sich kreuzen."(Foucault 2005: 33)Eine der wichtigsten soziologischen Einsichten ist, dass Begriffe, Bezeichnungen und Benennungen eine soziale Geschichte in sich tragen. Sie sind keineswegs gesellschaftlich neutral, wie ihr Gebrauch oftmals vorgibt. Zu dieser Einsicht gehört, dass die Fähigkeit, sprachliche Repräsentationen zu schaffen, sie öffentlich zu machen und sogar offiziell werden zu lassen, eine außergewöhnliche Macht darstellt. Schließlich kann sie dazu genutzt werden, einen Common Sense über die soziale Welt herzustellen. Auf diesem Weg wird einer Sichtweise gesellschaftliche Zustimmung und im nächsten Schritt gesellschaftliche Verbindlichkeit verschafft (vgl. Bourdieu 1985: 19; Barlösius 2005). Eine solche Macht hat Bourdieu Benennungs- bzw. Repräsentationsmacht genannt.Beim Thema Dicksein ist dieses soziologische Wissen von herausragender Bedeutung, denn das Wort "Dicksein" wie alle anderen Bezeichnungen dieses Phänomens, und noch mehr die Titulierung von Menschen als "dick", liefern mitnichten nur eine Beschreibung. Sie besitzen abwertenden Charakter und transportieren an die so Bezeichneten die Aufforderung, sich und ihren Körper zu verändern. Dies trifft für die Begriffe "Dicksein" und "dicke Person" zu, weit mehr noch für "Fettsein" und "die Fetten", aber ebenso für scheinbar zurückhaltende Bezeichnungen wie "korpulent", "mollig" oder "rund". Auch in Bezeichnungen, die vorgeben, das Phänomen rein medizinisch zu fassen, wie "übergewichtig" und "Übergewicht" oder "adipös" und "Adipositas", ist eingeschrieben, dass es sich um ein Problem handelt, gegen das etwas zu unternehmen sei. Diese Worte geben vor, das Phänomen zu objektivieren, indem sie Dicksein mittels des Körpergewichts und -umfangs physikalisch erfassen. Eine solche Betrachtungsweise sagt aber nichts darüber aus, wie Menschen erfahren, dass sie gesellschaftlich als zu dick gelten, und wie mit Dicksein gesellschaftlich umgegangen wird.Dies spricht gegen einen soziologischen Gebrauch der beiden Begriffspaare. An ihm ist weiterhin auszusetzen, dass die medizinischen Bezeichnungen mit der größten Repräsentationsmacht ausgestattet sind und das Phänomen dementsprechend erheblich mitgestalten. Dies zeigt sich besonders darin, dass sie es auf die gleiche Weise repräsentieren, wie darauf gesellschaftlich reagiert wird, nämlich mit der Feststellung von Therapiebedürftigkeit. Damit verschaffen sie sich ihre eigene Legitimation. Würde die Soziologie die medizinisch legitimierten Begriffe übernehmen, dann würde sie sich dieser Macht bedienen, während ihre originäre Aufgabe doch darin besteht, den gesellschaftlichen Gebrauch von Begriffen, Bezeichnungen und Benennungen zu analysieren. Nimmt die Soziologie diese Aufgabe an, kommt sie nicht umhin, darüber Rechenschaft abzulegen, welche Worte und Bezeichnungen sie gebraucht.Im Jahr 2012 wurde in den USA die Zeitschrift Fat Studies gegründet. In Anlehnung an die Gender- und Race-Studies hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die dominante gesellschaftliche und politische Sprechweise über Dicksein zu kritisieren. Im Editorial wird erläutert, warum die Worte "fat" und "fatness" verwendet und sogar für den Titel der Zeitschrift gewählt wurden (Rothblum 2012). Die "National Association to Advance Fat Acceptance" und andere gesellschaftliche Gruppierungen, die sich zusammengeschlossen haben, um gegen die Ausgrenzung und Stigmatisierung dickerer Menschen zu kämpfen, hätten sich bewusst für die Bezeichnung "fat" entschieden. Analog zu den sozialen Bewegungen für eine gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung von Homosexualität, die die ursprüngliche Beschimpfung "schwul" positiv umgedeutet haben, sei es das Ziel der Zeitschrift, für eine positive Besetzung des Begriffs "fat" zu streiten. Mit Rückgriff auf Norbert Elias kann diese Absicht als Strategie der "Gegenstigmatisierung" verstanden werden (Elias/Scotson 1992). Die Kennzeichnungen "übergewichtig", "untergewichtig" und "normalgewichtig" lehnen die Fat Activists ab, weil hiermit ein körperliches Ideal gesetzt wird: das Normalgewicht. Im Gegensatz dazu streiten sie für die gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung einer großen Varianz von Körpergewichten und -umfängen.Für dieses Buch ist daraus zu lernen, jene Worte und Titulierungen zu verwenden, die Personen, die sich gesellschaftlich als zu dick erfahren, selber gebrauchen, wenn sie über sich und ihren Körper sprechen. Das empirische Material für die vorliegende Studie besteht im Wesentlichen aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen, die sich selbst als zu dick bezeichnen. Die Worte und Begriffe der Jugendlichen sowie ihre Sprechweise über Dicksein werden hier zugrunde gelegt. Es darf angenommen werden, dass die Jugendlichen in ihrem Sprachgebrauch, insbesondere dann, wenn sie von ihren Erfahrungen und Erlebnissen erzählen, darauf achten, missachtende und abwertende Ausdrücke zu vermeiden. Für die Soziologie knüpft sich daran die Zuversicht, sich mittels dieses Sprachgebrauchs von den gesellschaftlichen Zuschreibungen, was Dicksein bedeutet und wie damit umzugehen sei, zu distanzieren.Um ihre Körper zu beschreiben, sagen die Jugendlichen "die Dickeren", "dicker werden" oder "etwas dicker". Die dazu antonymen Begriffe gebrauchen sie, um Körper zu kennzeichnen, die nicht dick sind: Diese nennen sie "die Dünneren", die "irgendwie dünner" oder "etwas schmächtiger" sind. Im vorliegenden Text werden die Selbstkennzeichnungen "die Dickeren" und "dick(er) sein" übernommen, weil davon auszugehen ist, dass diese von den dickeren Jugendlichen als am wenigsten abwertend empfunden werden. Die vergleichenden Bezeichnungen verwenden die Jugendlichen, um die Verschiedenheit der Körper zu charakterisieren. Die Worte "dick" und "Dicksein" nutzen sie dagegen, wenn sie über gesellschaftliche Wahrnehmungen und Umgangsformen mit dickeren Menschen sprechen. Sie haben jedoch keine vergleichbaren körperbezogenen Benennungen für die gesellschaftlichen Haltungen und Behandlungsweisen von dünneren Menschen. Dass solche Bezeichnungen in ihrem Sprachgebrauch fehlen, ist kein Zufall: Die Jugendlichen sind damit vertraut, dass die Charakterisierungen "dünner" und "schmächtiger" nicht der üblichen Wortwahl entsprechen, sondern die Bezeichnung "normal" gebräuchlicher ist. So verwenden die dickeren Jugendlichen, um den gesellschaftlichen Umgang mit den "Dünneren" und "Schmächtigeren" zu beschreiben, Bezeichnungen, die aus dem Wortfeld "normal" und "Normalität" stammen. Diesen Sprachgebrauch übernimmt diese Studie ebenfalls, jedoch ist stets daran zu denken, dass es sich bei dem, was als "normal" gilt, was als "Normalität" angesehen wird, um gesellschaftliche Konstruktionen handelt.DankZuallererst möchte ich mich bei den Jugendlichen bedanken, die durch ihre Bereitschaft, über ihre Erfahrungen mit dem Dicksein zu berichten, die Studie überhaupt erst möglich gemacht machen. Ohne die Klugheit und Tatkraft der Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter wäre dieses Buchs nicht zustande kommen. Mein Dank geht an Grit Fisser, Alexandra von Garmissen, Axel Philipps und Regine Rehaag. Bedanken möchte ich mich weiterhin bei den Studentinnen und Studenten, die im Sommersemester 2014 die Vorlesung "Dicksein" - eine Rohfassung des Manuskripts - kritisch wie ermunternd begleitet haben. Und wie bei fast allem, was ich schreibe, verdanke ich Udo Borcherts einzigartiger und wunderbarer Kommentierung unendlich viel.1.Dicksein: Ein Phänomen sozialer Klasse und gesellschaftlicher Ordnung?Der Titel des Kapitels fordert heraus. Weniger weil er ankündigt, Dicksein als soziales Phänomen zu analysieren. Diese Auffassung ist mittlerweile gesellschaftlich weitgehend anerkannt und entspricht größtenteils der sozialen Praxis. Ungewöhnlich ist eher, Dicksein zu sozialer Klasse und gesellschaftlicher Ordnung in Beziehung zu setzen. Immerhin handelt es sich dabei um (die) zwei Formen sozialer Strukturierung, denen die Soziologie eine die Gesellschaft formende Macht zuerkennt. An dieser Stelle ist freilich sogleich eine Einschränkung vonnöten. Keineswegs wird behauptet, dass Dicksein soziale Klassen sowie deren Verhältnis zueinander und die gesellschaftliche Ordnung strukturiert. Diese makrosoziologische Ebene wird hier nicht berührt. Vielmehr bemühe ich mich in dieser Studie darum, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die sich gesellschaftlich als zu dick erfahren und sich ihr Leben weitgehend als durch ihr Dicksein bestimmt vergegenwärtigen. Diese Erfahrung prägt sowohl ihre Sicht auf ihre sozialstrukturelle Positionierung als auch ihre Wahrnehmung davon, ob ihr Leben als einvernehmlich mit der gesellschaftlichen Ordnung bewertet wird.Ganz ähnlich, wie sich die Prozesse der sozialstrukturellen Positionierung auf gegenseitige Klassifizierungen (Bourdieu) berufen, greifen die Bewertungen "konform" oder "nicht konform" mit der gesellschaftlichen Ordnung auf reziproke Typisierungen zurück (Berger/Luckmann). Die Erfahrung, zu dick zu sein, resultiert aus den gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Umgangsformen mit dem Dicksein. Es handelt sich somit - wie bei den meisten sozialen Phänomenen - um ein relationales Geschehen, was jedoch dadurch, dass der Körper beteiligt ist, oft übersehen wird. Aus der Relationalität ergibt sich jedoch, dass auch diejenigen, die ihren körperlichen Umfang gesellschaftlich als "normal" erfahren und anderen durch ihren Umgang mit ihnen signalisieren, sie seien zu dick, in das gesellschaftliche Geschehen verstrickt sind. Daraus begründet sich die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Dicksein.Der Titel soll aber auch irritieren. Er rückt zwei soziologische Grundbegriffe ins Zentrum, die wie kaum andere für die soziale Strukturiertheit der Gesellschaft stehen. Damit setzt er einen Kontrapunkt zu Beschreibungen, die hervorheben, dass soziale Strukturen porös werden und sich verflüssigen. Entstrukturierung, Entgrenzung, De-Standardisierung, Prekarisierung oder Flexibilisierung und viele andere Kennzeichnungen gehören zu einer Gruppe von Begriffen, die vorwiegend darauf ausgerichtet sind, auf eine Abnahme bzw. auf ein Defizit an sozialer Strukturiertheit aufmerksam zu machen (vgl. Rosanvallon 1995: 209).Vielen dieser Begriffe mangelt es an Präzision, weshalb die Eigenart der Phänomene, die sie erfassen sollen, oftmals unterbestimmt bleibt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass sie zwar Einbußen an Strukturiertheit konstatieren, den inhaltlichen Gehalt dieser Veränderungen jedoch nicht ausreichend qualifizieren (ebd.). Ganz anders sind die beiden hier in den Fokus genommenen Grundbegriffe konzipiert. Sie unterstreichen die (Über-)Macht sozialer Strukturen, oftmals überbetonen sie diese. Am Begriff der sozialen Klasse wurde beispielsweise in der Geschichte der Soziologie bis heute und häufig zu Recht ein geradezu deterministisches Verständnis von Gesellschaft kritisiert (Geiger 1932). Von einem solchen Verständnis des Gesellschaftlichen distanziert sich das Buch ausdrücklich, was im Grunde genommen gegen eine derart zentrale Verwendung des Begriffs "soziale Klasse" spricht.Fürsprache erhalten soziale Klasse und gesellschaftliche Ordnung jedoch von Seiten der Menschen, die gesellschaftlich als zu dick klassifiziert und behandelt werden. Ihre Sichtweisen und Erfahrungen bilden den Ausgangspunkt der gesamten Studie. Soziale Klasse und gesellschaftliche Ordnung transportieren soziale Auffassungen und Praktiken, die (ziemlich genau) den Erfahrungen entsprechen, die dickere Menschen machen, und mit denen entsprechend sozial interagiert wird. Diese Menschen vergegenwärtigen sich ihre sozialstrukturelle Positionierung ebenso wie den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen in einer Art und Weise, als wären sie Angehörige einer sozialen Klasse und "Abweichler" von der gesellschaftlichen Ordnung.Zwei Herausforderungen habe ich mir mit der Überschrift selbst auferlegt. Die erste Herausforderung besteht darin, darauf zu antworten, warum körperliches Aussehen - konkret: dicke Körper - in modernen Gegenwartsgesellschaften zunehmend zur sozialstrukturellen "Klassifizierung" (Bourdieu) und zur "Objektivierung der Abweichung" (Berger/Luckmann) von der gesellschaftlichen Ordnung genutzt werden. Mit dieser Frage möchte das Buch einen Beitrag zu einer soziologischen Gegenwartsdiagnose leisten. Einige Theorien der Intersektionalität, die sich auf die Wechselwirkungen zwischen den Ungleichheitsdimensionen konzentrieren, beziehen in ihre Analyse neben den klassischen Hauptkategorien Klasse, Geschlecht und Rasse auch den Körper ein (z.B. Winker/Degele 2009). Warum der Körper in den letzten Jahren in den Rang einer Hauptkategorie aufgestiegen ist, wird dort jedoch selten gefragt.Die zweite Herausforderung besteht darin, ein Konzept zu entwickeln, mit dem am Beispiel des Phänomens Dicksein untersucht werden kann, wie Prozesse sozialstruktureller Differenzierung und solche der Handlungskoordination und Legitimierung - also die Herstellung und Rechtfertigung gesellschaftlicher Ordnung - ineinandergreifen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass, wenn sich diese Prozesse gegenseitig verstärken und bestätigen, ihnen daraus eine die Gesellschaft formende Macht zuwächst. Dies könnte erklären, warum Menschen, die als zu dick klassifiziert und behandelt werden, diese Erfahrung als bestimmend für ihre Position in und ihr Verhältnis zu der Gesellschaft erleben. Mit anderen Worten: Die Typisierung "zu dick" gibt ihre Ortsbestimmung innerhalb der Gesellschaft sowie ihre Behandlung durch diese an.Von diesen Überlegungen leiten sich drei Forschungsfragen ab, die im Weiteren im Mittelpunkt stehen: Wie erfahren sich Menschen in gesellschaftlichen Interaktionen als zu dick? Wie positionieren sie sich zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Legitimationen, speziell zu jenen, die die Typisierungen, Klassifizierungen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit als zu dick betrachteten Menschen rechtfertigen? Wie deuten die als zu dick typisierten und klassifizierten Menschen diese gesellschaftlichen Erfahrungen?Diese Fragen lassen bereits erkennen, dass soziale Klasse und gesellschaftliche Ordnung hier vor allem im Hinblick auf die Schaffung und Legitimation von Unterschieden und Ungleichheiten betrachtet werden. Aus diesem Grund sind die gesellschaftlich hervorgebrachten und gebrauchten Klassifizierungen und Typisierungen von besonderem Interesse. Erstens, weil für die soziale Klasse mit Pierre Bourdieu davon ausgegangen wird, dass diese aus Prozessen gegenseitiger Distinktion und Exklusion hervorgehen, sprich relational erzeugt werden (vgl. Bourdieu 2001: 172). Aus diesem Grund kommt den praktizierten Klassifizierungen eine enorme Bedeutung zu. Zweitens, weil für die gesellschaftliche Ordnung mit Berger/Luckmann angenommen wird, dass "die institutionale Welt der Legitimation" bedarf, das heißt, sie braucht Weisen ihrer "Erklärung" und Rechtfertigung (Berger/Luckmann 1987: 66). Folglich wird den Legitimationen hier eine besondere Wichtigkeit beigemessen. Genereller formuliert: "Soziale Klasse" und "gesellschaftliche Ordnung" werden hier hauptsächlich auf der Ebene der Repräsentation analysiert. Genau daraus entsteht eine Brücke zwischen beiden Grundbegriffen, weshalb sich ihr Ineinandergreifen untersuchen lässt. Die These einer Brücke zwischen diesen beiden Formen sozialer Strukturierung unterstellt aber keineswegs, dass diese in gleicher Weise gestaltet und gegliedert sind. Man denke beispielsweise an den gesellschaftlichen Umgang mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierungen, der stark mit gesellschaftlicher Ordnung, aber nur bedingt mit sozialstruktureller Strukturierung assoziiert ist. Allerdings basiert diese These auf der Annahme, dass es sich bei den Typisierungen und Klassifizierungen des körperlichen Umfangs - also dick oder dünn - ähnlich wie bei denen nach Geschlecht oder bei ethnischen Unterscheidungen um grundlegende Kategorien handelt. Damit ist gemeint, dass sie sich nicht nur auf bestimmte soziale Prozesse oder Ereignisse beziehen oder nur in einigen sozialen Feldern wirksam sind, sondern breite gesellschaftlich strukturierende Wirksamkeit besitzen.1.1Forschungen zu DickseinDicksein ist seit einigen Jahren omnipräsent: Es wird im Alltag penibel beobachtet, von vielen Institutionen - Kindergärten, Schulen, Ämtern - sorgsam kontrolliert, gesundheitspolitisch debattiert, mittels Präventions- und Interventionsprogrammen bekämpft, medial skandalisiert, in eigenen TV-Formaten zur Unterhaltung präsentiert und vieles mehr. Die Thematisierungen von und Umgangsformen mit dem Dicksein teilen viele Gewissheiten: Es handelt sich nicht nur um ein Gesundheits-, sondern auch um ein Kostenrisiko, das auf lange Sicht die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gefährdet, die gesellschaftliche Solidarität schwächt und sich zu einer Epidemie auswächst. Ein allgemeines Fazit lautet: Dicksein stellt bereits heute ein enormes gesundheitliches und gesellschaftliches Problem dar und entwickelt sich zukünftig zu einem noch größeren. Es ist eine gesellschaftliche und politische Pflicht, diese Entwicklung zu stoppen. Was zu geschehen hat, darüber besteht ebenfalls weitgehend Einigkeit: Dicke Menschen müssen abnehmen. Dazu haben sie ihr Ernährungs- und Bewegungsverhalten nachhaltig zu verändern. Und es sind vorbeugende Maßnahmen vonnöten, die für die Zukunft sicherstellen, dass weniger Menschen zu viel Gewicht haben.Selbstverständlich werden alle diese Aspekte des Dickseins umfänglich beforscht. Die Ursachen wie die Genese von Dicksein, wer besonders betroffen ist und warum, welche Präventionsmaßnahmen geeignet sind, welche Eingriffe scheitern, dieses und vieles mehr sind Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Überwiegend werden diese Themen und Fragen von der Medizin, der Ernährungs- und Gesundheitswissenschaft sowie der Sozialepidemiologie untersucht. Die gesellschaftlichen Thematisierungen und Umgangsformen mit dem Dicksein sowie deren Auswirkungen auf die soziale Praxis werden seit einigen Jahren als Teil des Phänomens begriffen und ebenfalls wissenschaftlich untersucht. Vorzugsweise werden die Thematisierungen und Umgangsformen als Formen der gesellschaftlichen Konstruktion von Dicksein identifiziert und ihre gesellschaftlichen Folgen mit den Konzepten der sozialen Exklusion, Benachteiligung und Stigmatisierung analysiert. Wie die aufgezählten Fachbegriffe anzeigen, handelt es sich dabei zumeist um sozialwissenschaftliche Studien. Oft beziehen sich die Appelle gegen soziale Ausgrenzungen, Abwertungen und Diskriminierungen von dicken Menschen auf sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse. Allerdings kommen die Erfahrungen und Sichtweisen der dickeren Menschen in diesen Arbeiten kaum zu Wort; oftmals sind sie mehr Objekt denn Subjekt der Studien. In diesem Buch soll dagegen ein Perspektivwechsel vorgenommen werden. In den "Fat Studies" haben sich Kritiker der gesellschaftlichen Konstruktionen von Dicksein, insbesondere der darin eingelassenen Abwertungen, zusammengefunden. Sie setzen sich für die gesellschaftliche Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrem körperlichen Aussehen ein. Die "Fat Studies" sehen sich in der Tradition der Gender- und Race-Studies (Rothblum 2012: 3).Seit den 1990er Jahren erlebt Dicksein als Thema auch und insbesondere in den Sozialwissenschaften eine ungeheure Konjunktur und hat sich zu einem eigenen Forschungszweig mit speziellen Zeitschriften entwickelt. Mittlerweile füllen die sozialwissenschaftlichen Publikationen hierzu eine stattliche Bibliothek. Aufgrund dieser Fülle ist es nicht möglich, den gesamten Forschungsstand umfassend wiederzugeben. Ich beschränke mich deshalb darauf, die Forschungsfragen und -ergebnisse vorzustellen, an die diese Schrift anknüpft. Entsprechend der beiden hier in den Mittelpunkt gerückten sozialen Kategorien konzentriere ich mich vor allem auf Arbeiten, die Dicksein mit Bezug auf Prozesse der sozialstrukturellen Positionierung und Benachteiligung (a) und der Stigmatisierung, das heißt der Behandlung von Dicken als "potenzielle Abweichler" von der institutionalen Ordnung (b) untersuchen. Weiterhin werden Analysen der gesellschaftlichen Diskurse über Dicksein und die Legitimierung des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Dicksein (c) vorgestellt. Die letzten beiden Abschnitte präsentieren Studien über Akteure und Experten des Gesundheitswesens (d) sowie über die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Reaktionen der Dicken (e).(a) Sozialstrukturelle Positionierung und BenachteiligungZahlreiche soziologische und sozialepidemiologische Studien haben gezeigt, dass Dicksein mit den jeweils dominanten sozialen Strukturierungsprinzipien wie soziale Klasse, Rasse, ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht stark korreliert (Wardle et al. 2006; Hanson/Chen 2007; Flegal/Troiano 2000; Mensink et al. 2013). Die Wahrscheinlichkeit, dick zu werden, ist zwischen den sozialen Klassen und Schichten, ethnischen und rassischen Herkünften und selbst unter den Geschlechtern ungleich verteilt. Im Allgemeinen gilt: Je niedriger die sozialstrukturelle Position, je größer das Ausmaß ethnischer Abwertung, je gravierender die geschlechtsspezifischen Benachteiligungen, desto höher ist der Anteil der dickeren Menschen in den jeweiligen benachteiligten Gruppen. Besonders eng ist der Zusammenhang von Dicksein und Armut: "Weight is so strongly correlated with income in western nations, being fat is often synonymous with being poor" (Rothblum 2012: 4). In Großbritannien, so Monaghan (2005), verdrängt die öffentliche Debatte über "weight deviants" zunehmend die über die "underclass". Dicksein wird sowohl als Ursache wie auch als Folge sozialer Benachteiligungen interpretiert. Für beide Wirkungsrichtungen finden sich in der Literatur Befunde. Ein geringer sozioökonomischer Status fördert eine Gewichtszunahme, wie umgekehrt Dicksein soziale Benachteiligungen nach sich zieht (Adler/Stewart 2009: 51).Neben sozialstrukturellen Analysen liegen viele Studien über die Benachteiligung von Dicken in einzelnen sozialen Feldern vor, insbesondere in Arbeit und Beruf, Schule und Ausbildung und im Gesundheitswesen (Brewis et al. 2011: 491; Foster et al. 2003; Giel et al. 2010; Li/Rukavina 2009; Puhl/Brownell 2006; Puhl/Heuer 2009). Die Ergebnisse lauten: Dicke Menschen sind im Beruf benachteiligt, erhalten häufig weniger Geld für die gleiche Arbeit, haben höhere Arbeitslosenraten und ein größeres Risiko, entlassen zu werden. Dicksein erweist sich außerdem als Barriere für den Zugang zu bestimmten beruflichen Tätigkeiten. So sind dickliche Männer wie Frauen auf Manager- und hochrangigen Technikerpositionen, aber ebenso in niedrigqualifizierten Berufen mit häufigem Kundenkontakt unterrepräsentiert. Auch in der Schule und in der Ausbildung sind Dicke weniger erfolgreich, und zudem erhalten sie oftmals eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Ihre schulischen, beruflichen und sozialen Chancen sind im Allgemeinen im Vergleich mit Menschen, die nicht als zu dick angesehen werden, verringert (Adler/Stewart 2009: 51).Unter dem Begriff "Body Privilege" - körperliche Privilegierung - finden sich Untersuchungen darüber, dass dickere Personen die geschaffene physische Welt, konkret Stühle und Sessel, Kabinen und Telefonzellen, Gänge und Wege, als eine erleben, die auf dünnere Menschen ausgerichtet ist. Die Gestaltung des öffentlichen Raums nehmen sie als permanente Zurechtweisung wahr, weil diese sie zu "räumlichen Grenzüberschreitungen" nötigt, da sie mehr Platz für sich in Anspruch nehmen, als die material gestaltete Welt für sie vorgesehen hat. Dickere Menschen tendieren deshalb dazu, öffentliche Räume zu meiden, um nicht in Bedrängnis zu geraten, gegen ihren Willen als Platz ergreifend zu wirken. Aus diesem Rückzug resultieren oftmals weitere soziale Benachteiligungen (English 1993; Kwan 2010).
Inhalt
Inhalt Vorbemerkung 7 Dank 11 1. Dicksein: Ein Phänomen sozialer Klasse und gesellschaftlicher Ordnung? 13 1.1 Forschungen zu Dicksein 17 1.2 Der Körper: Öffnung zur sozialen Welt 29 1.3 Perspektivwechsel: Die Sichtweise der"Dicken" 37 1.4 Zur Empirie der Studie: Das Forschungsprojekt 39 2. Soziale Praxis und Allgegenwärtigkeit des Körpers 47 2.1 Typisierungen von Dicksein 51 2.2 Die Allgegenwärtigkeit der Typisierungen 57 3. Zu dick - wie eine soziale Klasse 67 3.1 Theoretische Konzeption: Intersektionalität und relationale Analyse 70 3.2"Objektive" soziale Klasse 75 3.3 Gemeinsam essen - relational betrachtet 78 3.4 Aus der Perspektive der Eltern: Eine Welt der Knappheiten 87 Exkurs: Professionell und extern - Wünsche türkischer Eltern zur Ernährungsumstellung ihrer Kinder 94 3.4.1 Standpunkte der Eltern 96 3.4.2 Das Gespür für die eigene soziale Stellung 100 3.5 Aus der Perspektive der Jugendlichen: Nur der Körper zählt 104 3.5.1 Geschlecht und ethnische Herkunft - aus der Sicht der Jugendlichen nur kleinere Ungleichheiten 110 3.5.2 Objektiv benachteiligt - subjektiv zu dick 114 4. Die"wirkliche" und die"ideale" gesellschaftliche Ordnung dickerer Jugendlicher 119 4.1 Das Schlaraffenland: Die"verkehrte" Welt 125 4.2 Die"verkehrte" gegen die"wirkliche" Welt 128 4.3 Die"ideale" gegen die"wirkliche" Welt 135 5. Moralisch kommunizieren und Moralunternehmer 141 5.1 Moralische Kommunikation - nach Luhmann 142 5.2 Gesunde Ernährung: Alles bekannt und moralisch geschätzt 146 5.3 Stufen der moralischen Kommunikation 149 5.4 Präventionsexperten als Moralunternehmer? 155 6. Gewünschte Lebensbahnen - wie sich dickere Jugendliche ihre Zukunft vorstellen 163 6.1"Erfolgwünsche": Die projektierte Lebensbahn 168 6.2"Dünner werden": Sich Zukunft eröffnen 172 7. Konklusion: Mehrfache Verschiebungen 177 Literatur 195
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Sind die Dicken eine Klasse?
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