Beschreibung
Dass die Lebensmittelindustrie uns nach Strich und Faden betrügt und hintergeht, gehört nach unzähligen Skandalen zum traurigen Allgemeinwissen. Doch die wahren Ausmaße der mafiösen Strukturen hinter unserem Essen sind uns Verbrauchern noch gar nicht bewusst. Marita Vollborn und Vlad D. Georgescu zeigen uns schonungslos, woher unser Essen kommt und welche Risiken es birgt. Und nicht nur das: Sie zeigen uns auch, wie wir uns als Verbraucher wehren können und die Kontrolle über unser Essen zurückerhalten.
Autorenportrait
Marita Vollborn und Vlad D. Georgescu sind Buchautoren sowie freie Wissenschafts- und Medizinjournalisten. Beide kennen die Nahrungsmittelindustrie und ihre Produkte gut: Marita Vollborn war als Lebensmitteltechnologin für einen internationalen Konzern tätig, Vlad Georgescu beschäftigte sich als Chemiker mit Schadstoffen und Belastungssubstanzen.
Leseprobe
Nahrungsmittel als Geschäft"Wer die Nahrungsmittelversorgung kontrolliert,kontrolliert die Menschen. Wer die Energie kontrolliert,kontrolliert die Kontinente. Wer das Geld kontrolliert,der beherrscht die Welt."Henry KissingerDie Lebensmittelindustrie bereits im Titel eines Buches mit dem Begriff Mafia in Verbindung zu bringen mag auf den ersten Blick überzogen erscheinen. Und tatsächlich geht es hier nicht um die klassischen Mechanismen der Organisierten Kriminalität. Steckten sie hinter den von uns beschriebenen Machenschaften, könnten wir uns als Verbraucher wohl eher zurücklehnen - bestünde doch die Hoffnung auf funktionierende staatliche Strukturen, die helfen würden, die unlauteren und illegalen Geschäfte zu torpedieren und zu unterbinden.So aber verbirgt sich hinter der Food-Mafia ein perfides Netzwerk aus Unternehmensvertretern, Lobbyisten, Funktionären und gewogenen Volksvertretern, das mittlerweile weite Teile der Landwirtschafts- und Ernährungspolitik umsponnen hat. Ob Nanofood, Klonfleisch oder die faktisch fehlende Lebensmittelkontrolle, die Food-Mafia bestimmt ohne unser Wissen, was wir essen sollen und was nicht. Dabei nimmt sie die Gesundheitsrisiken der Konsumenten willentlich in Kauf. Und anders als die Akteure der Organisierten Kriminalität tritt die Food-Mafia als Club der Saubermänner in Erscheinung - mit dem Ziel, private und Konzerninteressen mit allen Mitteln durchzusetzen. Denn es geht um sehr viel Geld.Die deutsche Ernährungsindustrie ist mit einem Umsatz von 175,23 Milliarden Euro in 20131 der viertgrößte deutsche Gewerbezweig nach der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der chemischen Industrie. Wachstumstreiber ist mit einem Anteil von 30 Prozent2 das Exportgeschäft; Deutschland ist der drittgrößte Lebensmittelexporteur am Weltmarkt. Unisono erklären Wirtschaftskapitäne und Spitzenpolitiker Wachstum und Export als Stabilisatoren eines konkurrenzstarken Deutschland. Was sie verschweigen, sind die immensen volkswirtschaftlichen Gesamtkosten und die problematischen Auswirkungen der derzeitigen Agrarproduktion, die unaufhaltsam steigen. So muss die EU, allein um ihren Viehbestand zu ernähren, Unmengen an Soja importieren: Sie nimmt damit in anderen Teilen der Welt rund 35 Millionen Hektar in Anspruch, was ungefähr der Fläche Deutschlands entspricht.3 Der hohe Ressourcenverbrauch der Landwirtschaft auch innerhalb der EU-Länder, die Verschmutzung der Umwelt, die industrielle Tierproduktion mit ihren krankheitsanfälligen Hochleistungsrassen und dem massiven Medikamenteneinsatz lassen die gesellschaftlichen Kosten klettern - Kosten, die, wie die Agrarsubventionen, der Steuerzahler zu decken hat. Und doch hat sich die Politik, eigentlich zuständig für den Erhalt von Werten, für den Schutz sozialer und kultureller Standards, für eine Risikominimierung und für Strategien, die eine langfristige Sicherung der Lebensgrundlagen verspricht, sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene in großen Teilen den Interessen der landwirtschaftlichen Großunternehmen und der Ernährungsindustrie verschrieben.Kaum ein anderer Bereich dokumentiert das Versagen der Politik zum Nachteil der Verbraucher derart augenfällig wie das transatlantische Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP), das durchaus geeignet ist, demokratische Strukturen auszuhebeln und gewohnte Qualitätsstandards von Lebensmitteln zu minimieren.Copy& Paste galt nicht nur ehemaligen hochrangigen deutschen Politikern als probates Mittel bei der Erstellung ihrer Dissertationen - Anträge von EU-Abgeordneten entsprechen teils im Wortlaut Lobbypapieren von Firmen und Verbänden.4 Das Übernehmen ganzer Textpassagen in spätere Gesetzestexte garantiert multinational agierenden Unternehmen das Ausräumen etwaiger Unwägbarkeiten und rückt sie dem Ziel der Gewinnmaximierung um jeden Preis ein ganzes Stück näher. Solche Gesetze, die Privatinteressen zu juristischen Verbindlichkeiten festzurren, betreffen mehr als 505 Millionen EU-Bürger und schaden dem so gerne beschworenen Bild einer demokratisch regierten Europäischen Union.Nicht nur in Deutschland und Europa, auch weltweit fordert die unfaire Ausgestaltung der EU-Agrarpolitik mit ihrem Fokus auf die Steigerung der Produktivität und des Exports zahlreiche Opfer. Subventionen werden ineffektiv verteilt - das Gemeinwohl und der Umweltschutz spielen nur eine untergeordnete Rolle. Hohe Zuschüsse erhalten nach wie vor besonders jene Betriebe, die aufgrund ihrer Größe, ihres Technisierungsgrades oder ihrer Spezialisierung auch ohne Beihilfen überleben könnten; bestehende Ungleichgewichte werden somit nicht ausgeglichen, sondern verstärkt. Darüber hinaus stören subventionierte Exporte die Weltmärkte. So verschärfen sich die Probleme, die mit dieser einseitigen ökonomischen Ausrichtung der eigentlich multifaktoriellen Landwirtschaft verbunden sind:5 Das Höfesterben setzt sich unvermindert fort, das Einkommen eines europäischen Landwirts beträgt durchschnittlich nur noch 33 Prozent des eines Arbeiters6, die Beschäftigungszahlen in der Landwirtschaft schwinden so kontinuierlich wie die Erzeugerpreise für Agrarprodukte, die Massentierhaltung fordert ihren Tribut, Umweltprobleme wie das Schrumpfen der Artenvielfalt, die mangelnde Qualität von Oberflächengewässern und der Rückgang der Bodenfruchtbarkeit nehmen zu, Verbraucherinteressen nehmen Schaden, und statt Hunger und Armut in der Welt zu bekämpfen, zerstört die Agrarpolitik der EU die Existenz zahlreicher Bauern in den Entwicklungsländern, weil diese ihre Erzeugnisse nicht zu jenen Preisen der aus Steuermitteln finanzierten europäischen Dumpingprodukte anbieten können.Natürlich stellt sich bei all dem die Frage, inwiefern es gerechtfertigt ist, den Ernährungssektor mit derart hohen steuerfinanzierten Summen zu subventionieren, zumal nicht deutlich wird, welche gesellschaftliche Leistungen er erbringt. Allein 2013 vergab die EU insgesamt 6,2 Milliarden Euro Direktzahlungen, darunter wiederum an umstrittene Firmen wie den Chemieriesen BASF, die Energiekonzerne Eon und RWE sowie den Panzerbauer Rheinmetall.7 Und wieder kassierten die Größten am meisten: die Agrargenossenschaft Rhönperle (Thüringen) etwa drei Millionen Euro, ebenso wie einer der großen deutschen Eierproduzenten, der Spreenhagener Vermehrungsbetrieb für Legehennen. Außerdem durften sich Zuckergigant Südzucker über mehr als zwei Millionen Euro und das Deutsche Milchkontor, stärkster deutscher Molkereikonzern, über 700000 Euro freuen.8 Zwei Prozent aller Betriebe verwöhnte die EU mit 30 Prozent der Gesamtsumme; drei Viertel aller Subventionsempfänger mussten sich mit erheblich weniger zufrieden geben - etwa 290 Euro pro Hektar.9 Nicht mehr als "eine Art Hartz IV für Bauern"10 sind die Subventionen für kleinere Betriebe. Die Einführung einer Obergrenze für die Flächengröße, ab der keine EU-Mittel mehr gewährt werden, lehnte die EU ab, sodass vor allem Besitzer großer Flächen mit über tausend Hektar profitierten. Doch welchen Beitrag leisten die Nutznießer der Steuermittel zur Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme, an denen sie überdies eine Mitverantwortung tragen? Und: Bekommen die Verbraucher im Gegenzug die Art von Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung, die sie wollen?Angst, Verunsicherung und Täuschung sind die Mittel, die die Interessenvertreter des Agrobusiness nutzen, um ihre Ziele der Profitmaximierung und der Rechtfertigung des bestehenden Systems durchzusetzen. Sie suggerieren Verbrauchern, dass nur die aktuelle Lebensmittelerzeugung mit ihrer zweifelhaften Wachstums-Vigilanz den Lebensstandard halten und weiter steigern kann. Andernfalls drohten Preisanstieg, Versorgungsnot und, infolge der nachlassenden Wirtschaftsleistung Deutschlands, Einkommens- oder gar Arbeitsplatzverlust. In Anbetracht solcher Szenarien fügen sich viele Konsumenten und nehmen in Kauf, was sie im Gros doch ablehnen. Findige Marketingstrategen der Agrar- und Lebensmittelindustrie haben längst einen Weg gefunden, diese Ambivalenz im Sinne der Unternehmen aufzulösen. In Fernsehspots und Hochglanzanzeigen malen sie das Bild der perfekten Idylle, um ihre industriell erzeugten Produkte an den Mann oder die Frau zu bekommen: Da weiden glückliche Milchkühe auf kräutersatten Blumenwiesen, rühren Dorfschönheiten in fruchtstrotzenden Joghurtcremes oder werkeln putzige grüne Zwerge zwischen Wäldern an knallgrünen Erbsenschoten; die Zusatzbezeichnung "Land" für Milchprodukte, Wurst oder Käse hat Hochkonjunktur. Diese Strategie der Irreführung wird politisch nicht nur geduldet, sondern auch unterstützt. So erlaubt die beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) angesiedelte staatliche Lebensmittelbuch-Kommission, in der neben Vertretern aus der Lebensmittelüberwachung, aus Wissenschaft und Verbraucherorganisationen auch solche aus der Lebensmittelbranche sitzen, derartige Produktbezeichnungen. Entsprechend dürfen nach wie vor Teeverpackungen mit Mirabellen oder Birnen bedruckt werden, obwohl sie nicht die Spur dieser Früchte enthalten, darf Zitronenlimonade so heißen, auch wenn sie keine Zitrone enthält, und darf "Alaska-Seelachs" lediglich aus gefärbtem Lachs-Ersatz bestehen.11Zahlreiche, vor allem konservative und liberale Politiker fühlen sich nach wie vor den finanzstärksten und einflussreichsten Unternehmen und Verbänden verpflichtet: unter anderem dem Deutschen Raiffeisenverband (DRV) und dem Deutschen Bauernverband (DBV). Damit sichern sie sich nicht nur einen erklecklichen Nebenverdienst, sondern verschaffen der Agrarindustrie Gehör und Einfluss auf höchster politischer Ebene. Ohnehin ist der Deutsche Raiffeisenverband (DRV) auf dem besten Wege, den gleichen massiven politischen wie wirtschaftlichen Einfluss zu gewinnen wie sein Pendant in Österreich schon heute besitzt, wo er bereits demokratiegefährdende Strukturen aufweist.Die Ernährungswirtschaft fürchtet zu Recht den Konsumenten als Wolf im Schafspelz: Er hat die Macht, eine Agrarwende herbeizuführen und die Industrie zum Einlenken zu bewegen. Daher ist dieses Buch auch ein Buch für engagierte Menschen: Wir zeigen Beispiele, wie man sich gegen die Food-Mafia wehrt - und warum es wichtig ist, über die Änderung seines Kaufverhaltens hinaus für einen Wandel in der Lebensmittelproduktion zu kämpfen.1 Unersättliche KonzerneWer George Orwells Roman 1984 kennt, der dürfte sich angesichts der fortschreitenden Oligopolbildung in der Lebensmittelbranche an den "Großen Bruder" erinnert fühlen. Allerdings ist im Gegensatz zu Orwells erdachten Auswüchsen einer Schicksal spielenden gesellschaftspolitischen Allmacht unsere heutige Welt durch mehr oder weniger freiwillige Realitäten gekennzeichnet, die wohl auch der Schriftsteller nie für möglich gehalten hätte: auf der einen Seite die bis zu einer wirtschaftlichen Exekutive wuchernde Präsenz global agierender Konzerne, auf der anderen Seite der zu Wachstumshörigkeit erzogene Konsument, der seinem Kauflaster freudig durch Schnäppchenjagden frönt und weder die Entscheidungen seiner gewählten Volksvertreter noch jene der Wirtschaftsbosse und Verbandsfunktionäre infrage stellt. Denn längst geht es nicht mehr nur um einzelne Unternehmen, deren Geschäftspraktiken fragwürdig sind, sondern um Monopolisten, die in einem weltweiten Netzwerk von Tochterunternehmen und Beteiligungen versponnen sind und sich über alle Branchengrenzen hinweg einverleiben, was Maximalprofite verspricht, ohne je für die negativen Begleiterscheinungen dieser ressourcenfeindlichen Expansion zur Rechenschaft gezogen, geschweige denn zur Kasse gebeten zu werden.Die enorme Markenvielfalt in den Supermarktregalen täuscht darüber hinweg, dass die gesamte Nahrungsmittelkette längst ein Opfer der Monopolisierung geworden ist. Eine Studie der OECD kam bereits 2003 zu dem Schluss, dass in Zukunft "nur vier oder fünf Supermarktketten international tätig sein" und "20 bis 25 multinationale Unternehmen den Lebensmittelsektor weltweit dominieren" werden.12Beherrschen einige wenige Unternehmen den Markt, schränkt das auch die freie Wahl der Verbraucher ein: Weil er keine Unterschiede innerhalb der Produktgruppen feststellen kann, wird er auch nicht nach bestimmten Kriterien wie Herstellungsmethoden, Zutaten, Umwelt- oder Tierwohlaspekten auswählen können. Verschleiern gehört zu einer der wesentlichen Strategien der Branche. Obwohl sie das Gegenteil beteuern, haben die Konzerne keinerlei Interesse an gut informierten Konsumenten. Schließlich verdienen sie ihr Geld mit dem Versprechen der Gaumenfreuden ohne Reue und ohne negative Folgen: Pro Jahr setzen beispielsweise allein Nestlé, Unilever, Danone, Friesland/Campina und der Fleischkonzern Vion zusammen 140 Milliarden Euro um.13 Oxfam, ein Verbund aus verschiedenen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, der sich für eine gerechtere Welt ohne Armut einsetzt, errechnete für die zehn weltgrößten Lebensmittel- und Getränkehersteller14 Einnahmen von zusammen mehr als 1,1 Milliarde Euro pro Tag. So kann sich Coca Cola rühmen, dass in jeder Sekunde 19400 Softdrinks konsumiert werden.15Die Politik macht sich immer häufiger zum Büttel der Großindustrie, ob durch entsprechende Entscheidungen oder durch die freigiebige Vergabe von Subventionen. Beispielsweise zählen zu den größten Profiteuren von Exportsubventionen Zucker-, Milch-, Fleisch- und andere Lebensmittelkonzerne wie Vion (6,7 Millionen Euro), Südzucker (35 Millionen Euro), August Storck (3,3 Millionen Euro), Tönnies-Fleisch (2,7 Millionen Euro), Nordmilch (1,8 Millionen Euro), Kraft Foods (250000 Euro), Zott und Nestlé (je 250000 Euro) sowie das unter anderem in der Verwertung pflanzlicher und tierischer Restprodukte tätige Familiengroßunternehmen Rethmann (2,6 Millionen).16 Statt die Millionen an Steuergeldern Millionären zu schenken, könnte sich die Politik für eine grundlegende Umverteilung von Agrarsubventionen einsetzen, um die Landwirtschaft umweltfreundlicher und die Tierhaltung artgemäßer zu gestalten und dafür zu sorgen, dass Bauernhöfe mit vielen Arbeitsplätzen überlebensfähig bleiben.Ohnehin bewegen sich Lebensmittelkonzerne oft auf moralisch wie ethisch dünnem Eis. Immer wieder werden sie von Verbraucherschützern wegen ihrer aggressiven Werbung gerügt oder aufgerufen, sich mehr und ehrlicher um gesundheitliche Aspekte in der Nahrung zu kümmern. Der Grat zwischen Übertreibung und Irreführung ist oft sehr schmal; besonders umstritten sind gesundheitsbezogene Werbeaussagen und das Umgarnen von Kindern. Vor allem die rapide Ausbreitung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Schlaganfall, bestimmten Krebsarten und Herzkrankheiten, die eine starke ernährungsphysiologische Komponente haben, bereitet Medizinern zunehmend Sorgen und belastet die Gesundheitssysteme. Grund genug für ein internationales Wissenschaftlerteam, die Zusammenhänge zwischen Konsum und Krankheit zu untersuchen. Jüngsten Schätzungen zufolge starben 2010 34,5 Millionen Menschen an nichtübertragbaren Krankheiten, bis 2010 könnten es bereits 50 Millionen Tote sein. In ihren Ergebnissen, die sie im renommierten medizinischen Fachblatt The Lancet veröffentlichten, kommen die Forscher zu dem Schluss, dass internationale Lebensmittelkonzerne mit ihren Produkten als maßgebliche treibende Faktoren für diese Epidemie mitverantwortlich sind, während sie gleichzeitig vom steigenden Verbrauch dieser ungesunden Nahrungsmittel profitieren. Die Lebensmittelindustrie als "Menschen-Mäster"? Das Urteil der Forscher ist eindeutig: Die Konzerne untergraben systematisch die Gesundheitspolitik und wenden die gleichen Methoden an wie die Tabakindustrie.17 Sie erklären die bisherige Strategie der Selbstverpflichtung und Aufklärung für gescheitert. Auch mit den Großkonzernen über Obergrenzen von Zucker, Fett und Salz in ihren Produkten zu verhandeln halten sie für sinnlos: "Eine Selbstverpflichtung ist, als würden Sie Einbrecher damit beauftragen, ein Türschloss einzubauen", schreiben sie.18Als es 2010 darum ging, europaweit Produkte hinsichtlich ihres Zucker-, Fett- und Salzgehalts mithilfe einer Lebensmittel-Ampel klar zu kennzeichnen, setzte sich die Industrie durch. Das EU-Parlament knickte ein und votierte gegen die Ampel, obwohl es sich dabei um ein leicht verständliches System handelte: Grün sollte dem Verbraucher zeigen, dass wenig Zucker, Fett oder Salz enthalten sind, gelb sollte für einen mittleren und rot für einen hohen Gehalt stehen. 2009 hatten die gesetzlichen Krankenkassen die Bundesregierung und die zuständigen EU-Parlamentarier in einem Brief aufgefordert, sich für das Ampel-System stark zu machen: "Die Intransparenz über die Zusammensetzung eines ständig wachsenden Lebensmittelangebots und die hinzukommenden irreführenden Werbeversprechen der Hersteller konterkarieren unser Engagement für einen gesunden Lebensstil", schrieben sie in einem offenen Brief.19 Als wirkungsvoller als eine Gesundheitsreform schätzte die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) die Lebensmittel-Ampel ein. Sie hatte Eltern nach ihrem Wissen über Getränke befragt und festgestellt, dass nur knapp ein Viertel den Zuckergehalt von Cola und anderen Softdrinks korrekt beurteilte. Auch wünschten sich mehr als 90 Prozent aller Eltern eine einfache Kennzeichnung, um auf den ersten Blick erkennen zu können, was gut für ihre Sprösslinge ist. Allein in Deutschland verursachen ernährungsbedingte Krankheiten 70 Milliarden Euro pro Jahr, gab die AOK zu bedenken. Wenige Monate nach den Krankenkassen ersuchten auch der deutsche Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie die Vereinigung der europäischen Kinderärzte bei den Politikern um ihren Einsatz im Dienste der Gesundheit: "Wir bitten Sie dringend, nicht nur die Interessen der Nahrungsmittelindustrie zu unterstützen."20 Doch umsonst - die Konzerne trugen den Sieg davon. Wieder einmal hatte sich für sie der massive monetäre Einsatz gerechnet: Eine Milliarde Euro hatte die Branche nach eigenen Angaben in den Feldzug gegen die Ampel gesteckt. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP hatten die Argumente der Industrie sowohl in den internen Verhandlungen als auch in den Ausschusssitzungen permanent wiederholt21; die Berichterstatterin Renate Sommer (CDU/EVP) hatte die Argumentationslinie der Industrie fast im Wortlaut übernommen.22 Das verwundert nicht weiter, betrachtet man die Front an Lobbyisten, die in Brüssel für die Sache ihrer Brötchengeber kämpft: 15000 bis 30000 Mann zählt das Lobby-Heer, was bedeutet, dass auf einen EU-Parlamentarier zwischen 20 und 40 Lobbyisten kommen.23 Siebzig Prozent davon vertreten die Interessen von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden. Sie bezahlen nicht nur professionelle Lobbyagenturen dafür, in die Politik einzugreifen, kritisiert der gemeinnützige Verein LobbyControl, auch genießen sie privilegierte Zugänge zu den Kommissaren, beeinflussen Richtlinien, bevor diese überhaupt entstanden sind, und überhäufen die Abgeordneten mit ihren Änderungsanträgen für Gesetzesvorlagen. Zu den bewährten Mitteln zählen neben der Inanspruchnahme spezialisierter Anwaltskanzleien die sogenannten "Denkfabriken" ("Think Tanks"), Institutionen also, die durch Erforschung und Bewerbung bestimmter Konzepte und Strategien Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen. Solche "Denkfabriken", die als Stiftung, Verein, GmbH oder informelle Gruppe organisiert sein können, beschäftigen helle Köpfe: Fachleute aus den jeweiligen Bereichen, darüber hinaus Werbe- und Kommunikationsprofis. Eine bekannte "Denkfabrik" der Lebensmittelindustrie auf europäischer Ebene ist zum Beispiel das European Food Information Council.24 Für die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt ist besonders das Subtile am Lobbyismus kennzeichnend: Sich die Gunst von Politikern und Journalisten zu erkaufen gehöre ebenso dazu, wie einzelne Experten bis hin zu ganzen Kommissionen zu stellen. Dass der in barer Münze veräußerte Sachverstand von Eigeninteresse geleitet ist oder dass das staatliche Interesse mit dem privaten Interesse von Unternehmen gleichgesetzt wird, führten dazu, dass es immer undurchsichtiger werde, wer eigentlich der Urheber welcher Gesetzesentwürfe ist.25Wenn es ums große Geldverdienen geht, greifen Konzerne mitunter auch zu gesetzeswidrigen Praktiken. Nur selten werden solche Methoden publik - und falls doch, handelt es sich meist um Insiderinformationen. So geschehen 2011 und 2013, als Großunternehmen der Lebensmittelbranche Preisabsprachen getroffen hatten und erwischt wurden. 2011 hatten dem Bundeskartellamt zufolge Dr. Oetker, Kraft und Unilever durch einen unzulässigen Informationsaustausch den Wettbewerb unter anderem bei Süßwaren, Speiseeis und Tiefkühlpizza beeinträchtigt: Über Jahre hinweg hatten sich Firmenvertreter in einem regelmäßig stattfindenden Gesprächskreis getroffen, um sich gegenseitig über den Stand und den Verlauf von Verhandlungen mit großen Einzelhändlern auszutauschen. Dabei seien auch beabsichtigte Preiserhöhungen zur Sprache gekommen - Grund für das Kartellamt, Bußgelder in Höhe von 38 Millionen Euro zu verhängen. Als Kronzeuge trat der Süßwarenhersteller Mars auf.26 Im Zuge der Ermittlungen wurden die Kartellwächter offenbar noch bei anderen Firmen fündig, denn zwei Jahre später verhängte die Behörde Bußgelder in Höhe von 60 Millionen Euro gegen elf weitere Unternehmen, darunter die großen Süßwarenhersteller Nestlé ("Kitkat", "Lion"), Kraft Foods ("Milka", "Toblerone"), Haribo und Ritter Sport sowie gegen Mitglieder des Arbeitskreises Konditionenvereinigung des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie. "Statt einer unternehmerischen Lösung entschied man sich für ein illegales Vorgehen", kommentierte das Kartellamt die Preisabsprachen.27Es gibt nichts, das man nicht kaufen kann - am allerwenigsten Meinung. Das machten die Lebensmittelgiganten 2012 in den USA vor, als sie Agrarkonzerne ins Boot holten, um gegen die Kennzeichnung von Gentech-Zutaten in den USA zu Felde zu ziehen. Während die Gegner lediglich mit einem Budget von acht Millionen US-Dollar aufwarten konnten, ließen es sich Nestlé, Coca Cola, PepsiCo, Monsanto, BASF, Bayer und andere rund 40 Millionen US-Dollar kosten, die Bevölkerung vor einer Kennzeichnung des Genfood zu warnen: Die Lebensmittel würden erheblich teurer werden, weil die Verbraucher den höheren Aufwand für eine Trennung von gentechnisch veränderten und konventionellen Nahrungsmitteln bezahlen müssten - und das, obgleich die Produkte völlig unbedenklich wären.28 Die aggressive Medienkampagne brachte in Kalifornien den erhofften, wenn auch knapp errungenen Erfolg. Dort stimmten 47 Prozent der Bevölkerung für eine Kennzeichnung, 53 Prozent sprachen sich dagegen aus. Nichtsdestotrotz einigten sich ein halbes Jahr später Republikaner und Demokraten im Bundesstaat Connecticut darauf, eine Gentech-Kennzeichnung einzuführen. Allerdings wird das Gesetz nur dann in Kraft treten, wenn noch mindestens vier andere Bundesstaaten ein ähnliches Gesetz erlassen - eine Hintertüre für die Unternehmen also und für die Politiker eine Möglichkeit, dennoch ihr Gesicht zu wahren. Denn Umfragen in den USA zufolge sind 72 Prozent der Bürger für eine Kennzeichnung29, ein klares Votum gegen Gentech im Essen. Falls das Gesetz umgesetzt werden sollte, wäre Connecticut der erste US-Bundesstaat, der auf Produkten mit gentechnisch veränderten Zutaten den Zusatz "Produced with Genetic Engineering" vorschreiben würde. Im November 2013 schließlich folgte eine Abstimmung im US-Bundesstaat Washington nach ähnlichem Muster wie zuvor schon in Kalifornien und Connecticut. Bis wenige Tage vor dem Entscheid hatten die Befürworter der Label it-Initiative vorn gelegen, doch die Geldwelle von Monsanto, DuPont Pioneer, Dow AgroScience, Bayer CropScience und anderen überrollte die Argumente der Gegner: 22 Millionen US-Dollar hatten die Konzerne in die Anti-Label-Kampagne gepumpt; acht Millionen konnten die Fürsprecher aufbringen. Hätten die Konzerne unterlegen, wäre wohl eine USA-weite, verpflichtende Kennzeichnung unausweichlich gewesen.30Die Volksentscheide in den USA zeichnen ein ganz anderes Bild, als es europäische Medien gerne kolportieren: Ganz offensichtlich ist ein großer Teil der amerikanischen Verbraucher nämlich keineswegs eine tumbe Masse konsumsüchtiger Schwergewichtler, sondern durchaus kritischen Denkens fähig und nicht gewillt, sich von Nahrungsmittel- und Agrokonzernen Kaufentscheidungen diktieren zu lassen. Das Thema ist stark ins Bewusstsein der amerikanischen Esser gerückt und lässt sich nicht mehr ignorieren. Es ist durchaus denkbar, dass andere Supermarktketten nachziehen, nachdem die weltweit größte Öko-Kette Whole Foods angekündigt hatte, bis 2018 eine Gentech-Kennzeichnung für ihr gesamtes Sortiment einzufordern.Die Saatgut- und Food-Multis setzen alles daran, Konsumenten die Augen zu verbinden und über die Gefahren der Gentechnik den Mantel des Schweigens zu decken (siehe Kapitel 4). Ihr Etappensieg in den USA kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihnen überall auf der Welt ein scharfer Gegenwind entgegenbläst. Dass dieser nicht nur an ihrem Sauberkeits-Image rüttelt, sondern auch an ihrer Omnipotenz zweifeln lässt, zeigen schon die mächtigen Allianzen, derer sich die Konzerne bedienen müssen, um gegen "Verbrauchers Wille" vorzugehen. Heute sind es 64 Länder, für die sie ihre Export-Lebensmittel mit einem entsprechenden Label kennzeichnen müssen, falls sie gentechnisch veränderte Zutaten enthalten - und morgen?Verbraucherschutz adeTransatlantisches Freihandelsabkommen: Konzerninteresse contra VerbraucherrechteÖffentlichkeit unerwünscht: Schon das sollte skeptisch stimmen. Hinter verschlossenen Türen verhandeln allein Privilegierte über das Transatlantisches Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investement Partnership, TTIP) zwischen der EU und den USA. Sechzig Experten sollen zu den Gesprächsrunden in Brüssel geladen sein. Wer diese Leute sind und nach welchen Kriterien sie ausgesucht wurden, erfährt offiziell niemand. "Wir wissen aus internen Dokumenten der Europäischen Kommission, dass sie sich in der wichtigen Phase der Verhandlungsvorbereitung fast ausschließlich mit Konzernen und ihren Lobbygruppen getroffen hat", sagt Pia Eberhard von der Gruppe Corporate Europe Observatory,31 die sich die Überwachung von Lobbyisten zum Ziel gemacht hat. Geheimniskrämerei ist oberstes Gebot. Einem Beschluss32 der EU-Kommission zufolge sind alle Verhandlungsleitlinien "EU-restricted", was bedeutet, dass nur oberste Bundes- und Landesbehörden darauf zugreifen dürfen.33 Ausgeschlossen hat der Rat auch, dass die Öffentlichkeit informiert werden darf. Nur wenn er sich eines anderen besinnt und einstimmig für die Veröffentlichung votiert, können Bürger wie Parteimitglieder oder Wissenschaftler Kenntnis erhalten.34 Eine solche Entscheidung lässt allerdings bislang auf sich warten, und auch die Bundesregierung, die sich durchaus für Transparenz einsetzen könnte, scheint keinerlei Interesse daran zu haben, sich in die Karten schauen zu lassen. Öffentlich gibt sich die EU als Verteidigerin Europas, erkennt aber ihren Bürgern Mündigkeit ab. Ein solches Vorgehen belastet das Vertrauen der Bevölkerung sowohl in die Regierungen als auch in die EU, erweckt es doch den Eindruck einer Hinterzimmerpolitik, die sich den Argumenten von Lobbyisten öffnet, jenen der NGOs und Bürgern aber verschließt. Stattdessen werden Bekenntnisse allgemeiner Natur und Durchhalteparolen verbreitet: Propaganda, die das Ganze in keinem besseren Licht erscheinen lässt. So wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht müde, vor einem Scheitern des TTIP zu warnen.35 "Ein solches Freihandelsabkommen wäre ein Riesenschritt nach vorne, der auch Wachstum in allen Bereichen fördern und neue Arbeitsplätze schaffen würde", wird sie auf den Seiten der Bundesregierung zitiert36, "Deshalb haben wir uns vorgenommen, diese Verhandlungen schnell zu beginnen und auch sehr ambitioniert zu führen." Das TTIP soll die größte Freihandelszone der Welt schaffen. Der Handel zwischen den Staaten soll erleichtert werden, indem Zölle und andere Hemmnisse abgebaut werden. Was kaum kommuniziert wird: Bereits heute sind die Zölle mit 2,8 Prozent für den Industriesektor37 und für andere Bereiche mit durchschnittlich rund vier Prozent ohnehin niedrig. Worum es in erster Linie geht, sollte nachdenklich stimmen, denn zur Disposition stehen vor allem die Standards im Verbraucher-, Umwelt- und Datenschutz, zur Produktsicherheit und zu Arbeitnehmerrechten.Die Befürworter und Unterstützer des TTIP berufen sich auf Studien, wie sie die Bertelsmann Stiftung beim Münchner ifo-Institut in Auftrag gegeben hat. Professor Gabriel Felbermayr, Hauptautor der Studie, geht von einer Verdoppelung des Handelsvolumens zwischen den USA und Europa aus. Gleichzeitig ist von einem Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens die Rede: 4,95 Prozent in Europa und 13,4 Prozent in den USA sollen es sein. Die Studie "Abbau der Hindernisse für den transatlantischen Handel" des Londoner Centre for Economic Policy Research (CEPR) bläst ins gleiche Horn. Es prophezeit ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum von rund 0,5 Prozent (65 Milliarden Euro) pro Jahr, und ihre Schlussfolgerung dürfte den Regierungen der hoch verschuldeten Euro-Zone besonders wohl in den Ohren klingen. Denn das Plus an Wachstum würde laut CEPR zustande kommen, ohne die öffentlichen Ausgaben und Kreditnahmen zu erhöhen: ein Konjunkturschub ganz ohne zusätzliche Steuergelder und Schulden also. Damit nicht genug. Käme das TTIP zustande, würden zwei Millionen neue Arbeitsplätze entstehen, behauptet die Bertelsmann Stiftung; das verfügbare Einkommen einer vierköpfigen Familie würde sich um durchschnittlich 545 Euro jährlich erhöhen, ergänzt die Europäische Kommission.38Die Zahlen klingen derart gut, dass man geneigt ist, den Silberstreif am Horizont der überschuldeten Euro-Zone tatsächlich als gegeben hinzunehmen. Doch bei näherer Betrachtung macht sich Ernüchterung breit. Denn sowohl Institute als auch EU streichen nur die optimistischen Prognosen heraus - und das lässt Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkommen. Optimistisch bedeutet in diesem Zusammenhang ein Szenario des harmonischen Gleichklangs auf allen Ebenen: Sämtliche Zölle zwischen EU und USA müssten fallen, es käme zu einer weitgehenden Angleichung von Produkt-, Arbeits-, Verbraucherschutz- und Umweltstandards, und die Auswirkungen dieser Veränderungen müssten sehr groß sein. Schon ein mittleres Szenario relativiert den Wachstumseffekt. Er würde dann 0,1 Prozent betragen - nicht jährlich, sondern in einem Zeitraum von zehn Jahren. Ähnliches gilt für den von Bertelsmann verkündeten Arbeitsplatzsegen. In einem vorsichtigen Szenario geht die Studie von einem Rückgang der Arbeitslosenquote in Deutschland um 0,11 Prozent aus - wiederum nicht jährlich, sondern insgesamt. Eine recht bescheidene Aussicht. Selbst ein Plus von zwei Millionen Arbeitsplätzen erscheint angesichts der Bevölkerungszahl einer zukünftigen transatlantischen Freihandelszone von 312 Millionen US-Bürgern und 504 Millionen Europäern marginal. Auch deckt sich die Behauptung, ein erleichterter Handel wirke sich positiv auf die Zahl der Arbeitnehmer aus, nicht mit den Erfahrungen aus früheren Handelsabkommen. Mehr Handel bedeutet nicht automatisch mehr Stellen, sondern nur, dass es zu einer stärkeren Arbeitsteilung und damit zu einer höheren Effizienz kommt. In diesem Fall könne nur eine stärkere Nachfrage mehr Beschäftigung bewirken, meint Professor Christoph Scherrer, Leiter des Fachgebiets Globalisierung und Politik an der Universität Kassel. Scherrer sorgt sich um die zukünftigen Arbeitsbedingungen in Deutschland, falls die Standards an jene in den USA angepasst würden. Beschäftigte in den USA haben weniger Rechte und verdienen weniger; ein Betriebsrätesystem wie in Deutschland lehnen die Amerikaner ab. Scherrer hält sogar Arbeitsplatzverluste für möglich, wenn deutsche Firmen das amerikanische Prinzip übernehmen oder in die USA abwandern und dort produzieren würden.39Bertelsmann muss sich daher den Vorwurf gefallen lassen, im Eigeninteresse zu argumentieren. Indem der Konzern die unrealistischen, aber vielversprechenden Zahlen aus den Untersuchungen filtert und präsentiert, verfolgt er klare Ziele: "Als eines der größten Medienimperien Europas liegt Bertelsmann vor allem der stärkere Schutz geistigen Eigentums am Herzen, der durch das Abkommen erreicht werden soll."40 Schönfärberei hinsichtlich Beschäftigungszuwachs und Wirtschaftswachstum kennen die Europäer indes schon aus politischen Sonntagsreden. Sie sollen vor allem eines bewirken: die Bürger gefügig machen. Doch das geplante Freihandelsabkommen birgt enorme Risiken - für jeden Einzelnen wie für die Demokratie.Die Veränderungen betreffen rund 850 Millionen Menschen, und wer in erster Linie profitiert, ist unschwer zu erraten. Die britisch-amerikanische Firma FTI Consulting etwa (im Jahr 2013 bei der Begleitung von Fusionen und Übernahmen die Nummer eins in Europa) beziffert das Gewinnplus für die Automobilindustrie in der Freihandelszone auf zwölf Milliarden Euro pro Jahr, das der Chemieindustrie auf sieben Milliarden Euro. Schon an dritter Stelle folgt die Nahrungsmittelindustrie mit einem geschätzten Gewinnplus von fünf Milliarden Euro.41 Kleine und mittlere Unternehmen, die bereits heute der zunehmenden Konzentration und Marktmacht der multinationalen Giganten kaum etwas entgegenzusetzen haben, würden noch mehr durch Preisdrückerei und Knebelverträge in die Abhängigkeit getrieben werden können. Zum Beispiel dürften für die Milchbauern und Schweinemäster schwere Zeiten anbrechen (siehe Kapitel 3 und Kapitel 6); die bäuerliche Landwirtschaft würde noch mehr hinter der industriemäßigen Pflanzen- und Tierproduktion zurückstecken müssen, und die Nahrungsmittelindustrie würde ihren aggressiven Expansionskurs fortsetzen - mit all seinen negativen Folgen.Weil die Prämisse in einer Erleichterung des Warenverkehrs liegt, ist zu erwarten, dass sich eine Harmonisierung der Standards an den Interessen der Konzerne und Finanzinvestoren orientiert. Der wirtschaftsfreundlichste Standard jedoch ist jener, der am niedrigsten liegt - das Freihandelsabkommen würde Europa somit als riesigen Absatzmarkt für Produkte mit Qualitätsstandards des kleinsten gemeinsamen Nenners erschließen. Noch gilt in der Europäischen Union das Vorsorgeprinzip: Wo es wissenschaftliche Unsicherheiten gibt, sollen Risiken vermieden werden.42 In den USA ist das Gegenteil der Fall. Hier dürfen Firmen so lange ihr Produkt vertreiben, bis ein Risiko zweifelsfrei festgestellt ist. Das erklärt beispielsweise, warum Produkte der Grünen Gentechnologie so weit verbreitet sind. In einem Mammutanteil amerikanischer Nahrungsmittel, die Soja oder Mais enthalten, stecken gentechnisch veränderte Bestandteile: 90 Prozent aller in den USA angebauten Sorten sind GVO - Gentechnisch veränderte Organismen. Damit nicht genug. Mit einem gleichen Anteil von 90 Prozent ist Monsanto uneingeschränkter Herrscher über sämtliche transgene Pflanzen weltweit. Dass der Konzern die globale Landwirtschaft unter seine Kontrolle zu bringen versucht, ist ein offenes Geheimnis. Wie weit er es damit bereits gebracht hat, zeigt die personelle Verquickung von Politik und Wirtschaft in den USA. So galt Monsanto unter Kritikern schon in den 2000er Jahren als "ein Pensionat für ehemalige Clinton-Mitarbeiter"43 und hält seine Türen seit je für ehemals hochrangige Beamte offen. Zum Beispiel war William D. Rückelhaus zunächst Verwaltungsleiter der behördlichen Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelzulassungsbehörde der USA, Food and Drug Administration (FDA) und dann Vorstandsmitglied bei Monsanto, und auch für Linda J. Fischer hatte es offensichtlich nichts Anrüchiges, als stellvertretende Direktorin der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency (EPA) zu arbeiten, um dann den Posten als Vizepräsidentin der Öffentlichkeitsarbeit bei Monsanto anzunehmen.44 Die Liste ließe sich weiter fortführen, gipfelt aber in einem (vorläufigen) Höhepunkt, als im März 2013 der US-Kongress und der US-Senat ein Gesetzespaket zur Lebensmittelsicherheit verabschiedeten. Enthalten war der "Monsanto Protection Act", ein Zusatz zum Übergangshaushaltsgesetz45, der es Monsanto erlauben sollte, sich über sämtliche Entscheidungen amerikanischer Gerichte hinwegzusetzen: eine Generalerlaubnis für den Anbau, Verkauf und die experimentelle Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen also. Das offensichtlich von Monsanto für Monsanto geschriebene Gesetz wurde von Präsident Barack Obama unterzeichnet, schockierte aber Fachleute wie Kritiker derart, dass eine Welle der Empörung losbrach. Im September 2013 schließlich passierte das Gesetzespaket für weitere drei Monate den US-Kongress, jedoch verweigerte der US-Senat seine Zustimmung und strich den "Monsanto Protection Act" komplett.46 Der Druck der Gentech-Lobby mit Monsanto, Bayer Crop-Science, BASF, Syngenta, DuPont und Dow Chemical als Vorhut und der nachgelagerten Lebensmittelindustrie mit Nestlé, Unilever, Coca Cola, PepsiCo, Danone& Co auf die Politik ist enorm groß und droht, das Freihandelsabkommen im Sinne der Konzerne zu gestalten. Sie wollen vor allem eines: Produkte der Grünen Gentechnik in den europäischen Markt pressen.
Inhalt
Inhalt Nahrungsmittel als Geschäft 7 1 Unersättliche Konzerne 13 Verbraucherschutz ade 20 Lebensmitteleinzelhandel - der Lotse in den Abgrund 28 Die Landwirtschaft in den Fängen des Agrobusiness 37 2 Nanofood - Verbraucher als Versuchskaninchen 69 Nanopartikel gefährden die Plazenta 72 Krebsrisiko - Nanomaterialien außer Kontrolle 73 Schneller alt dank Nanofood? 76 Nanopartikel als potenzielle Umweltkiller 81 Klonfood - so what? 85 3 Ethik ade - wie Fleischproduktion wirklich funktioniert 87 Huhn 87 Ente und Gans 106 Pute 123 Mastschwein 129 Milchkuh 171 4 Pflanzenbau abstrus 189 Soja, Reis und Baumwolle als Geschäftsmodell 189 Gentech-Kartoffel außer Kontrolle 194 Massives Bienensterben gefährdet die Menschheit 200 5 Außer Kontrolle - die fehlende Lebensmittelüberwachung 206 Quecksilberbelastung im Fisch - und keiner bekommt es mit 209 Null Ahnung - Dioxin als ständige Gefahr 211 Bio - und gut? 213 Es geht auch anders - trotz Mangel an Kontrolleuren 218 6 Die Milch macht's 225 Mythos Molke 228 Milch - Fluch oder Segen? 247 Milch-ABC nach Verarbeitungsformen 267 7 Wie können wir uns wehren? 272 Anders denken - Zukunft braucht Wandel 272 Anders leben 285 Anmerkungen 319 Register 345
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