Beschreibung
Immer wieder gibt es Skandale um Kunst, wenn sie ästhetische und moralische Grenzen überschreitet. Schnell stellen sich dann die Fragen: Wozu Kunst? Was darf Kunst? Eine Ethik der Kunst als Teilbereich der Philosophie oder der Angewandten Ethik gibt es bislang jedoch noch nicht. Dagmar Fenner fragt nach der ethischen Dimension von Kunstproduktion und -rezeption: Welche Rolle spielt Kunst in unserer Gesellschaft und welchen Beitrag kann sie zu einem guten Leben und gerechten Zusammenleben leisten? Müssen der Freiheit der Kunst in manchen Fällen Grenzen gesetzt werden?Dagmar Fenner diskutiert anhand von Themen wie der Verletzung von Persönlichkeitsrechten, dem Einsatz von Tieren, der Darstellung von Gewalt und Sexualität oder Blasphemie, wie weit die Verantwortung des Künstlers für die Wirkung seiner Werke reicht. Der systematische Grundriss richtet sich an Künstler, Kunstvermittler, Dozenten und Studierende im Kunstbereich an Hochschulen und Gymnasien sowie an alle Kunstinteressierten.
Autorenportrait
Prof. Dr. Dagmar Fenner, Philosophin und Germanistin sowie diplomierte Kontrabassistin, unterrichtet Ethik an den Universitäten Tübingen und Basel und ist Autorin zahlreicher philosophischer Bücher.
Leseprobe
1.5 Braucht die Kunst eine Ethik?
Die Frage, ob die Kunst eine Ethik braucht, lässt sich am einfachsten mit dem Hinweis auf unbestreitbar vorhandene Probleme und Konflikte im Kunstbereich beantworten. Erinnert sei exemplarisch an die jüngeren Skandale von Hermann Nitsch, Chris Ofilis oder Thomas Hirschhorn: Nitsch wurde wegen seiner bluttriefenden Performances mit Schauschlachtungen von Stieren kritisiert, Chris Ofilis wegen einer Madonna, die er mit Pornofotos und afrikanischem Elefantendung schmückte und damit die ethischen und religiösen Gefühle der Katholiken verletzte (vgl. Schwerfel 2000: 10). In einer Installation des Schweizer Künstlers Hirschhorn erbrach sich auf einer Pariser Ausstellung 2004 eine Schauspielerin in eine Abstimmungsurne und ein Darsteller urinierte symbolisch in der Pose eines Hundes gegen ein Plakat des damaligen SVP-Bundesrates Blocher (vgl. www.rhetorik.ch/Aktuell/Aktuell_Dec_06_2004.html). Vom Künstler selbst als Kritik an der direkten Demokratie der Schweiz konzipiert, löste die Show grundsätzliche Debatten über die Fragen aus: Dürfen Künstler alles sagen, darstellen und schreiben oder müssen sie sich auch an gewisse moralische Normen halten? Muss die Kunstfreiheit zum Schutz der berechtigten Interessen oder Rechte der Betroffenen begrenzt werden? Tragen die Künstler eine Verantwortung für die Wirkung ihrer Werke?
Das Herstellen von Kunstwerken oder das Durchführen prozesshafter künstlerischer Aktionen sind eindeutig Handlungen, die aus einer ethischen Sicht beurteilt werden können. In sozialethischer oder moralischer Hinsicht ist das künstlerische Tun immer dann ethisch problematisch, wenn dadurch das Wohlergehen von anderen Menschen oder auch Tieren beeinträchtigt wird. Mit den Fragen nach der Verantwortung der Kunstschaffenden für allfällige negative Folgen ihres Tuns in verschiedenen Konfliktfeldern wie Gewalt, Sexualität, Politik und Religion befasst sich Kapitel 4. Anlass für viele ethische Kontroversen ist darüber hinaus der Umstand, dass Künstler, Kunstprojekte und Kunstinstitutionen wie Kunstschulen, Museen oder Theater mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Weil das Budget der zur Verügung stehenden Steuereinnahmen prinzipiell begrenzt ist, konkurriert der Kulturbereich mit anderen Bereichen wie Umweltschutz, Gesundheitswesen oder Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit. Die staatlichen Ausgaben im einen oder anderen Bereich stehen angesichts dessen unter einem starken Begründungszwang (vgl. Geißler 1995: 36). Die Kunsterziehung an Schulen und Hochschulen und die Finanzierung von Kunst und deren Präsentation in der Öffentlichkeit bedarf also einer Rechtfertigung. Die Frage Wozu Kunst? als die Frage nach der lebensweltlichen Bedeutung oder der gesellschaftlichen Funktion von Kunst ist so gesehen unvermeidbar (vgl. Kleimann/Schmücker 2001: 7).
Oft werden heftige Debatten über die Wozu-Frage dadurch ins Rollen gebracht, dass öffentlich geförderte Kunstprojekte Empörung in der Gesellschaft auslösen. Bezüglich der erwähnten Pariser Hirschhorn-Ausstellung waren die Proteste in der Bevölkerung und unter Politikern deswegen besonders groß, weil sie von der staatlich unterstützten Schweizer Kulturstiftung »Pro Helvetia« finanziert wurde. Der Bund hat dann die Stiftung prompt mit einer Budgetkürzung von einer Million Schweizer Franken bestraft. Genauso polarisierte eine angeblich blasphemische Arbeit des New Yorker Künstlers Andres Serrano, die von einer amerikanischen staatlichen Institution mit 15.000 Dollar gefördert wurde: Piss Christ ist das Foto eines in Künstler-Urin getränkten Kreuzes (vgl. Schwerfel 2000: 21f.). Auch wo die staatlich geförderte Kunst nicht auf derart heftige Ablehnung stößt, muss sie sich mit außerästhetischen Gründen, das heißt mit Blick auf ihre außerästhetische Wirkung rechtfertigen lassen. Rein ästhetische Kriterien der sinnlichen Reichhaltigkeit oder künstlerischen Gelungenheit eines Kunstwerkes reichen nicht aus, sondern es geht um den Nutzen oder die Bedeutung der Kunst für das alltägliche nichtästhetische Leben. Da der Anteil an Kunstrezipienten viel höher ist als derjenige der Kunstproduzenten, steht dabei wohl der Wert der Kunst für die Rezipienten im Vordergrund. Auf die Frage nach der möglichen Rechtfertigung staatlicher Kunstförderung wird in Kapitel 5.2 eingegangen.
Auch unabhängig von solchen konkreten Konflikten anlässlich von Kunstskandalen oder vom Rechtfertigungszwang bezüglich Steuerausgaben empfehlen sich grundsätzliche Überlegungen darüber, wieso Menschen überhaupt Kunst produzieren und rezipieren und weshalb sich die ästhetische Praxis lohnt. Wie oben erläutert, kommen wir Menschen eigentlich gar nicht um die ethische Grundfrage nach dem richtigen Handeln herum, allein weil wir unser eigenes Tun und Unterlassen reflektieren können und uns ständig zwischen verschiedenen Handlungsalternativen zu entscheiden haben. So muss jeder Mensch für sich selbst klären, welchen Stellenwert die ästhetische Praxis in seinem Leben haben soll im Vergleich zu anderen Tätigkeiten wie zum Beispiel Sport, Erwerbsarbeit oder Pflege sozialer Beziehungen. Wo es um eine staatliche Finanzierung von Kunst oder gesetzliche Richtlinien für die Kunstproduktion geht, sind hingegen demokratische Willensbildungsprozesse und Beschlüsse erforderlich. Eine Ethik der Kunst kann für diese individuellen Selbstprüfungen oder gesellschaftlichen Entscheidungsfindungen wichtige Beurteilungskriterien an die Hand geben. Ihre Aufgabe ist eine systematische Analyse, welchen Beitrag die Kunst für das gute Leben der Einzelnen und das bestmögliche Zusammenleben in der Gesellschaft leisten kann. Georg Meggle rechtfertigt das Nachdenken über Ethik generell damit, dass sie die aussichtsreichste Methode darstelle um herauszufinden, was zu tun das Beste sei: Je präsenter die Methoden und Resultate der Ethik seien, desto besser stünden die Chancen auf die bestmögliche aller Welten (vgl. Meggle 1993: 1). In Kapitel 3 werden verschiedene Funktionen eruiert und kritisch beleuchtet, die Kunst im Leben derjenigen erfüllt, die sie produzieren und rezipieren.
Ethik der Kunst
Aus den soeben aufgeführten Gründen lässt sich also durchaus sagen, dass der Handlungsbereich der Kunstproduktion und -rezeption genauso wie viele andere menschliche Tätigkeitsfelder eine Ethik, genauer eine Angewandte Ethik braucht. Analog zu den bereits gebräuchlichen Wendungen in anderen Bereichsethiken wie der »Ethik der Medizin« oder »Medizinethik« legt sich die Begriffsfügung »Ethik der Kunst« oder »Kunstethik« nahe. Eine Ethik der Kunst oder Kunstethik reflektiert in negativer Hinsicht das Konfliktpotential der Kunst und untersucht in positiver Hinsicht, inwiefern Kunst zu einem besseren menschlichen Leben oder richtigen Handeln beitragen kann.
Inhalt
InhaltVorwort 71 Einleitung 111.1 Schwierigkeiten mit der Gegenwartskunst 121.2 Die Rede vom »Ende der Kunst« 161.3 Was ist Kunst? 191.4 Was ist Ethik? 281.5 Braucht die Kunst eine Ethik? 332 Verhältnis von Ästhetik und Ethik 392.1 Ästhetik/ästhetisch: Begriffsbestimmung 422.2 Philosophische Positionen zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik 472.3 Autonomie der ethischen und ästhetischen Perspektive 643 Funktionen von Kunst 713.1 Entlastung und Entspannung 753.2 Positive Gefühle und Gefühlskultur 773.3 Unterhaltung 793.4 Wahrnehmen und Erkennen 803.5 Symbolisieren der Transzendenz 873.6 Förderung der Phantasie 883.7 Kreativitätsförderung 923.8 Psychohygiene und Katharsis 943.9 Freiheit und Erweiterung des Handlungsspielraums 1003.10 Identitätsbildung, Handlungs- und Lebensmodelle 1023.11 Perspektivenübernahme, Empathie und Solidarität 1073.12 Veranschaulichen moralischer Entscheidungssituationen und Konflikte 1103.13 Gesellschaftliches und politisches Engagement 1374 Konflikte in der Kunst 1494.1 Gefährdung von Gesundheit oder Leben der Darsteller und Rezipienten 1574.2 Nutzung von Tieren 1604.3 Lügen 1644.4 Verletzung von Persönlichkeitsrechten 1784.5 Darstellung von Gewalt 1884.6 Darstellung von Sexualität 2104.7 Politische Themen 2244.8 Blasphemie 2335 Schluss 2435.1 Zusammenfassung 2445.2 Wie lässt sich staatliche Kunstförderung rechtfertigen? 2466 Literatur 259Sachregister 279Personenregister 283
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Braucht Kunst eine Ethik?
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