Beschreibung
Historische Stätten haben und machen in Deutschland Konjunktur, wobei der Anteil privater Angebote steigt. Sybille Frank bietet mit ihrem der angloamerikanischen Forschungsdebatte entlehnten Heritage-Konzept erstmalig ein Instrumentarium zur Analyse des derzeitigen Geschichtsstättenbooms. Die Autorin erprobt ihr Konzept am Beispiel des Berliner Checkpoint Charlie. Aufgrund mangelnder öffentlicher Erinnerungsangebote einerseits und anhaltender touristischer Nachfrage nach Zeugnissen der Mauer andererseits wurde der zunächst demontierte Alliierten-Kontrollpunkt in den letzten Jahren von konkurrierenden öffentlichen und privaten Anbietern in spektakulären Einzelaktionen rekonstruiert. Sein Beispiel zeigt, so das Fazit, die Entstehung einer Heritage-Industrie abseits geregelter Verfahren. Damit lässt der Berliner Senat ein enormes stadtentwicklungspolitisches Potenzial ungenutzt.
Autorenportrait
Sybille Frank, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt »Eigenlogik der Städte« der TU Darmstadt.
Leseprobe
Ein weiterer Grund für die internationale Bekanntheit des Checkpoint Charlie war der todbringende Schrecken der innerdeutschen Grenze. Am 5. Januar 1974 wurde der 23-jährige Burkhard Niering - ein Anwärter der DDR-Bereitschaftspolizei, der auf der östlichen Seite des Alliierten-Kontrollpunkts als Posten eingesetzt war - bei einem Fluchtversuch über den Grenzübergang von DDR-Grenzern erschossen (Hildebrandt 2006a). Doch sollte nicht das Schicksal des direkt am Checkpoint Charlie zu Tode gekommenen Niering, der als Deserteur gebrandmarkt wurde, sondern der missglückte Fluchtversuch des 18-jährigen Maurergesellen Peter Fechter in den Westen am 17. August 1962 ungefähr 200 Meter südlich des Kontrollpunkts international mit dem Alliierten-Kontrollpunkt verbunden werden. Während sein gleichaltriger Arbeitskollege die Mauer an der Zimmerstraße unverletzt überklettern konnte, wurde Fechter von NVA-Soldaten entdeckt und durch Schüsse schwer verletzt. Weder die östlichen noch die westlichen Grenzbeamten eilten dem Verwundeten zur Hilfe, so dass der 18-Jährige qualvoll im Mauerstreifen verblutete (Sikorski/Laabs 2003).Trotz seiner Verbindung mit dem international wohl berühmtesten Maueropfer konnte der Checkpoint Charlie in den folgenden Jahren zu einem Symbol zahlreicher gelungener Fluchten avancieren. Seinen Sonderstatus nutzten etliche DDR-Bürgerinnen zu heimlichen Kofferraum-Grenzübertritten in Diplomatenautos oder dazu, den Checkpoint als sowjetische Majore oder amerikanische Soldaten verkleidet zu passieren. Allein zwischen 1961 und 1963 glückten auf diese Weise mehr als 1.200 Fluchten über den Alliierten-Kontrollpunkt (Hildebrandt 2006b: 83). Weiterhin zog die Eröffnung des Museums Haus am Checkpoint Charlie auf der westlichen Seite des Grenzübergangs am 14. Juni 1963 eine stetig steigende Zahl von Besucherinnen an. Neben der Vermittlung der Geschichte der Mauer verschrieb sich das Ausstellungshaus, für das sich bald der Name Mauermuseum einbürgerte, der Dokumentation der gelungenen und gescheiterten Fluchtversuche aus der DDR und des friedlichen Kampfes für Menschenrechte in aller Welt. Gezeigt wurden hier neben Zeugnissen des Mauerbaus folglich auch Teile des selbst genähten Heißluftballons, mit dem zwei thüringische Familien in den Westen geflohen waren, Fluchtautos sowie ein selbst gebasteltes Mini-U-Boot, Beleg einer Flucht über die Ostsee nach Dänemark. Ferner gab es Objekte wie die Schreibmaschine der Charta 77 und die Sandalen Mahatma Gandhis zu bestaunen. Das Museum verstand sich dank seines Gründungsdirektors Rainer Hildebrandt - dem Vorsitzenden der gemeinnützigen Fluchthelfergruppe Arbeitsgemeinschaft 13. August e.V., die als Trägerin des Museums fungierte - zugleich als ein politisches Zentrum. In der Friedrichstraße, im letzten Haus vor der Grenze gelegen, konnten "Fluchthelfer durch ein kleines Fenster alle Bewegungen am Grenzübergang beobachten, hier waren Geflüchtete stets willkommen und wurden unterstützt, hier wurden Fluchtpläne ausgedacht und immer gegen das Unrecht der DDR gekämpft" (ebd.: 206).Vier Dauerausstellungen, zahlreiche Sonderausstellungen, Vorträge geflohener Soldaten, Dokumentarfilme, eine Bibliothek und ein eigener Verlag komplettierten das Konzept, das neben vielen auswärtigen Besuchern auch zahlreiche Schulklassen anzog (Arbeitsbericht, Haus am Checkpoint Charlie 1987). Aufgrund der "Genialität Hildebrandts, Widerstand, Fluchthilfe und Dokumentation des Geschehens zu bündeln und in einzigartiger Weise miteinander zu verknüpfen", mauserte sich das Haus am Checkpoint Charlie zu einem der meistbesuchten Ausstellungshäuser Westberlins (der DDR-Bürgerrechtler und ehemalige Mauermuseums-Pressesprecher Wolfgang Templin 2004, 12. Januar). Nach dem Fall der Mauer ergänzten Schlagbäume von der Grenze, Mauerreste und Uniformen das Ausstellungsprogramm. Auch nach zwei Museumserweiterungen 1987 und 1999 blieb der Ausstellungsstil "liebenswert behelfsmäßig" (Sikorski/Laabs 2003: 139). Nicht zuletzt war der Checkpoint Charlie auch deshalb "Berlins berühmtester Grenzübergang" (Knabe 2004: 15), weil er für ausländische Touristen das Nadelöhr nach Ostberlin darstellte. Sein spezieller Status inspirierte Romanciers wie John Le Carré in "Der Spion, der aus der Kälte kam" und Filmregisseure wie John Glen, der in "Octopussy" James Bond alias Roger Moore im Clownskostüm die Grenze am Kontrollpunkt überqueren ließ, zu spektakulären Spionagegeschichten. Einerseits Symbol des Kalten Krieges und der Brutalität der deutsch-deutschen Teilung, andererseits Grenz-Übergang, Fluchtpunkt und Zentrum des friedlichen Widerstands gegen die Mauer, verkörperte der Checkpoint Charlie sowohl einen Ort der ausweglosen Trennung als auch eine hoffnungsvolle Passage. Der Fall der Mauer ließ den Alliierten-Kontrollpunkt über Nacht obsolet werden. Am 22. Juni 1990 wurde er im Beisein der Außenminister der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten feierlich demontiert. Die Abfertigungshalle der DDR wurde von einer Firma in Trebbin nahe Berlin als Produktionshalle weitergenutzt, während das Kontrollhäuschen der Westalliierten seit 1998 im Alliiertenmuseum in Berlin-Dahlem zu sehen ist (Kaminsky 2004). Das berühmte Sektorengrenzen-Schild mit der Aufschrift "You are leaving the American Sector" stiftete die US-Armee dem Museum Haus am Checkpoint Charlie (Hildebrandt 1999). Nachdem auch die Berliner Mauer bis Ende 1990 weitgehend abgetragen worden war, legten nur noch ein Wachturm und zwei Schlagbäume Zeugnis vom früheren Standort des Kontrollpunkts ab.
Inhalt
InhaltDanksagungEinleitung: Heritage als unentdecktes ForschungsfeldI Theoretische Grundlagen: die angloamerikanische Heritage-Debatte1. Wie es begann: die Debatte um die britische Heritage-Industrie1.1 Im Anfang war das Wort: der Heritage-Boom im Großbritannien der siebziger Jahre1.2 Die marxistischen Kritiker: Heritage als Entropie1.3 Die Befürworter: Heritage als Katalysatorin sozialen Wandels1.4 Der Vermittler: David Lowenthals Vorschlag einer formalen Definition von History und Heritage1.5 Zusammenfassung der Debatte um die britische Heritage-Industrie: Heritage ohne Soziologie?2. Internationale Bezüge: Heritage als globales Feld soziokultureller Praxis2.1 Heritage als globales Feld touristischer Praxis und des Konsums von Zeichen2.2 Kulturwissenschaftliche Ansätze: Heritage als Medium interkultureller Verständigung2.3 Heritage-Industrie reloaded: Heritage als ökonomisiertes Medium der lokalen Austragung kultureller Dissonanz2.4 Zusammenfassung der internationalen Debatte: "Enter the Matrix!"2.5 Abschließende Begriffsbestimmungen: Heritage und Heritage-IndustrieII Empirische Anwendung: der Streit um den Berliner Checkpoint Charlie3. Vom Checkpoint zum "Scheckpoint": Einführung in die Geschichte des und die Akteure am Checkpoint Charlie3.1 Zur weltweiten Berühmtheit des Checkpoint Charlie3.2 Berlin im Umbruch: neue städtische Leitbilder und Politikformen3.3 Die Entwicklung des Checkpoint Charlie nach dem Fall der Mauer4. Erster Konflikt: vom Checkpoint zum "Zoffpoint"4.1 "Berliner Provinzposse": verkleidete Schauspiel-studierende am Checkpoint Charlie4.2 Räumliche Gestalt: der Checkpoint Charlie als paradigmatische Heritage-Stätte4.3 Der Checkpoint Charlie als außergewöhnliche Heritage-Stätte4.4 Fazit: die Konstruktion des Checkpoint Charlie als Opfer-Ort5. Zweiter Konflikt: vom Checkpoint zum "Schreckpoint"5.1 Die Eröffnung einer privaten Maueropfer- Gedenkstätte durch das Mauermuseum5.2 Diskurse: "Wie gedenkt man der Mauer - lieber authentisch oder mit Gemüt?"5.3 Fazit: Geschichtsrepräsentationen im Wettstreit (History vs. Heritage)6. Der Checkpoint Charlie als Opfer-Ort und die Unmöglichkeit, von Disney zu lernen6.1 Risiken und Nebenwirkungen von Opfer-Orten: ein Forschungsüberblick zum Thema dark tourism6.2 "Die Wirkung des Objekts ist absolut schädlich": Trivialisierung von Gedenken am Checkpoint Charlie durch Kommerzialisierung6.3 Fazit: Heritage-Dissonanz durch die Produktion von Orten7. Disneyfizierung als Vorwurf mangelnder Authentizität und als kultureller Kampfbegriff7.1 Suchen Heritage-Touristen nach Authentizität, und wenn ja, was ist das? - ein Forschungsüberblick zum Thema Authentizität7.2 Der Checkpoint Charlie als disneyfizierter Ort: eine Einordnung in die Forschungsliteratur7.3 Fazit: Heritage-Dissonanz durch Vielfachproduktion (Orte des Geschehens vs. Orte internationaler Aufmerksamkeit)8. Vom "Nachbarschaftsstreit" zur "Hauptstadtposse": Fallstricke und Schlupflöcher politischer Steuerung8.1 Ebenenkonflikte: die Herausforderung, "Kiez mit Weltgeschichte in Übereinstimmung zu bringen"8.2 Öffentliche Gegenmodelle zum privaten Mauergedenken8.3 Finale: von der "gefälschten Mauer" zur "Klagemauer"8.4 Die Eröffnung der Checkpoint Gallery: der Bauzaun als ManifestSchlussbetrachtung: die Formation der Heritage- Industrie am Berliner Checkpoint CharlieLiteratur
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Das umkämpfte Kulturerbe Checkpoint Charlie
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