Beschreibung
Die Kontroverse um die RAF-Ausstellung in Berlin 2005 zeigt, dass die Wunden, die der Terrorismus der 1970er Jahre in unserer Gesellschaft hinterlassen hat, bis heute nicht verheilt sind. Noch ist es zu früh, um schon von einer Historisierung zu sprechen. Die meisten Auseinandersetzungen mit dem Thema sind individueller und biographischer Art. In diesem Band wird der bundesdeutsche Linksterrorismus erstmals aus sozialund kulturhistorischer Perspektive analysiert. Untersucht werden die Subkulturen und Milieus, aus denen der Terrorismus entstanden ist, die staatlichen und institutionellen Reaktionen sowie die öffentliche Beschäftigung mit dem Phänomen. Deutlich wird dabei die zentrale Rolle der Medien, wenn es um die gesellschaftliche Bewertung des Terrorismus und seiner Akteure geht.
Autorenportrait
Klaus Weinhauer, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter, Jörg Requate, PD Dr. phil., Oberassistent an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld. Heinz-Gerhard Haupt ist dort Professor für Allgemeine Geschichte.
Leseprobe
In den langen sechziger Jahren nahm die Zahl der jugendlichen Subkulturen und der an ihnen beteiligten Individuen enorm zu. Ganz ähnlich wie "Halbstarke" oder "Exis" in den fünfziger Jahren zeichneten sie sich dadurch aus, dass sie "anders sein" wollten als die angenommene Mehrheit der Gesellschaft. Anderssein war kein revolutionärer Akt im traditionellen Verständnis, kein eruptiver Versuch, die herrschenden ökonomischen oder politischen Verhältnisse umzustürzen. Vielmehr handelte es sich um eine eigentlich unspektakuläre Teildistanzierung, ein begrenztes Ausscheren aus dem gerade neu stabilisierten und daher besonders rigiden kulturellen Normensystem der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, das nur von manchen Gruppen extrem radikalisiert wurde. Seit der Mitte der fünfziger Jahre boten zunehmender Reichtum, kulturelle Ausdifferenzierung und Medialisierung immer mehr Stile, Orte und Kommunikationskanäle - eine Infrastruktur, in der Anderssein nicht nur postuliert, sondern auch praktiziert werden konnte, zumindest jenseits der Sphäre von Arbeit und Schule, später auch innerhalb dieser zentralen Sphären bürgerlicher Sozialisation und Lebensführung.Besonders unter jungen Intellektuellen, wo Individualismus als Tugend galt, wurde die Distanzierung von den kulturellen Vorlieben der breiten Masse bereits in den fünfziger Jahren in auffallender Weise gepflegt. Zum Idealtypus wurde der "Existentialist", der zwar nicht unbedingt als reale Figur weit verbreitet war, aber doch wesentliche Elemente des individualistischen Selbstbildes verkörperte. Zeitschriften wie Konkret oder Twen waren erfolgreich, weil sie sich als Medien für Nonkonformisten präsentierten, Stilelemente des Andersseins kommunizierten und popularisierten. Schon am Ende der fünfziger Jahre wurde im Twen der "Außenseiter" als "Ideal" der Zwanzigjährigen beschrieben - ihn zeichnete ein "antibürgerlicher Sinn" aus. In der Erfolgsgeschichte der Außenseiterkonzepte (und der sie vertretenden Zeitschriften) wurde deutlich, dass das mühsam auf ein autoritatives Niveau gebrachte westdeutsche Normensystem im Differenzierungsprozess der Gesellschaft seine Verbindlichkeit schnell wieder einbüßte. Tatsächlich waren derartige Distanzierungsbewegungen an den kulturellen und sozialen Rändern der Gesellschaft lediglich die auffälligsten Merkmale einer Individualisierungstendenz, die die gesamte Gesellschaft erfasste. Teil eines Großtrends zu sein, widersprach freilich den Intentionen der intellektuellen Vordenker. Massenhafte Individualität war ein Widerspruch in sich, Anderssein ein dezidiert elitäres Konzept, mit dem sich seine Protagonisten von einer vermeintlich konformen Masse abheben wollten.Allerdings gab es viele Formen, in denen man "anders sein" konnte. In den von einer "neuen Sensibilität" geprägten sechziger Jahren kamen "emotional" grundierte Subkulturen, wie sie sich teilweise schon in den Rock-and-Roll-Krawallen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre angekündigt hatten, zu völlig neuer Bedeutung. Sie stießen auf Kritik bei vornehmlich intellektuell geprägten, "rationalistischen" Subkulturen, die in der ästhetischen Form kein revolutionäres Element zu erkennen vermochten. Vor allem im SDS wurde, gestützt auf Adorno, immer wieder der coole Habitus der Roth-Händle rauchenden Jazz- und Beat-Adepten kritisiert, die in den Kellerclubs hockten, lange Haare trugen, Konkret lasen und vielleicht sogar Mitglied des SDS wurden, um sich durch Außenseitertum als Individualisten zu kreieren - aber dadurch letztlich nur mehr demonstrierten, dass ihr ästhetischer Protest geringe Reichweite hatte und jedenfalls die Machtverhältnisse in der Gesellschaft nicht tangierte. Hinzu kam, dass derartiger Protesthabitus von der Konsumindustrie aufgegriffen und popularisiert wurde. Nonkonformistische Ästhetik war integrierbar - dagegen halfen nur Bewusstseinsbildung und politische Aktion. Im Laufe der sechziger Jahre, als eine Ästhetik des Andersseins immer größere Massen von Jugendlichen anzog, gewannen diese beiden Elemente stark an Bedeutung. Theoretische Arbeit und politische Aktion - vor allem ihre konsequente Handhabung - unterschieden die politisch motivierten Gruppen von einer größeren Masse, die nicht nur lange Haare trug und die Rolling Stones hörte, sondern sich auch stärker als zuvor politisch informierte und betätigte. Als der politische Bewusstseinsstand und die Aktionsbereitschaft insgesamt zunahmen, konnte sich eine Avantgarde nur durch besonders entschlossene Aktivitäten exponieren.
Inhalt
VorwortEinleitung: Die Herausforderung des "Linksterrorismus"Klaus Weinhauer / Jörg RequatePolitische Gewalt und Terrorismus:Eine vergleichende und soziologische PerspektiveDonatella della PortaPolitische Gewalt und Terrorismus:Einige historiographische AnmerkungenHeinz-Gerhard HauptSubkulturen und EntstehungsmilieusÄsthetik des Andersseins:Subkulturen zwischen Hedonismus und Militanz 1965-1970Detlef SiegfriedTupamaros München:"Bewaffneter Kampf", Subkultur und Polizei 1969-1971Michael SturmPsychiatrie und Politik:Zum Sozialistischen Patientenkollektiv in HeidelbergCornelia BrinkJenseits von Terror und Rückzug:Die Suche nach politischem Spielraum und Strategienim Westdeutschland der siebziger JahreBelinda DavisStaatsgewalt und Innere SicherheitDer Wandel staatlicher Herrschaftin den 1960er/70er JahrenStephan Scheiper"Verführt" - "abhängig" - "fanatisch":Erklärungsmuster von Strafverfolgungsbehörden und Gerichtenfür den Weg in die Illegalität -Das Beispiel der RAF und der Bewegung 2. Juni (1971-1973)Gisela Diewald-KerkmannZwischen "Partisanenkampf" und "Kommissar Computer":Polizei und Linksterrorismus in der Bundesrepublikbis Anfang der 1980er JahreKlaus Weinhauer"Terroristenanwälte" und Rechtsstaat:Zur Auseinandersetzung um die Rolle der Verteidigerin den Terroristenverfahren der 1970er JahreJörg RequateMedienTerrorismus im ö.entlichen Diskurs der BRD:Seine Deutung als Kriegsgeschehen und die FolgenAndreas Musol.Der "Sympathisanten"-Diskurs im Deutschen HerbstHanno BalzTerrorismus als Medienereignis im Herbst 1977:Strategien, Dynamiken, Darstellungen, DeutungenMartin SteinseiferTerrorismus im Film der 70er Jahre:Über die Schwierigkeiten deutscher Filmemacherbeim Umgang mit der realen GegenwartWalter UkaAnhangAutorinnen und AutorenPersonenregister
Schlagzeile
Campus Historische Studien Herausgegeben von Rebekka Habermas, Heinz-Gerhard Haupt, Frank Rexroth, Michael Wildt und Aloys Winterling
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