Beschreibung
Die in der Bundesrepublik Deutschland existierenden Großkirchen werden in der Nachfolge Max Webers für gewöhnlich als 'organisierte Heilsanstalten' beschrieben. Als solche haben sie die Heilswahrheiten, deren Verbreitung und Bewahrung ihnen aufgetragen ist, nicht nur als museale Bestandsmassen zu tradieren, sondern müssen den Geltungsglauben dieser Lehren in ihren Anhängern erst einmal auf Dauer verankern. Insoweit sind Kirchen zentrale Instanzen sekundärer Sozialisation. Damit geraten sie notgedrungen in den Fokus sozialwissenschaftlicher Analysen. Ebenso notgedrungen stehen sie damit aber vor der Alternative, sich gegen deren empirische Einsichten in verstockter Uneinsichtigkeit zu sperren oder aber mit deren Art säkularer Aufklärungstätigkeit gemeinsame Sache zu machen. Dieses Dilemma wird vor allem an den Produkten konfessioneller Publizistik ablesbar. Tatsächlich ist die konfessionelle Zeitschriftenliteratur im Vergleich zu den modernen Massenmedien nicht in der Lage, Sicht- und Signalkontakt zur modernen Welt, somit auch nicht zu den Bedürfnissen ihrer Leser zu halten. Statt auf Basis transparenter Informationsbeschaffung 'Volks'-Aufklärung zu betreiben, hat sie sich mehr und mehr zu einer Art provinzieller Konsonanzpublizistik rückentwickelt. Insoweit Deutschland noch immer konfessionell zweigeteilt ist, sind auch die Mitglieder beider Kirchen hierzulande noch immer sozialpsychologisch gleichsam gespalten, weil in ihrer Identitätsbildung behindert. Das macht sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar. So haben es die Mitglieder beider Konfessionen im Verhältnis zueinander noch immer mit auffälligen Imageproblemen zu tun, was sich an zahlreichen Befunden aus der empirischen Umfrageforschung belegen lässt. Die konfessionellen Meinungsprofile, die in diesem Zusammenhang entwickelt werden, sprechen insoweit eine überdeutliche Sprache. Unaufgehoben zwiespältig ist auch das Verhältnis zwischen Oben und Unten, zwischen Amtskirchen und 'einfachen' Gläubigen, den sog. Laien. Entgegen voreiligen Prognosen ist also Religion noch längst nicht aus dem öffentlichen Leben verschwunden. So hat auch die Verfassung der Bundesrepublik eine feierliche Anrufung des Namens Gottes in sich aufgenommen und zwar unhintergehbar. Diese Entwicklung wird historisch abgeleitet, aber auch kritisch auf ihre stabilisierende Funktion als Beschwörungs- und Trostformel hinterfragt. Wieso empfinden selbst aufgeklärte, 'moderne' Staaten ein Bedürfnis nach symbolischer Überhöhung diese Frage bleibt als Rätsel unaufgelöst! Ist sie auch unauflösbar?
Autorenportrait
Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Philosophie und des Öffentlichen Rechts an den Universitäten Saarbrücken und Frankfurt a.M. (1955/56-62)Verwalter einer wissenschaftlichen Assistentenstelle am Institut für Politikwissenschaft der Universität Frankfurt a.M. (ab Juli 1961)Diplomprüfung in Soziologie (1962)Promotion zum Dr. phil (Gutachter: Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas) (1964)Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Frankfurt a.M. (ab 1965)Forschungsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (ab 1968)Direktor und Professor am Wissenschaftlichen Institut für Erziehung und Bildung in München (ab 1970)Lehrbeauftragter an der Universität München (ab Wintersemester 1972/73)Vertretung des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld (1973/74)Seit 1975: Ordentlicher Professor an der Universität HannoverProrektor (1976/77) und Rektor (1977/78) der Technischen Universität Hannover; Vizepräsident der Universität Hannover (1978/79)Dekan (1996/97) und Prodekan (1997/98) des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Universität HannoverEmeritierung zum Ende des Sommersemesters 2002
Leseprobe
Textprobe: Kapitel 1Soziologische Überlegungen zum Verhältnis von institutionell verfasster"Religion" (Kirche), volkskirchlicher Massen-Basis und"expressiven Gruppen" Vorbemerkung Seit den Anfängen der modernen, gleichermaßen an ideologiekritischen wie an organisationstheoretischen Fragestellungen interessierten Religionssoziologie, die zunächst als Soziologie der christlich-abendländischen Kirchen und ihrer jeweiligen Varianten im Kulturkreis der"Neuen Welt" in Erscheinung trat, sind im Zusammenhang mit Untersuchungen zur"organisierten Heilsanstalt", wie die Kirchen in der Nachfolge Max Webers regelmäßig beschrieben wurden, deren jeweiliger Zeitgestalt, insbesondere ihrer verrechtlichten Form gegenüber immer wieder fundamentale Vorbehalte angemeldet worden. Diese bezogen sich vor allem auf das Problem, ob"Kirche" als institutionell determinierte, in der Regel mit staatlich verbrieften Rechten ausgestattete Anstalt nicht notwendigerweise den Realitätskontakt zu ihrer"Basis" verlieren und sich aufgrund ihrer Organisationsstruktur den alltagspraktischen Bedürfnissen ihrer Anhänger nicht unweigerlich entfremden müsse. In der Folge dieser soziologischen Tradition hat man sich angewöhnt, in Dualen zu reden. Der soziologische, zu analytischen Zwecken durchaus brauchbare, weil Operationalisierungen gestattende Sprachgebrauch,"Amt" und"Gemeinde","Volk" und"Hierarchie","Institution" und"Basis" dualistisch einander gegenüberzustellen, wurde zudem von den entsprechenden ekklesiologischen und pastoralen Sprachbildern, kurz: von theologischer Theoriebildung, teils evoziert, teils legitimatorisch gestützt. Die Theologen selber ergingen sich lange Zeit in idealtypisierenden, soziologisch geprägten dualen Argumentationsfiguren. Inzwischen ist eine Tendenzwende eingetreten. Sie betrifft sowohl die Vorbehalte der betroffenen Gläubigen gegenüber der als Provokation empfundenen historischen Zeitgestalt"ihrer" Religion als auch die theologische"Überwindung" jener Dichotomien, die von der Theologie selber produziert worden waren. Erinnert sei nur an die verschiedenen, miteinander konkurrierenden"modernen" Ekklesiologien, die als innertheologischer Reflex auf den soziologisch zwar konstatierbaren, theologisch jedoch inakzeptablen Tatbestand einer Zwei-Reiche-Lehre innerhalb der einen Konfession zu interpretieren sind. Andererseits ufern die weitgehend privat-egoistisch motivierten Distanzierungsversuche kirchengebundener Religiosität in eine"Bewegung" massenhafter Kirchenaustritte aus " Privatreligion wird allgemein ", gleichzeitig nehmen frei-kirchliche Gruppierungen an Zahl und Bedeutung zu. Trotz dieser Entwicklungen steht für den Soziologen die strukturell- funktionale Bedeutung von ausdifferenzierten religiösen Systemen weiterhin im Mittelpunkt seiner forschungsleitenden Interessen. In dieser Perspektive wird Kirche als Institution im Hinblick auf ihre institutionelle Leistungskapazität analysiert. Gefragt wird, mit welcher Intensität und welchen Mitteln sie die typisch"religiösen" Bedürfnisse ihrer Anhänger"religiös" befriedigt. Erst wenn der Dienstleistungscharakter, d.h. die Nützlichkeitsstruktur der Kirchen als verfasster Religion zur Bewältigung individueller und kollektiver Kontingenzerfahrungen, auch ihre Fähigkeit zur Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen, insoweit diese unter normativen Prämissen stehen, als Korrelat dazu der Bedürfniskomplex nach geistlicher bzw.religiöser Versorgung der sie weiterhin legitimierenden Massen gebührend herausgestellt wird, lassen sich die spezifischen Besonderheiten von Basis- Aktivitäten, denen wir uns im Folgenden zuwenden wollen, stringent analysieren. Gleichzeitig entgeht man der Gefahr, traditional-konservative Bewusstseinsstrukturen und die ihnen entsprechenden Verhaltensweisen ausschließlich den organisierten Großkirchen und ihren Repräsentanten zuzurechnen, im Umkehrschluss alle progressiven Initiativen und Bewusstseinslagen in ebenso eindimensional interessenbedingter Wahrnehmungsverzerrung quasi automatisch, insoweit unkritisch,"der" Basis zuzuschreiben. Auszugehen ist also auch im Folgenden " d.h. empirisch " von zwei unterschiedlichen Organisationsbereichen verfasster Religion: von Kirche als Institution mit dem entsprechenden Ämter-Segment einerseits, von der volkskirchlichen Basis als der legitimatorischen Grundlage bestehender religiöser Systeme andererseits. Dies gilt generell für die Verhältnisse in Westeuropa, im Besonderen für die Bundesrepublik Deutschland.
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