Beschreibung
Heutige Diskussionen um soziale Ungleichheit sind häufig ideologisch und emotional aufgeladen. Oft bilden dabei altbewährte Sozialklischees den Deutungsrahmen für die Bewertung von »Armut«, in dem sich moralisierende, dramatisierende und solidarisierendeNarrative entfalten. Die Wahrnehmung der »Unterschicht« hat aber auch eine Geschichte dieses Buch untersucht erstmals, zudem auf breiter empirischer Basis, die sozialen Images von Armut in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zwischen den beiden Staatsgründungen (1949) und der »Wiedervereinigung« (1989). Wo lassen sich Gemeinsamkeiten und Abweichungenin der Bewertung sozialer Schieflagen »hüben« wie »drüben« erkennen?
Autorenportrait
Christoph Lorke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Leseprobe
EinleitungArmut gehört untrennbar zur Menschheitsgeschichte. Trotz (oder gerade wegen) ihrer Omnipräsenz repräsentiert sie aber auch immer ein "Tabu, über das viel geredet wird". Dieser Umstand gilt offenbar bis heute. Unlängst sorgte der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge weit über den akademischen Raum hinaus für Aufsehen, als er im Anschluss an seine tour d'horizon durch aktuelle wie vergangene Armutsdebatten postulierte, Armut werde "eskamotiert, kaschiert oder ideologisch verbrämt", um "die sich tendenziell immer stärker ausprägende soziale Ungleichheit zu legitimieren". Zu keiner Zeit habe sich die bundesdeutsche Gesellschaft ernsthaft mit Armut auseinandergesetzt, im Gegenteil, sie habe diese vielmehr "bewusst ignoriert, negiert oder relativiert". Auch die Reaktionen auf den Vierten Armutsbericht der Bundesregierung im Frühjahr 2013 - damals warf die Oppositionsseite der Regierung eine Beschönigung der tatsächlichen sozialen Lage vor - fügten sich in das so entworfene Bild: Das öffentliche Sprechen über Armut provoziert und muss zumindest aus Sicht der politisch Verantwortlichen aufgrund der Inkompatibilität mit sozialstaatlichen Versprechungen möglichst klein gehalten werden.Die Diskussionen der letzten Jahre um soziale Ungleichheit nicht nur in bundesdeutschen, sondern verstärkt auch in europäischen Kontexten zeigen, dass vor allem die zunehmende Öffnung der "Schere" zwischen Arm und Reich in den Fokus gerückt ist. Ein konstantes diskursives Nebenprodukt dieser sozialen Debatten war hierzulande die angeblich unaufhaltsam fortschreitende Ausbreitung sozialer Lebenswelten der "Armut", innerhalb derer bürgerlich-mittelständische Vorstellungen zu Arbeit oder Leistung scheinbar keinerlei Gültigkeit besäßen: Weniger das Fehlen pekuniärer Ressourcen sei das Hauptproblem eines Großteils der Betroffenen, sondern vielmehr spezifische Lebensformen einer "Unterschichtenkultur" mit "eigenen Verhaltensweisen, eigenen Werten und eigenen Vorbildern". So zumindest konstatierte ein Stern-Artikel im Jahr 2004, der ein Jahr darauf immerhin mit dem Deutschen Sozialpreis Print prämiert wurde. Die Eltern aus dieser "Unterschicht", fuhr der Text fort, "parkten" ihre Kinder vor dem Fernseher mit "verdummenden Programmen der Privaten", "stopften" sie mit Süßigkeiten voll, seien disziplinlos, verlören die Kontrolle in allen Lebensbereichen, ja versperrten sich durch diese Lebensweise und "eigene" Kultur den Weg (zurück) in die Gesellschaft. Ähnlich argumentierte im selben Jahr der Historiker Paul Nolte mit seinen auch außerhalb der Fachwelt bekannt gewordenen Thesen vom "Unterschichtenfernsehen" und dem "Übergewicht" als "Unterschichtenproblem". Seine Ansichten provozierten eine Reihe zuweilen stürmischer Entgegnungen, wie sie auch in jüngerer Vergangenheit die Aussagen des damaligen Außenministers Guido Westerwelle hervorriefen, der 2009 mit Blick auf "Hartz-IV-Emp-fänger" und den ihnen zuteilwerdenden sozialstaatlichen Leistungen pro-vokant von "spätrömischer Dekadenz" und "anstrengungslose[m] Wohl-stand" sprach. Der SPD-Politiker Thilo Sarrazin sorgte in seinem 2010 erschienenen Buch Deutschland schafft sich ab vor allem dadurch für Furore, weil er die aus seiner Sicht herrschende sozialstaatliche Misere unter anderem auf das Problem geistig-moralischer Armut zurückzuführen versuchte. Diese Exempel verweisen auf die symbolische Nutzung sozialer Images, die leicht erweitert werden könnten. Insbesondere die aus den Beispielen resultierenden mannigfachen emotionalen Reaktionen belegen eindrücklich, wie umkämpft und normativ aufgeladen das Sprechen über "Armut" ist.Armutsgeschichte als KulturgeschichteIn dieser Arbeit werden Analogien, Wurzeln, Traditionen, deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten und Abweichungen solcher Argumentationsstrukturen, symbolischen Kategorisierungen, diskursiven und symbolischen Artikulationen, Klassifizierungs- und Zuschreibungsmodi aufgezeigt. Das leitende Ziel ist dabei jedoch weniger, der Kluft zwischen "Arm" und "Reich" historisch nachzuspüren, als vielmehr eine integriert deutsch-deutsche Wahrnehmungs- und Deutungsgeschichte der "Armut" zwischen Teilung und deutscher Einheit zu konzipieren. Ohne die sozialhistorische Dimension des Themas außer Acht zu lassen, werden die Grundprinzipien und Leitlinien der Genese, Funktion und Produktion sozialer Images von "Armut" herausgearbeitet, um die inhärenten Brüche und Kontinuitäten bei Diskussionen über dieses gesellschaftliche Phänomen im deutsch-deutschen Vergleich zu konturieren. Die Rekonstruktion der tragenden Sprachformen und Kategoriensysteme erfolgt auf den Ebenen Wahrnehmung, Repräsentation und gesellschaftliche Debatten - und dies anhand der folgenden Leitfragen: Welche sozialen Images dominierten warum und zu welchem Zeitpunkt in öffentlichen Auseinandersetzungen um Fragen sozialer Ungleichheit? Wie ähnlich bzw. wie verschieden gestaltete sich das Erkennen und Aufgreifen sozialer Unterschiede in den beiden deutschen Staaten? Wo sind Verbindungslinien, wo Brüche zu heutigen Beschreibungsmodi auszumachen? Welche Rolle erfüllten bestimmte soziale Images über "Armut" bzw. über "Arme" im Kontext des vorherrschenden gesellschaftlichen Selbstverständnisses?Die engen Beziehungen des Gegenstandes zu gegenwärtigen Diskussionen über soziale Ungleichheit sind evident. Nicht zuletzt wegen der Aktualität des Themas bietet es sich nachgerade an, dem eingeforderten Gegenwartsbezug (zeit)historischer (Armuts-)Forschung Rechnung zu tragen, um sodann die Sensibilität für derzeitige Wahrnehmungsmuster und Beschreibungsmodi zu schärfen. Aufgegriffen wird die von Hans Günter Hockerts erhobene Forderung, Zeitgeschichte auch als "Vorgeschichte heutiger Problemkonstellationen" zu begreifen. Dadurch werde es möglich, die Hintergründe, Folgen und Kontexte der modernen Gesell-schaft zu untersuchen. Gleichzeitig ist die Thematik sowohl theoretisch-konzeptionell als auch empirisch nicht ohne Schwierigkeiten zu umgrenzen: Kinderarmut, Altersarmut, Armutsmigration - Schlagworte wie diese vermögen zwar (zumal in Zeiten des Wahlkampfes), das immense poli-tisch-öffentliche Interesse am Gegenstand zu versinnbildlichen. Gleich-wohl ist bis heute nicht unumstritten, was unter "Armut" zu verstehen ist und wie (bzw. ob) sie sich empirisch messen lässt. "Armut" erscheint beinahe zwangsläufig als ein "hochemotional besetzter, schillernder Begriff", der auf das untere, gesellschaftlich wenig akzeptierte Segment des materiellen Ungleichheitsspektrums deutet. Konsens besteht in der Forschung zumindest weitgehend darüber, dass es wie für alle sozialen Probleme keine "richtige" und allgemeingültige Definition von "Armut" geben kann. Wie bedeutsam der politisch-normative Relationsbegriff "Armut" in einer bestimmten Gesellschaftsform ist, hängt wesentlich davon ab, wer "Armut" wie, wo und wozu definiert. Georg Simmel, der jenes soziologisch-konstruktivistische Armutsverständnis begründete, sah den Faktor "Hilfsbedürftigkeit" als Kern von Armut, die als soziale Kategorie maßgebend auf gesellschaftlichen Reaktionen beruhe: Die zu einem gewissen Zeitpunkt in einer gegebenen Gesellschaft herrschende Definition prägt demnach letztlich die Politik gegenüber den als "arm" klassifizierten Individuen und Gruppen und entscheidet nicht zuletzt darüber, ob bestimmte Personengruppen das Etikett "arm" erhalten, das zu einer (wie auch immer gearteten) Unterstützung berechtigt, oder ob sie vermittels anderer Zuschreibungen mit je abweichenden Konnotationen signiert werden.Abhängig von der politisch-kulturellen Perspektive und dem historischen Zeitpunkt werden demzufolge durchaus unterschiedliche Vorstellungen mit dem Begriff Armut verbunden. Diese Vorstellungen sind einem beständigen Wandel unterworfen. Im Fall des bundesdeutschen Beispiels liegt es auf der Hand, dass etwa im Jahr 1949 unter "Armut" etwas völlig anderes verstanden wurde, als damit vor allem Flüchtlinge, Vertriebene, Kriegsheimkehrer gemeint waren, als 40 Jahre später, als zunehmend Langzeitarbeitslose oder "Gastarbeiter" als "arm" galten. Wurde in der Bundesrepublik der Begriff "Armut" - wie noch zu zeigen sein wird - vergleichsweise offen gebraucht, so wichen innerhalb der DDR soziale Kommentatoren der Kategorie "Armut" aufgrund ideologischer Prämissen strikt aus, zumindest bezüglich sozioökonomisch unterversorgter Lebenslagen im eigenen Land. Daher ist bei der historischen Analyse auch zu beachten, welche Grundbedürfnisse in verschiedenen Lebensbereichen (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Bildung usw.) zeitgenössischen DDR-Sozialkommentatoren im Vergleich zum als "normal" erachteten Standard als "unzureichend" erschienen. Selbstverständlich können nicht alle im Untersuchungszeitraum als "arm" titulierten Personengruppen in der Analyse Berücksichtigung finden. Für die "alte" Bundesrepublik und die DDR werden vielmehr solche Großgruppen exemplarisch betrachtet, die allesamt zum "klassischen" Klientel staatlicher Versorgungsleistungen gezählt werden können: für beide Staaten Altersrentner und kinderreiche Familien, zudem für die Bundesrepublik Obdachlose/Nichtsesshafte und Fürsorge- bzw. Sozialhilfeempfänger. Für die DDR hingegen werden Sozialfürsorgeemp-fänger, un- und angelernte Arbeiter sowie die diffuse Gruppe aus "Asozialen", "Dissozialen", "Sozial Gefährdeten" und "Sozial Desintegrierten" eingehend beleuchtet.Die Untersuchung von sozialen "Armuts"-Images eröffnet gerade die Chance, sich nicht a priori auf eine definitorische Begriffsbestimmung zu beschränken. Vielmehr geht es darum, diskursive Praktiken der zeitgenössischen Wissensproduktion über die zu untersuchenden Gruppen der "Armen" ebenso in den Fokus zu rücken wie die mediale, wissenschaftliche sowie politische Umgrenzung dieses Phänomens. Gemeinschaften jeder Zeit lassen sich in funktionaler Hinsicht durch ein bestimmtes Verhältnis von Inklusion und Exklusion als grundlegendes gesellschaftliches Ordnungsmuster beschreiben. Gleichzeitig rekurriert diese Relation auch immer auf Fragen von Identität und Alterität innerhalb des öffentlichen Sozialbewusstseins: Was (welche sozialen Tatsachen und Strukturen) und wer (welche Personengruppen, die nicht über ein gesellschaftliches Normalmaß an sozioökonomischen Mitteln verfügen) gehört zu einer sozialen Gemeinschaft, und umgekehrt: was bzw. wer warum nicht mehr? Welche Eigenschaften werden "Armen" zugeschrieben, um Inklusions- bzw. Exklusionsprozesse gesamtgesellschaftlich zu kommunizieren und weitgehend konsensfähig zu gestalten? Innerhalb der kulturgeschichtlichen Forschung ist es mittlerweile ein Gemeinplatz, dass sich Gesellschaft gerade im Kontext der öffentlichen Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit entwickelt. Eine diskursive Einhegung jener maßgeblich an der Konstitution von "Armut" beteiligten tragenden Sprachformen und Kategoriensysteme kann zeittypische Denkhorizonte und kollektive Ordnungsmuster offenlegen. Dadurch wird es möglich, ein Phasenmodell des Wandels der Intensität von "Armuts"-Thematisierung zu erstellen, das gleichzeitig grenzübergreifende Transfer- und Wechselwirkungen erfasst. Den je unterschiedlichen Deutungen werden die sie jeweils umgebenden sozialen Ordnungen ge-genübergestellt; auch wird einbezogen, inwiefern die zeitgenössische Verwendung des Begriffs "Armut" die jeweilige soziale Wirklichkeit sprachlich ausgestaltete. Den "Armuts"-Diskursen kommt gerade bei der Reproduktion von Ungleichheit durch die Festlegung von "Sagbarkeits"- (und gleichfalls "Zeigbarkeits"-)Regeln eine nicht zu unterschätzende Rolle zu. Im vorliegenden Fall wird daher eine verschränkende Betrachtung hegemonialer zeitgenössischer Debatten, der Charakteristik maßgeblicher Akteure und der jeweiligen strukturellen Eigenheiten angestrebt, um "Armuts"-Konzeptualisierungen in der bundesdeutschen und DDR-Öffentlichkeit zu umreißen.Forschungsdesign, Methode und ZugriffIm Mittelpunkt dieser Studie stehen "öffentliche" soziale Images. Der Kommunikationswissenschaftler Günter Bentele versteht darunter in der Öffentlichkeit produzierte Images, die über öffentlichkeitswirksame Aus-sagen vom Publikum aufgenommen werden. Doch vermag die Nutzung des Begriffs der "Öffentlichkeit" im Zusammenhang mit der DDR zunächst irritieren. Selbstredend kann der Terminus keineswegs wesensgleich für beide deutschen Staaten angewandt werden, ist er doch durch seine "Mannigfaltigkeit konkurrierender Bedeutungen" gekennzeichnet. Daher müssen die unterschiedlichen Gegebenheiten von pluralistischer Demokratie und geschlossenem Staatssozialismus, gerade bei den jeweils strukturierenden Regelmäßigkeiten wie textlichen, semantischen und visuellen Strategien bei dem Sprechen über "Armut", zwingend mitgedacht werden. Demgemäß wird "Öffentlichkeit" in der Untersuchung für beide Seiten als theoretisches Konstrukt verstanden, das sich vor allem in den Medien materialisiert, ohne mit diesen identisch zu sein. Im Staatssozialismus durfte es eine räsonierende Öffentlichkeit mit einem freien, unabhängigen gesellschaftlichen Diskurs nicht geben. Während in der Bundesrepublik "Öffentlichkeit" ein Gradmesser der Bewertung staatlicher, öffentlich-rechtlicher und privater Medienteilsysteme war, an dem sich Meinungsvielfalt, Pluralität, Transparenz und damit eine öffentliche Kontrolle der politischen Macht ablesen ließen, greift der Begriff für die DDR nur unzureichend. Das östliche System war stattdessen von Diskursrepression gekennzeichnet. Hier wurde mithilfe rigider Bestimmungen peinlich genau geregelt, was wie öffentlich kommuniziert werden durfte. Ein engmaschiges Netz aus Anleitungs- und Kontrollinstanzen, Vor- und Nachzensur sowie Argumentationsanweisungen schlossen einen unabhängigen, ja "investigativen" Journalismus von vornherein aus. Wegen dieser Besonderheit böte sich für die DDR eher die Bezeichnung der "öffentlichen Meinung" an, "die bereits die vollzogene Vereinheitlichung der Meinungen impliziert". Mit Christoph Classen wird jenseits tradierter Totalitarismusvorstellungen für einen "erweiterten analytischen Zugriff auf die DDR-Medien" plädiert, der die Bedeutung der politischen Dimension zwar keineswegs ausspart, aber auch nicht überbetont. So können bislang wenig berücksichtigte Quellen medialer Provenienz Aufschluss darüber geben, was "common sense" in der Beurteilung sozialer Randgruppen war, sowohl inner- als auch außerhalb der DDR. Auch in den je berufsbezogenen Fachöffentlichkeiten erscheint diese Prämisse anwendbar: In gesellschaftlichen Teilsystemen wie den szientistischen (Teil-)Öffentlichkeiten in Justiz, Psychiatrie, Medizinsoziologie, Pädagogik usw. wurden jeweils andere Formen sozialer Images kreiert, gesteuert und geprägt, dadurch prozessuale Legitimität hergestellt.In der Untersuchung wird erklärt, inwiefern sich bestimmte Typologien konstituierten ("gut"/"schlecht", "schuldig"/"unschuldig", "würdig"/"unwürdig"). Diese Typen sozialer Images sind abstrakte Gebilde und zeichnen sich - bei allen Interferenzen und Brüchen en détail - durch ein hohes Maß an Allgemeingültigkeit aus. Gerade mit Blick auf gesellschaftliche Ungleichverteilung sind soziale Images Mikrostrukturen der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit. Gleichzeitig erscheint die Imagekommunikation als zentraler Horizont symbolischer Ordnungsmöglichkeiten innerhalb einer Gesellschaft. Um das methodische Instrumentarium der sozialen "Armuts"-Images für die Arbeit sinnvoll zu operationalisieren, werden diese - inspiriert von sozialpsychologischen wie kommunikationswissenschaftlichen Modellen - zunächst konzeptionell entwickelt und in ihren gedachten/vorgestellten Funktionsweisen erläutert. Der englische Begriff "Image" entspricht in seiner Bedeutung etwa dem französischen image und steht für Bild, Abbild, Ebenbild, Spiegelbild oder Vorstellung. Der Begriff Image wird im Alltagsgebrauch häufig verwendet - beispielsweise bezogen auf Prominente, Politiker, Produkte. Um das Konzept für Leitfragen dieser Arbeit anschlussfähig zu machen, wird seine deskriptive Verwendung für den Bereich medialer, politischer und sozialwissenschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen genutzt. Stehen Stereotype und Klischees eher weniger umfassend für stark verfestigte und überwiegend negative Ein-stellungen, so erscheinen Images wertneutraler und beweglicher als ein stärker "der Fluktuation unterworfenes Phänomen" und demgemäß brauchbarer für die nachstehende Analyse. Denn "Arme" können mitnichten nur mit negativen, sondern auch mit positiven Zuschreibungen versehen werden. Das soziale Image wird für die folgenden Ausführungen als ein soziales kognitiv-psychologisches Konstrukt angenommen. Es entspricht nicht zwingend allein einer optischen Abbildung, sondern viel-mehr einem Vorstellungs-"Bild". Solche imaginierten Bilder stellen ein wichtiges Element für den Umgang mit "Armen" und "Armut" zu jeder Zeit dar. Dieser Umgang kann als sozialer Prozess analysiert werden, bei dem nach Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen, nach Prägekräften und jeweiligen Besonderheiten in der Bundesrepublik und der DDR gefragt wird. In diesem Sinn kann postuliert werden, dass sich in den Begriffen der "Armut" bzw. des "Armen" bestimmte Images ausdrücken, wobei nicht nur der jeweils tatsächliche soziale Befund einfließt, sondern in weitaus stärkerem Maß auch immer ausgedachte, vorgestellte, vermutete Eigenschaften, "Eigenarten", soziale und personale Gegebenheiten repräsentiert werden.Der US-amerikanische Ökonom Kenneth Boulding hob in diesem Zusammenhang den besonderen sozialen Aspekt des Images hervor, das public image. Dieses habe eine zentrale Bedeutung für die Selbsterhaltung einer jeden Gesellschaft, enthalte es doch von den Mitgliedern der bestimmten Gruppe geteilte wesentliche Vorstellungen und Denkmuster. Dieser Sachverhalt drückt sich in einem "Transkript" aus, also in permanenten Formen der Repräsentation. Soziale Images von "Armut" können so als Spiegel und Manifestation öffentlich wirksamer Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungen sozialer Probleme verstanden werden. Sie drücken aus, wer in einer Periode als "arm" gilt oder qua festgelegter Kriterien gelten sollte. Zudem verweisen sie darauf, mit welchen anderen Chiffren und sozialen Problemlagen "Armut" in einem (unterstellten oder tatsächlichen) Konnex stand. Ferner lässt sich an ihrer Nutzung ablesen, welcher Stellenwert "Armen" in der Gesellschaft insgesamt zugebilligt wurde. Innerhalb dieser Arbeit werden solche sozialen Images erfasst und zugleich die die jeweiligen Argumentations- und Zuschreibungsprozesse begleitenden kollektiv-mentalen Muster der Imagination von "Armut" aufgedeckt. Dafür liefern soziale Images die Grobmuster für die jeweiligen "Armuts"-Diskurse und tragen dazu bei, die Prozesse zeitgenössischer sozialer Konstruktion vermittels eines kombinierten Zugriffs aus diskurs-, struktur- und akteurszentrierten Aspekten zu dekonstruieren. Gewinnbringend ist das Imagekonzept im deutsch-deutschen Kontext vor allem dann, wenn zwischen Hetero- und Auto-Images - also der sozialen Eigenbewertung und -wahrnehmung - unterschieden wird, wodurch kollektive Selbst- und Fremddeutungen fassbar werden.Während der amerikanische Journalist Walter Lippmann bereits 1922 von "mental images" sprach, wurde der Begriff in die deutschsprachige (Sozial-)Wissenschaft erst in den ausgehenden 1950er Jahren eingeführt. Gerade aufgrund ihrer Stabilität seien Images, folgerten Gerhard Kleining und Harriett Moore in einem Aufsatz aus dem Jahr 1959, von herausra-gender Wichtigkeit für die Sozialforschung. Beide sehen das public image als eine Art Selbstrepräsentation zur Erfassung des subjektiven Gesellschaftsbildes. Für die Rekonstruktion der gruppenspezifischen, überindividuell-andauernden Vorstellungen sind neben affektiven Wertungen ebenso stereotype Ideen, bestimmte Wertvorstellungen und symbolische Inhalte einzubeziehen. Kommunikationstheoretisch ist unter Image ganz allgemein ein durch Kommunikation aufgebautes und befestigtes Gebilde zu verstehen, ein "Stellvertreter für belegte Erfahrungen". Konstitutiv für die Ausbildung sozialer Images ist das Zustandekommen einer Beziehung: Wahrgenommen wird das Imageobjekt durch maßgebliche Beobachter (Imagesubjekte), das heißt öffentliche Kommentatoren und Konstrukteure vermeintlicher Eigenschaften der "Armen".Soziale Images der "Armut" offerieren dem Rezipienten aufgrund ihrer relativen Stabilität die Möglichkeit langfristiger Handlungsorientierung. Ein soziales Image verkürzt die Gesamtpersönlichkeit des Imageobjektes - in unserem Fall die der "Armen" - auf einige wenige bewertete (und bewertende) Aspekte. Skepsis, Zweifel, konfligierende Botschaften und dissonante Informationen werden dabei nicht selten, auch zugunsten der Plausibilität, fast völlig eliminiert. Stabilisierung erhalten Images durch sich wiederholende Äußerungen diverser opinion leader. In ihrer Rolle als Vermittler und Multiplikatoren sozialer Vorstellungswelten können dies etwa Politiker, Wissenschaftler oder Journalisten sein. Besonders Massen-medien vermitteln in hohem Maß selektierte Sekundärerfahrung und tragen durch Visualisierung (und damit Ästhetisierung) zur Stabilität bestimmter "Armuts"-Konzeptionen bei. Je häufiger bestimmte Aussagen über soziale Gruppen wiederholt werden, desto stärker wächst - sowohl auf Produzenten- wie auch auf Rezipientenseite - der Glaube an die Richtigkeit solcher Annahmen. Durch Akkumulation, Wiederholung und Manifestation bestimmter Zuschreibungen wird Gültigkeit generiert, was wiederum Stabilisierung und Effektivierung erzeugt.Soziale Images sind mithin eng verbunden mit verschiedenen kollektiven Realitätskonzeptionen, die - implizit wie explizit - bestimmte Werturteile zu Personengruppen implizieren. Daneben enthalten soziale Images auch immer Verhaltensanweisungen. In diesem Zusammenhang repräsentieren sie performative Machttechniken zur Durchsetzung bestimmter Vorstellungen über die "angemessen-richtige" Anordnung der sozialen Gemeinschaft und sind immer auch Resultat von Machtkämpfen und Klassifikationssystemen über die Einordnung und Darstellung sozialer Ungleichheit. In diesem Sinn sind soziale Images außerdem Manifestation der "Macht gesellschaftlicher Vorstellungen von Armut". In ihrer Existenz sind sie niemals zweckfrei, vielmehr erfüllen sie zwei zentrale Funktionen. Zum einen ist dies die Orientierungsfunktion, zum anderen die Dichotomie Identität und Alterität: Images werden vor allem für all solche Objekte kreiert, über die kein direkt zugängliches Wissen verfügbar ist. Soziale Images bringen Gesellschaft so in eine überschaubare Ordnung. Sie helfen, insbesondere diffuses Material und komplexe Sachverhalte in ein bereits vorhandenes, durch soziale Erfahrungen geprägtes System von Wahrnehmungsgehalten und Bezugsgruppen einzufügen. Images von "Armut" wirken somit realitätsstiftend als Verhaltenswegweiser und ggf. -korrektiv, sie bieten als symbolische Vergegenwärtigung sozialer Gegebenheiten eine wichtige Orientierungshilfe für die Rezipienten. Bestimmte Images von "Armut" stützen und stabilisieren überdies gesellschaftliche Ordnungen und verhindern Auflehnungen gegen selbige, können mitunter gar positive Funktionen innehaben. So gesehen verteidigen Images als reduktiv-identifikatorische Meta-Texte "wünschenswerte Wirklichkeiten gegen rivalisierende alternative Wirklichkeitskonstruktionen". Eine Verkürzung auf ganz bestimmte Eigenschaften von "Armut" kann demnach zu "eine[m] systemverträglichen Aufbau von Komplexität" beitragen.Ganz entscheidend abhängig vom jeweiligen "Sagbarkeitsregime" (Michel Foucault) waren Images Spiegel, mitunter Erfüllungsgehilfen der jeweiligen sozialstaatlichen Konfigurationen. Die daraus abgeleitete Ausgangsüberlegung ist: Weder im "Wirtschaftswunderland" der "alten" Bundesrepublik, noch im Staatssozialismus der DDR durfte es "Armut" geben. Tauchten Problemlagen sozialer, materieller oder kultureller Unterversorgung auf, so mussten diese dissonanten Informationen in die vorhandene soziale Vorstellungswelt implementiert werden. Die leitenden und in der Arbeit zu überprüfenden Thesen sind, dass dies in beiden deutschen Staaten am jeweils "systemverträglichsten" durch (1) das Aufzeigen sozial verbindlicher Normen und Werte geschah, die (2) vermittels symbolischer Kategorisierungen und performativer Akte eine Etablierung und damit Revitalisierung der überkommenen, klassifizierenden Unterteilung in "würdige" und "unwürdige Armut" öffentlich durchsetzten. Außerdem spielten bei dieser Einordnung und In-terpretation endemischer "Armut" immer auch (3) symbolisch verdichtete Projektionen über die "andere", das heißt außerhalb der eigenen Grenzen liegende "Armut" eine ausschlaggebende Rolle."Armut" und deutsch-deutsche BeziehungsgeschichteBei der Analyse sozialer Images der "Armut" in beiden deutschen Staaten erscheinen mittels dieses methodischen Zugriffs besondere, bislang von der Geschichtswissenschaft noch kaum ergriffene Chancen geboten: erstens, Unsichtbares wie den als illegitim geltenden Bereich sozialer Ungleichheit sichtbarer zu machen, zweitens deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten wie Divergenzen bei der Imagekonstitution offenzulegen und im An-schluss daran, drittens, deutsch-deutsche Parallelen und Abweichungen bezüglich der angedeuteten Etablierung und Hierarchisierung von "Armut" zu konturieren. So ist die Arbeit als Beitrag zur deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte zu verstehen, die mit Blick auf soziale Debatten Prozesse der Verflechtung und Abgrenzung, aber auch von Transfer und Konkurrenz nachvollziehbar machen kann. Eine vergleichs- und transfergeschichtliche Perspektive einzunehmen, ist innerhalb der Geschichtswissenschaft zwar mitnichten neu; vielmehr sind seit einigen Jahren mit Konzepten wie histoire croisée oder entangled histories zahlreiche innovative Vorschläge für die Annäherung an transnationale Beziehungs-strukturen unterbreitet worden. Ein Vergleich zwischen Bundesrepublik und DDR lässt sich jedoch wegen der in diesem Kontext nur schwer zu greifenden Rolle von "Nation" weniger gut unter den Begriff "transnationale Geschichte" subsumieren. Bislang haben - wohl vor allem wegen der ins Auge stechenden Gegensätze und grundsätzlichen Unterschiede bezüglich der politisch-gesellschaftlichen Verfasstheit beider Staaten - nur wenige Historiker die Geschichte Deutschlands zusammen gesehen. Zuvörderst ist zweifellos Christoph Kleßmann zu nennen, der unter dem "Wortungetüm" einer komparatistischen, asymmetrisch aufeinander bezogenen Parallelgeschichte die Prozesse von Abgrenzung und Verflechtung im geteilten Deutschland zu akzentuieren suchte. Anknüpfend an diese Überlegungen entstanden diverse Veröffentlichungen, die sich unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen zuwandten.Ein solcher deutsch-deutscher Blickwinkel erscheint mit Andreas Wirsching indes nur tragfähig, solange die inkommensurablen und separierenden Elemente nicht völlig vernachlässigt werden. Auch wenn sichtbare Gegensätze zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen repressivem und freiheitlichem System bestehen, müssen diese nicht übermäßig betont, sondern eher als analytische Möglichkeiten zur Historisierung der Zweistaatlichkeit betrachtet werden. Daher ergründet die Untersuchung die "doppelte Nachkriegsgeschichte als vergleichende Problemgeschichte". Horst Möller bezeichnet es als die größte Herausforderung einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte, es handele sich bei Bundesrepublik und DDR nicht um analoge, sondern um grundsätzlich verschiedene soziale Systeme. Ein Vergleich systemspezifischer Sektoren sei kaum fruchtbar, zu unterschiedlich, ja gegensätzlich seien die entsprechenden Rahmenbedingungen. Doch gerade der Blick auf Mentalitäten könnte gemeinsame Welt- und Wertvorstellungen, aber auch Prozesse der Entfremdung innerhalb der spezifisch deutsch-deutschen Konfiguration erhellen. Öffentlich kommunizierte Deutungsformen und symbolische Kategorisierungsmuster bieten dafür ein ideales Untersuchungsfeld. Ein angemessener Ansatz für den zu bearbeitenden Problemkomplex könnte eine Darstellungsform sein, die - so Konrad H. Jarausch in seinem beachtenswerten Vorschlag zur Historisierung deutsch-deutscher Geschichte - die "unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen von Demokratie und Diktatur" mitdenkt. Beide deutsche Staaten werden folglich immer auch als Teil einer gemeinsamen Vorgeschichte verstanden: So finden sich mit gemeinsamen Wurzeln des Sozialstaats, der Absage gegenüber dem Nationalsozialismus und dem permanenten Verweis auf die Weimarer Republik als Referenzgesellschaft durchaus ähnliche sozialpolitische Ausgangslagen. Doch schon bald setzten die Besatzungsmächte durchweg andere politische Handlungsanleitungen durch. Zu fragen wäre nun, welchen Einfluss diese Integration in die jeweiligen Blöcke für die Konstituierung von "Armut" hatte.Es ist darauf zu achten, wie unterschiedlich oder ähnlich in der alten Bundesrepublik und der DDR "Armut" kommuniziert und verhandelt wurde. Es interessieren Etablierung, Funktionalisierung, Transformation und Aktualisierung dieser Deutungsformen in der sozialen Praxis, insbesondere bezüglich dichotomischer Wahrnehmungsmodi ("würdig"/"unwürdig"). Insgesamt unterlagen soziale Images von "Armut", so die Grundthese, einigen charakteristischen Veränderungsprozessen, die Rückschlüsse auf breitere gesellschaftliche Wandlungsprozesse der jeweiligen Systeme zulassen. Unter Berücksichtigung der "Grundtatsache einer star-ke[n] Asymmetrie" und des "ungleich höhere[n] Eigengewicht[s]" der westdeutschen Seite gegenüber der ostdeutschen wird im Folgenden eine integrierte deutsch-deutsche Kommunikationsgeschichte über "Armut" und "Arme" zwischen Teilung und deutscher Einheit erzählt. Ein seitens der Zeitgeschichtsschreibung oft formuliertes Anliegen, sozialgeschichtli-che Fragestellungen weiter zu vertiefen und die Entwicklung in beiden deutschen Staaten miteinander zu vergleichen, um die "Nähe beider Gesellschaften zueinander oder ihre Ferne voneinander" zu bestimmen, wird aufgegriffen, gerade auch, um das soziale Denken der heutigen Vereinigungsgesellschaft zu ergründen. Wer gilt heute hierzulande warum als "arm", was steht ihm/ihr zu, was nicht? Wie leiten sich aus diesen Klassifizierungsschemata Argumentationen über Bedürfnis- und Leistungsgerechtigkeit ab?Bei der Beantwortung dieser Fragen kann es nicht Ziel sein, Erfolgsnarrative zur Bundesrepublik mit der gescheiterten, grau-düsteren Kontrastfolie des östlichen Nachbarn zu kontrastieren. Es stellt sich stattdessen mit Blick auf den "unteren Rand" der DDR-Gesellschaft die Frage nach den Grenzen einer prima vista vollständig "durchherrschten Gesellschaft" (Jürgen Kocka), nach Schranken des scheinbar in alle Bereiche des Lebens ausstrahlenden SED-Regimes. Die Rekonstruktion sozialer Images von "Armut" kann daher für die DDR letztlich den Mythos einer "klassenlosen Gesellschaft" ebenso hinterfragen, wie sie zu einer kritischen Überprüfung der These anzuregen vermag, die DDR sei eine "nach unten nivellierte Arbeiter- und Bauerngesellschaft" gewesen. Wo konnte das Gesellschaftskonzept der Einheitspartei mit dem Ziel, einen antiwestlichen, antikapitalistischen und antiliberalen Gegenentwurf zu entwickeln, nicht entsprechend durchgesetzt werden? Welche gesellschaftlichen Bereiche blieben von diesem Anspruch unerreicht, wo also wird die Fragilität sozialer Konstruktionen offenbar? Es lassen sich demgemäß Maßnahmen, Mentalitäten und Entscheidungen nicht allein als systemimmanente Notwendigkeiten interpretieren, sondern, wiederum nach Jarausch, vielmehr als Wechselspiel wirtschaftlicher Effizienzzwänge, außenpolitischer Systemkonkurrenz mit der Bundesrepublik, Modernisierungsdruck und beginnender Globalisierung. Die DDR stand im Vergleich mit der Bundesrepublik stets unter dem Druck, sich als die bes-sere, da sozial gerechtere Alternative zu beweisen. Das dichte soziale Netz, die Sicherung gegen Arbeitslosigkeit und Krankheit oder die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln und Wohnungsmieten waren nicht zuletzt wesentliche Elemente der Systemkonkurrenz.So ist die eine ohne die andere Teilgeschichte kaum zu verstehen. Die "alte" Bundesrepublik war für die DDR "in nahezu allen Belangen und auf allen Ebenen" wichtigster Vergleichspartner, an ihr als negativer Kontrastfolie orientierten sich Umsetzung und Korrektur im eigenen System. Indes galt dies, so versucht diese Arbeit aufzuzeigen, in beide Richtungen. Wie die DDR nutzte auch die Bundesrepublik bestimmte soziale Images der "Armut" nicht zuletzt mit Blick auf das andere Deutschland. Dementsprechend liegen auch nicht zwei völlig voneinander losgelöste Fälle vor, sondern beziehungs- und wirkungsgeschichtlich keineswegs nur in eine Richtung eng miteinander verwobene Staaten. Aufgrund der beständigen gegenseitigen Beobachtung ist ferner von zahlreichen vorwiegend ideell-mentalen Wechselwirkungen, Nachahmungen, Abgrenzungen und Transferprozessen auszugehen. Es gilt zu überprüfen, inwiefern diese Entwicklungen across the blocs auch nach dem Mauerbau nachweisbar sind, als sich die DDR immer weiter vom Westen abschottete. Insgesamt kann eine solche deutsch-deutsche Perspektive im Rahmen einer Vergleichs-, Beziehungs- und Abgrenzungsgeschichte das Aus-einanderentwickeln beider Gesellschaften zu erklären helfen, haben sich doch, so Hartmut Kaelble, nach 45 Jahren Teilung "zwei erstaunlich ver-schiedene deutsche Gesellschaften" entwickelt. Letztlich vermag der deutsch-deutsche Blick möglichenfalls auch dazu beizutragen, das For-schungsdesiderat von vergleichenden Armutsstudien im europäischen Kontext mit auflösen zu helfen oder neue Denkanstöße zu liefern.
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InhaltEinleitung 9Armutsgeschichte als Kulturgeschichte 11Forschungsdesign, Methode und Zugriff 14"Armut" und deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte 21Quellen, Forschungsstand und Vorgehensweise 25I. Allgegenwart und Ausblendung: "Armut" in den Nachkriegsjahren 381. Soziale Images der "Armut" nach 1945: Eine Spurensuche 382. "Armut" in der "Zusammenbruchsgesellschaft" 483. Jenseits von Mittellagen: Öffentlichkeit der "Armut" in der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" 544. Respektabilität und "Armut": Symbolische Grenzziehungen 744.1 Kriegsopfer, Kinderreiche, Alte: Sozialpolitische Interventionen 744.2 Quantifizierung bundesdeutscher Not: Der erste "Warenkorb". 804.3 Arbeit, Fürsorge und Sozialvorstellungen in der frühen DDR 864.4 "Unwürdige Armut" in beiden Nachkriegsgesellschaften 945. "Dem Hunger und dem Elend preisgegeben": Armut undSystemkonkurrenz bis zum Mauerbau 108II. Dethematisierung und Individualisierung: Jahre des Wachstums 1201. Sieg über die "Armut"? Images zwischen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und Sozialkritik 1201.1 Das Bundessozialhilfegesetz: Inhalt, Bedeutung,erste Krisenbewährung 1201.2 "Gut genug für die deutsche Öffentlichkeit": Spenden, Schäbigkeit und "Schmarotzer" 1291.3 Sozialwissenschaft, Medien und "Armut" vor "1968" 1362. Überbleibsel? "Würdige" Armut in der DDR 1472.1 Verwissenschaftlichung sozialer Ordnung: Die DDR-Lebensstandardforschung 1472.2 Unumstrittene Anerkennung: Armut unter Altersrentnern 1532.3 Zwischen Zuwendung und Skepsis: Zur Situation Kinderreicher 1573. Ausnahmen von der Regel? Bundesdeutsche Obdachlosigkeit 1673.1 Selbstverschuldung, Unwirtschaftlichkeit und "Asozialisierung" 1673.2 Intergenerative Weitergabe? Obdachlosigkeit und Kinderreichtum 1773.3 Deutungswandel und neue Konstruktionen: Die Entdeckung von "Randgruppen" 1833.4 Perspektivverschiebungen: "Armut", Medien und "1968" 1914. Störung der öffentlichen Ordnung: "Asozialität" und "Dissozialität" in der DDR 2005. Die "andere Armut": Gegenseitige Perzeptionen und "Armut" im Ausland 221III. Eingeständnisse, Skandalisierung und Relativierung: "Armut" nach dem "Boom" 2361. Ende "sozialer Schwärmerei": Die "Neue Soziale Frage" undEuropäisierungstendenzen 2361.1 Konservative Sozialstaatskritik: Kontext und Reaktionen 2371.2 Verständnis und Anteilnahme: Politische Imagekorrekturen 2482. Sorgenfrei und geborgen? DDR-Imaginationen und -Paradoxa ab den 1970er Jahren 2582.1 Kinderreiche: Vom Hofieren und Geringschätzen 2602.2 Altersrentner: Ungebrochene Huldigung 2703. Empathie versus Abgrenzung: Bundesdeutsche "Armuts"-Deutungen bis 1989 2763.1 "Deutschlands faulster Gärtner": Von Vorwürfen und Solidarität 2763.2 Angstnarrative, oder: Gesellschaftlich benötigte Armut? 2903.3 "Häßliche Armut": Imaginationen von Obdachlosen und Nichtsesshaften 2974. Sozialstaat auf dem Prüfstand: Die "Neue Armut" als Politikum 3124.1 DGB und SPD: Wider die Verdrängung I 3144.2 Grüne, Kirchen, Wohlfahrtsverbände: Wider die Verdrängung II 3234.3 Regierung in der Defensive: Konterversuche und Rechtfertigungen 3305. Im Osten nichts Neues? "Armuts"-Deutungen bis 1989 3395.1 "Unduldbare Erscheinungen": Imaginationen des "Unwürdigen" 3395.2 Gegen den Trend? Späte Deutungsverlagerungen 3486. Blicke nach hüben, Blicke nach drüben, Blicke nach außen: Exterritorialisierung von "Armut" 357Schluss 377Abkürzungsverzeichnis 387Unveröffentlichte Quellen 390Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur 400Dank 463Personenregister
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