Beschreibung
Sexualpolitik ist eine Machttechnik. Sie reguliert Verhaltensweisen oder schließt Gruppen aus - das Feld Sexualität ist dabei besonders skandalisierbar. Angeblich problematische Sexualitäten werden nicht nur mit Geschlecht, sondern auch mit Ethnizität und Religion verflochten. Gabriele Dietze diskutiert diesen Zusammenhang in historischer, theoretischer und gegenwartsanalytischer Perspektive von feministischen Orientalismen der Ersten Frauenbewegung bis hin zu den Ereignissen von Köln in der Silvesternacht 2015.
Autorenportrait
Gabriele Dietze, PD Dr., ist Fellow der VolkswagenStiftung im Projekt "Sexueller Exzeptionalismus" an der HU Berlin und Gastdozentin an der Universität Basel.
Leseprobe
Einleitung: Sexualpolitik - Archäologie einer ProblematisierungsweiseVorspielSexismuskritik ist wieder en vogue. Ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat hätte die Wahl verlieren können, weil er mit sexuellen Übergriffen auf Frauen geprahlt hat und weil er sexistischen Gedankenaustausch unter Männern für normal hält. Es ist anders gekommen. Eine machtvolle Gegenrede, warum Sexismus nicht normal ist, wurde von Michelle Obama in einer Wahlkampfveranstaltung in New Hampshire gehalten. Denjenigen, die sagen, dass Frauen sich nicht so aufregen sollen, antwortet sie folgendermaßen: "Too many are treating this as just another day's headline, as if our outrage is overblown or unwarranted, as if this is normal, just politics as usual. But [] to be clear: This is not normal. This is not politics as usual. This is disgraceful. It is intolerable. [] no woman deserves to be treated this way. None of us deserves this kind of abuse" (Obama 2016).Michelle Obama ist nicht nur eine Frau, sondern die erste schwarze First Lady der amerikanischen Geschichte. Das ist ihr auch in dem Moment bewusst, als sie die inzwischen weltberühmte antisexistische Rede hält. Alle US-Amerikaner_innen wussten, dass sie über race sprach, als sie sagte: "[W]e can show our children that here in America, we reject hatred and fear and in difficult times, we don't discard our highest ideals. No, we rise up to meet them. We rise up to perfect our union" (ebd.). Damit spielte sie auch auf Barack Obamas berühmte speech on race "For a more perfect Union" an (Obama 2008). Michelle Obama verkörperte auf diese Weise die Intersektionalität von race und Gender. Sie nutzte diese, um das Publikum auf race- und Gender-Solidarität zu verpflichten. Und sie tat das mittels der Kritik an der Sexualpolitik des Kandidaten.Eines der ersten Manifeste der Neuen Frauenbewegung hieß Sexual Politics (1970). Die Autorin, Kate Millett, hatte damals die Erkenntnis, dass es Zeit für einen second wave feminism sei, mit einem Hinweis auf die amerikanischen race-Verhältnisse begründet. Sich aus der sexuellen Unterdrückung durch Männer zu befreien, sei politisch, weil man in der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner_innen gelernt habe, dass Weißen kein Geburtsrecht zur Beherrschung schwarzer Menschen zustehe, sondern dass deren Unterdrückung eine politische sei. Die Frauen seien die letzte Gruppe, die quasi durch ein Geburtsprivileg, nämlich das männliche, beherrscht würden. Diesen Tatbestand gelte es politisch zu bekämpfen (Millett 2000 [1970]: 24). Eine race-sensible Kritik von Sexualpolitik kann also ein machtvoller Hebel sein, in Herrschaftsverhältnisse zu intervenieren.Betrachtet man gegenwärtig die deutschen Kontroversen um Sexismus, die sich um die Ereignisse in der Silvesternacht 2015 von Köln und die sexistischen Verfehlungen von CDU-Politikern in Berlin 2016 entzündeten (Lau 2016), ist eine Verschärfung und Präzisierung der Kritik von Sexualpolitik ebenfalls geboten. Bei uns wird weniger selbstverständlich als in den USA von einer Verschränkung von Sexismus und Rassismus ausgegangen, obwohl sexualpolitische Diskriminierung von Muslimen und der Komplex Köln allen Anlass dazu böten. Die hier unter dem Stichwort Sexualpolitik versammelten Aufsätze verstehe ich insofern als einen Beitrag zu diesem Unternehmen. Ich möchte die Einleitung dieses Buches zum Anlass nehmen, den Bedeutungsraum national und inhaltlich unterschiedlichster Vorstellungen von Sexualpolitik auszuloten, mein Verständnis davon zu verdeutlichen, um an die politische Potenz von Kritik an Sexualpolitiken zu erinnern. Im Titel dieser Einleitung habe ich diese Suchbewegung Archäologie genannt. Die Metapher soll ein Wissen bezeichnen, das unter der Oberfläche liegt und ausgegraben werden muss, bevor es wieder politisch gemacht werden kann.Meine Ausgrabung wird folgenden Weg nehmen: Zuerst wird dem Terminus Sexualpolitik in einer Begriffsgeschichte nachgegangen, um die Fluchtlinien sowohl für ein allgemeines Verständnis als auch für meinen eigenen Gebrauch zu erarbeiten. Dieses werde ich exemplarisch an Deutschen Zuständen rund um Migration überprüfen. Dabei werde ich mir klischierte Vorstellungen von Muslimen in Deutschland ansehen, die ich Abwehrfigurationen nenne, und die sexuell (sexualpolitisch) aufgeladen werden. Dabei konzentriere ich mich auf Verkopplungen von antimuslimischem Rassismus und westlichen Emanzipationsvorstellungen. Im Anschluss daran werden unterschiedliche queer-feministische und gendertheoretische Interventionen in dieses Feld diskutiert. Schließlich wird die These entwickelt, dass Sexualpolitik eine Problematisierungsweise ist, mit der neoliberale Abendländischkeit und Stigmatisierung von (muslimischer) Religion zu einem Überlegenheitsmuster verknüpft werden, das Freiheit sexualisiert und als (sexuell) unfrei angerufene Gruppen rassisiert.SexualpolitikBegriffsgeschichteUnstrittig ist, dass Sexualpolitik und Geschlecht nicht voneinander zu trennen sind. Weniger selbstverständlich wird, wie bereits erwähnt, eine Verbindung von race und Sexualpolitik angenommen, obwohl race in fast jede sexualpolitisch interpretierbare Situation eine Rolle spielt. Das war nicht nur im Kolonialismus der Fall, wo angeblich primitive Sexualität von weißen Tugendregimen beherrscht wurde (Stoler 2002; Walgenbach 2005), sondern race reguliert auch Maßnahmen der Vereinten Nationen gegen die Überbevölkerung des Globalen Südens (Wichterich 1985). Weiterhin sind race, Ethnizität und immer mehr Religion nicht nur dann im Spiel, wenn es Andere betrifft. Auch Weißsein, Abendländischkeit und Säkularität sind Gruppenmitgliedschaften. Weiße Menschen sind sowohl Akteur_innen als auch Objekte von Sexualpolitik.Sexualpolitik hat nicht nur sachlich und historisch unterschiedliche Gegenstände, sondern auch unterschiedliche lokale Traditionen. Das angloamerikanische Verständnis ist auf sexualisierende Diskriminierung ausgerichtet, ein französisch/europäischer, hauptsächlich von Michel Foucault geprägter, Strang zielt auf staatliche Politiken, die die Regulierung von Bevölkerung durch Sexualität zum Ziel haben. Wenn aus einer deutschen Perspektive über Sexualpolitik gesprochen wird, muss noch ein dritter Strang berücksichtigt werden: eine frühe Verwendung des Begriffs in der kommunistischen Sexpol-Bewegung der Zwischenkriegszeit. Sie war im Reichsverband für proletarische Sexualpolitik organisiert (Rackelmann 1993) und hat bis in die Sexuelle Revolution der Studentenbewegung der Sechziger ausgestrahlt (Gente 1970). Die kommunistische Sexpol-Bewegung hatte eine sozialhygienische und eine sozialrevolutionäre Seite. Es ging einerseits darum, über Aufklärung die Arbeiterschaft von der Geisel des Kinderreichtums und der venerischen Krankheiten zu befreien. Andererseits wollte man das Proletariat aus der bürgerlichen Sexualunterdrückung erlösen. Der Dissident der Psychoanalyse und Sexrebell Wilhelm Reich hatte für seine Schriften den Verlag für Sexualpolitik gegründet. Der Begriff Sexualpolitik stand damit im Kontext einer ersehnten proletarischen Revolution und hat im Deutschen sowohl einen vertrauten Klang als auch einen utopischen Zauber. Hier bedeutet Sexualpolitik: durch (befreite) Sexualität (revolutionäre) Politik machen.Sexual PoliticsWie bereits erwähnt, machte Kate Millet den Begriff sexual politics populär. Sie motiviert seine Einführung folgendermaßen: "In introducing the term sexual politics one must first answer the inevitable question can the relation between the sexes be viewed in a political light at all? The answer depends on how one defines politics [] The term politics shall refer to power-structured relationships, arrangements where one group of persons is controlled by the other" (Millett 2000 [1970]).In der deutschen Übersetzung 1971 wurde der Titel hin zu Sexus und Herrschaft verändert, der Untertitel verdeutlicht, worum es geht: "Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft". Jene werde - so demonstriert Millett mit Zitaten der Autoren D.H. Lawrence, Henry Miller und Norman Mailer - über dominierende männliche Sexualität ausgeübt. Insofern sei der Koitus ein Modellfall "für Sexualpolitik auf intimster Basis" (Millett 1974: 37).In diesem Zusammenhang entstand auch der Slogan "the personal is the political". In deutscher Sprache, aber auch im Englischen wurde das Persönliche häufig durch das Private ersetzt, was insbesondere in der feministischen Staatstheorie eine andere Dichotomie aufrief, nämlich die Entgegensetzung von privat und öffentlich. Carole Pateman und Anne Phillips schreiben 1983: "the separation between the public and private in liberal theory and practice [] is ultimately what feminism is about" (zitiert nach Ludwig 2016a: 194). Hier wird der Schwerpunkt auf die Nicht-Zulassung von Frauen in der Öffentlichkeit gelegt. Birgit Sauer nennt diese Diskursformation zugespitzt das "liberale Trennungsdispositiv" (Sauer 2001: 5) und meint damit eine Machttechnik, die über stetig modernisierte flexible Sphärenzuweisungen eine geschlechtsdefinierte Machthierarchie aufrechterhält, die Männer privilegiert.Zurück zur angloamerikanischen Geschichte von sexual politics: Wie viele weiße amerikanische Feministinnen betrachtete Kate Millett die race-Emanzipationsbewegung als Blaupause für die Entwicklung einer Frauenbefreiungsbewegung. Allerdings werden die kritischen Begriffe der Bürgerrechtsbewegung nicht nur als Anregung verstanden, sondern in gewisser Weise auch okkupiert. So erschien zum Beispiel im gleichen Jahr wie Kate Millets Buch das ebenfalls radikalfeministische Manifest The Dialectic of Sex. A Case for a Feminist Revolution von Shulamith Firestone. Mit ihrem Unterkapitel "Racism: the Sexism of the Family of Man" (Firestone 1993 [1970]: 103-139) kehrte sie die zeitliche Abfolge der Begriffe Rassismus, der zuerst geprägt wurde, und Sexismus, der dreißig Jahre später entstand, um, und degradierte damit den kritischen Terminus Rassismus nicht nur zu einem Derivat von Sexismus, sondern zu einer untergeordneten Größe: "[S]exism presents problems far worse than the black militant's new awareness of racism. Feminists have to question not all of Western culture, but the organization of culture itself, and further, even the very organization of nature" (ebd.: 12).So sehr sich die ersten Theoretikerinnen des second wave feminism auf die sexuelle Unterdrückung der Frau durch den Mann konzentrierten, so sehr waren sie auch Töchter der Sexuellen Revolution. Das Befreiungsversprechen, das mit dem Abschütteln der sexuell verklemmten 1950er Jahre verbunden war - das sich durchaus auch an Wilhelm Reich orientierte, der in die USA emigriert war und auch dort von der counter culture verehrt wurde -, wollte von mehreren Fraktionen des second wave feminism nicht so ohne Weiteres aufgegeben werden. Stattdessen sollten die Powers of Desire (Snitow/Stansell 1983) nutzbar gemacht werden. Konsequenz waren die berühmten sex wars Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Eine Fraktion hielt am Patriarchat, dem Mann und Pornografie als Agenturen sexueller und damit weiblicher Unterdrückung fest - "man fucks women; subject verb object" (MacKinnon 1982: 541) bringt die Juristin Catharine MacKinnon ihr Verständnis von Sexualpolitik auf eine Kurzformel. Eine andere Fraktion sah in Sexualität weiterhin eine Produktivkraft und einen Hebel von Befreiung. Gayle Rubin hob mit ihrem berühmten sex-positive-Artikel "Thinking Sex. Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality" (Rubin 1984) die Queer Theory aus der Taufe und bestritt damit der Frauenbewegung gleichzeitig, weiterhin als alleinige Autorität von sexual politics gelten zu können.Auch die australische Soziolog_in R.W. Connell schreibt 1987 in der Studie Gender and Power. Society, the Person and Sexual Politics, dass die Fokussierung großer Faktionen des second wave feminism auf ein Unterdrückungsverhältnis zwischen Mann und Frau inzwischen als zu reduktionistisch beurteilt werden müsse. Connell erweitert den Geltungsbereich von Sexualpolitik. Danach müsse auch staatlicher Sexualpolitik Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese könne sowohl repressiv als auch reformerisch sein. Letzteres sei zum Beispiel der Fall, wenn Gesetze im Zuge von Emanzipationsbewegungen geändert wurden, wie Entkriminalisierung von Homosexualität, die Abtreibungsfreigabe oder die neue Strafwürdigkeit von häuslicher Gewalt. Ersteres sei etwa der Fall, wenn einmal vorhandene Frauenrechte im Zuge von religiös begründeten Re-Traditionalisierungen oder der Einführung von Theokratien wieder zurückgenommen wurden, wie etwa in Pakistan oder im Iran (Connell 1987: 260). Connell unterscheidet also eine privat-politische Dimension von Sexualpolitik von einem biopolitischen Bevölkerungsmanagement, das sowohl reformerische als auch reaktionäre Interventionen enthalten kann. Im Unterschied zu den US-amerikanischen Feminist_innen spielt bei frühen Überlegungen der Australier_in Connell zu Sexualpolitik race eine untergeordnete Rolle.Eine weitaus integriertere Perspektive auf Rassismus und Sexismus wird von der afroamerikanischen Soziologin Patricia Hill Collins in Black Sexual Politics entwickelt: "[R]acism can never be solved without seeing and challenging sexism. African American men and women are affected by racism, but in a gender-specific way." (Collins 2004: 5) Collins definiert:"Sexual Politics can be defined as a set of ideas and social practices shaped by gender, race and sexuality that frame all men and women's treatment of one another, as well as individual men and women are perceived and treated by others. Because African Americans have been so profoundly affected by racism, grappling with racism occupies a prominent place within Black sexual politics" (Collins 2004: 6).Im Gegensatz zum second wave feminism ist der Terminus sexual politics für Collins auch eine Beschreibungskategorie für race. Das Bild von Afroamerikaner_innen findet sie überformt von negativen Phantasmen über ihre Sexualität von afroamerikanischen Männern und Frauen, die nicht nur vom rassistischen Außen zeugen, sondern auch innerhalb der eigenen community Platz gegriffen haben. Das Ziel ihrer Intervention ist deshalb eine "more progressive black sexual politics" (ebd.: 7).In der angloamerikanischen Diskussion ist sexual politics ein kritischer Begriff, der implizit, aber auch oft explizit race als zentrale Größe in einem sexualpolitischen Feld versteht. Das Kompositum sexual politics kommt sowohl dann zum Tragen, wenn interpersonelle Verhältnisse, wie die zwischen Mann und Frau, als politische angesprochen werden und/oder Verhältnisse zwischen oder innerhalb von races beschrieben oder kritisiert werden. Im Laufe der Zeit kommt der Terminus auch dann zum Einsatz, wenn von staatlicher Intervention via Sexualpolitik die Rede ist. Das beginnt erst, als sich erste Erfolge der Emanzipationsbewegungen abzeichnen und Reformanforderungen in Gesetze gegossen werden. Connell nimmt dann in die Definition von sexual politics Aspekte des im Folgenden zu erläuternden diskursanalytischen Verständnisses von Sexualpolitik auf, das sich auf bevölkerungspolitisch motivierte Machtstrategien und Staatseingriffe konzentriert und auf den Arbeiten von Michel Foucault basiert.Der Begriff Sexualpolitik taucht bei Foucault zwar gelegentlich auf, zum Beispiel im ersten Band der deutschen Übersetzung von Sexualität und Wahrheit (Foucault 1983: 121 u. 147), aber politique sexuelle, wie es im Französischen heißt, ist keine tragende Begriffsverbindung. Was Connell als sexualpolitische staatliche Interventionen anspricht, rubriziert Foucault unter den Begriffen Biomacht oder Biopolitik. Darunter versteht er mit Diskursen über Sexualität gesättigte Machttechniken, die Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsrate und das Gesundheitsniveau der Bevölkerung regulieren. "Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve [], einen Gesundheitszustand" (Foucault 2005 [1981/1985]: 230f.). Foucaults Verständnis von Biopolitik ist nicht auf den Einzelnen, sondern zunächst auf die gesamte Bevölkerung gerichtet.Wenn Foucault über Sexualität spricht, stehen nicht Triebstruktur oder Praktiken im Zentrum des Interesses, sondern ihre Funktion als Membran oder dichte Stelle, durch die Macht transportiert und exekutiert werden kann. Sexualität fungiert hier als "Gegenstand eines stets komplexen Spiels von Ablehnung und Akzeptanz, Aufwertung und Abwertung" (Foucault 2016: 31). Diese Überlegungen führen in den Herrschaftsbereich eines Mechanismus, den Foucault Sexualitätsdispositiv nennt. Dieses beschreibt eine Machtstruktur, die sich im 18. und 19. Jahrhundert verfestigt hat, nach der - entgegen der von der Psychoanalyse genährten Hypothese von der umfassenden sexuellen Repression - Kontrolle über Menschen nicht primär durch Unterdrückung von Sexualität gewonnen, sondern (Bio-)Macht durch eine grundlegende Sexualisierung aller Lebensbereiche ausgeübt wird.Konkretisiert man das Sexualitätsdispositiv in Bezug auf die Frau, so ging es um die Kontrolle weiblicher Fruchtbarkeit, um auf diese Weise das Arbeitskräftereservoir zu steuern. Zur Abwehr nicht-generativer Sexualität wurden Ausschlusscharaktere erfunden, wie der Samen verschwendende onanierende Knabe, der nicht-generative Homosexuelle und die gebärunwillige hysterische Frau. Solche Ausschlusscharaktere sind nötig, um die gewünschte biopolitische Regulierung einer generativen Bevölkerung zustande zu bringen. Foucault kleidet diesen Zusammenhang in Form einer Frage: "Durch welches Ausschließungssystem, durch wessen Ausmerzung, durch die Ziehung welcher Scheidelinie, durch welches Spiel der Negativität und Ausgrenzung kann eine Gesellschaft beginnen zu funktionieren?" (Foucault 1976b: 57)Die postkoloniale Theroretikerin Ann Laura Stoler hat in Race and the Education of Desire. Foucault's History of Sexuality and the Colonial Order of Things (Stoler 1995) darauf hingewiesen, dass Foucault eine Blindstelle bezüglich des Anti-Black-Kolonialrassismus hat und rät dazu, die kolonialistischen sexuellen Phantasmen von Wilden, Barbaren, Primitiven zu den oben referierten sexualpolitisch relevanten Ausschlusscharakteren hinzuzufügen. So einleuchtend diese Intervention auf den ersten Blick erscheint, wirft sie aber auch Probleme auf. Die Foucault'schen Ausschlusscharaktere sind Repräsentant_innen nicht-generativer Sexualität. Fügt man die Wilden, Primitiven, Kolonisierten hinzu, sieht es zunächst so aus, als zerstöre man diese Funktionslogik, denn es handelt sich hier keineswegs um Vertreter_innen nicht-generativer Sexualität. Das Bild stimmt allerdings wieder, wenn man sich klarmacht, dass die Generativität dieser Primitiven unerwünscht ist.Die Fertilität von Anderen war im Kolonialismus an zwei Fronten bedrohlich, nämlich im Hinblick auf die Frage, dass es zu viele sein könnten, um sie mit den vergleichsweise kleinen Kolonialarmeen, Expeditions-Korps und Schutz-Truppen in Schach halten zu können, und zweitens, dass es zwischen den Kolonisierer_innen und den Kolonisierten zu Vermischungen kommen könnte. Dieser befürchtete Umstand wurde mit Sondergesetzen gegen miscegenation in den Vereinigten Staaten oder eine sogenannte Bastardisierung in Europa schon lange vor dem Faschismus (Grosse 2000) bekämpft. Race in die Dynamik des Sexualitätsdispositivs systematisch einzubeziehen, ist also eine wichtige und nötige Ergänzung, darf aber nicht rein additiv verstanden werden, sondern race (in Gestalt der Kolonisierten) kann nur dann in die Foucault'sche Machtmechanik eingebunden werden, wenn sie jenseits von Fertilität sexualisiert wird.ProblematisierungsweisenMan trifft bei der Betrachtung der drei hier herauspräparierten Stränge der Befassung mit Sexualpolitik auf revolutionäre, patriarchatskritische, rassismuskritische und staatskritische Motive. Es werden Traditionen wie die Sexpol-Bewegung sowohl unterbrochen - sie fallen historischen Amnesien anheim - als auch wiederbelebt wie etwa in Rhetoriken der 68er. Gleichzeitig kam es im Sinne von travelling concepts zu einer Rück- bzw. Erstübersetzung der zunächst hauptsächlich patriarchatskritischen sexual politics in deutsche Sprache und Bewegungen. Man denke an die Kastrationsaufforderung der Keimzelle der deutschen Frauenbewegung, des Weiberrates (1968): "Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen" (Weiberrrat 1968). Unübersetzt - im sprachlichen und im inhaltlichen Sinn - blieben für lange Zeit die rassismuskritischen Dimensionen des angloamerikanischen Gebrauchs.Die Foucault'sche sexualpolitische Intervention schloss zu Beginn der 1980er Jahre, als die deutsche Übersetzung von Sexualität und Wahrheit (Hardcover 1977, Taschenbuch 1983) populär wurde, mit einer gewissen Enttäuschung ab, die mit dem Scheitern der Sexuellen Revolution als Hebel einer umfassenden und auch ökonomischen Revolution einherging. Die ernüchternden Analysen über Manipulation durch Sexualität, wie sie von der Neuen Frauenbewegung als Anklage gegen den Machismo und Sexismus der Studentenführer formuliert wurde und die Foucaults biopolitische Entzauberung von Sexualität als Befreiungskraft bewirkt hatte, sogen Luft unter den Flügeln der Utopie weg. Wollte man die politische Dimension von Sexualität im Spiel halten, blieben drei Optionen. Entweder entschied man sich für die angloamerikanische Tradition der Analyse von Diskriminierung durch Sexualisierung oder für die französische Tradition der Kritik an Machtexekution durch Sexualisierung. Eine dritte Möglichkeit besteht in einem hybridisierenden Zugang, der versucht, die Kritik am Androzentrismus mit einer gendersensiblen diskursanalytischen Kritik an Machttechniken, die über Sexualisierung funktionieren, zu verbinden oder zumindest in produktive Koexistenz zu bringen. Ich selbst verfolge diese dritte Möglichkeit. Dabei ist mir die andere Seite der angloamerikanischen Tradition, nämlich Gender und race gleichwertig als Objekte einer Diskriminierung durch Sexualisierung zu verstehen, ein zentrales Anliegen. So gesehen verwende ich den Terminus Sexualpolitik als ein kritisches Analyseinstrument, die Verschränkung der Sexualisierung von Gender und race sowohl unter dem Aspekt der Diskriminierung als auch als hegemoniale Machttechnik zu betrachten.Das geschieht dadurch, dass sexuelle Ausdrucksformen bestimmter Bevölkerungsgruppen für gefährlich oder problematisch erklärt werden. Sie werden durch so genannte Problematisierungsweisen als fassbare, bekämpfbare Einheiten dingfest gemacht. Ist erst einmal eine solche Homogenisierung gelungen, nehmen gesellschaftliche und individuelle Akteur_innen bereitliegende sexualpolitische Diskursfragmente auf und wenden sie gegen andere Menschen und Gruppen. Sie sehen sich meist nicht als Exekutor_innen von Machtapparaten, sondern als freie Agent_innen von Allgemeinwissen, Meinungen, Krisen und Problemen, auf die sie mit Besorgnis reagieren. Mit dem Terminus Problematisierungsweise wird die Naturwüchsigkeit von Krisennarrativen und Problemstellungen herausgefordert und gefragt, "warum an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Zeit, etwas Besorgnis erregt" (Laufenberg 2014: 125). Eine Analyse von Problematisierungsweisen ergründet somit eher den Entstehungsherd, als dass sie Auskunft über die "wirkliche Beschaffenheit des Gegenstands der Sorge" (ebd.) bieten würde.Foucault erklärt sein Verständnis von Problematisierungsweisen (problématisation): "Ich versuchte von Anfang an, den Prozess der Problematisierung zu analysieren - was heißt: Wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinung, Prozesse) zum Problem wurden" (Foucault 1996: 178). Ulrike Klöppel hat herausgearbeitet, dass das Spezifische an einmal etablierten Problematisierungsweisen ist, dass sie zur Pflicht werden, d.?h. die Zusammenhänge also in einer bestimmten Weise gedacht werden müssen (Klöppel 2010: 260). Hat sich ein Diskurs als Problem etabliert, bekommt er einen imperativen Charakter, der darin besteht, dass er Lösungen erfordert. Als Lösung wird dann angesteuert, das Problem zu liquidieren.Einer solchen Problematisierungs- und Lösungsstrategie sind muslimische Migrant_innen und Geflüchtete vielfach unterworfen. Das Bedürfnis, weiter Teile der abstammungsdeutschen Bevölkerung, diese Migration zu begrenzen, Neueinwanderung zu verhindern und womöglich alte Migration rückgängig zu machen nimmt die Form von sexualpolitischen Stigmatisierungen an, die in zwei Richtungen weisen. Muslime seien in Deutschland einerseits unerwünscht, weil sie ein rückständiges Sexualregime pflegen, unterdrückt sind und sich nicht autonom sexuell entfalten wollen und deshalb nicht in eine freie Gesellschaft passen. Andererseits seien sie unerwünscht, weil sie eine gefährlich aggressive Sexualität hätten, die sie zu Straßenbelästigungen motiviere, wie die Ereignisse in Köln in der Silvesternacht 2015/16 gezeigt hatten. Wenn ich hier von sexualpolitischer Stigmatisierung spreche, ist sowohl die Problematisierung des Geschlechterverhältnisses angesprochen (als rückständiges Machtverhältnis) als auch die Problematisierung von race. Hier wird eine Art von Rassisierung von Religion vorgenommen und die angebliche sexuelle Gefährlichkeit des muslimischen Jungmannes als ein Ergebnis islamischer Erziehung gewertet.Im Laufe der Zeit führt diese immer wiederholte Problematisierungsweise zu einem Wissen über die Wahrheit der Tatbestände und verdichtet sich zu einem Urteil. Inzwischen gibt es kaum mehr Uneinigkeit darüber, dass es sich bei diesen antimuslimischen Ressentiments um Rassismus handelt. Im Gegenzug zur angeblichen Rückständigkeit migrantischer Sexual- und Geschlechterregime wird dann ein damit verbundenes und abhängiges abendländisches Überlegenheitsnarrativ installiert, das ich Sexueller Exzeptionalismus nenne, und das sich einerseits auf dramatisierte Gegenüberstellungen von muslimischer sexueller Unterdrückung versus abendländischer sexueller Selbstbestimmung stützt und andererseits eine rassifizierte Religionsvorstellung einer universalisierten Säkularität entgegenstellt.Trotz oder genaugenommen wegen solcher Verabsolutierungen ist es wichtig, von unterschiedlichen Perioden spezifischer Rassismen auszugehen und diese in zeitliche Beziehung mit jeweiligen sexualpolitischen Problem-Lagen der nicht-muslimischen Gesellschaft zu setzen. Für deutsche Verhältnisse scheint es mir sinnvoll, im Sinne von Paul Mecheril von einem im Fluss befindlichen Feld der "natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitspraktiken" (Mecheril/HagenWulff 2016: 130) zu sprechen. Beginnend mit der Realisierung der Tatsache, dass die Gastarbeiter bleiben werden, bis zum Flüchtlingszuzug 2015 wird in verschiedenen Konjunkturen der Migrationsabwehr in immer neuen hierarchisierenden und (Kultur-)Vergleichsoperationen am Anderen entwickelt, was Deutschsein bedeutet.Diesen Zusammenhang möchte ich hier anhand von vier Phantasmen von Eingewanderten und Geflüchteten darstellen, die ich Migrationsabwehrfigurationen nenne. Die Abwehrfigurationen haben eine entfernte Verwandtschaft mit den Foucault'schen Ausschlusscharakteren, insbesondere dann, wenn man sie, wie Ann Laura Stoler vorschlägt, durch rassisierte Phantasmen ergänzt. Gemeinsam haben beide Muster sicherlich, dass sie über Zuschreibungen abjekter Sexualität wirksam gemacht werden und insofern den Anforderungen eines Sexualitätsdispositivs gerecht werden. Aber die Adresse der Machtströme ist unterschiedlich. Während Foucaults altes Sexualitätsdispositiv der Regulierung der weißen Mittelklasse-Bevölkerung dient, sind die migrationsfeindlichen Ausschlussfigurationen hauptsächlich gegen Migrant_innen gerichtet. Sie haben zwar einen gewissen Anteil an der Konstruktion des okzidentalen Selbst, sind aber nicht disziplinierender Natur für die Mehrheitsbevölkerung. Man könnte allerdings darüber nachdenken, ob sie normierender Natur sind, und damit Bestandteile eines neuen Sexualitätsdispositivs.Psychoanalytisch gesprochen, tritt Abwehr dann ein, wenn eine subjektiv "unerträgliche Vorstellung" bekämpft werden muss oder soll (Freud 1999 [1894]: 61). Das kann entweder dadurch geschehen, dass aus der starken Vorstellung eine schwache gemacht wird, also in etwas konvertiert wird, das die Ursprungsvorstellung verdeckt. Das wäre bei der sogenannten Konversionshysterie der Fall (Lähmungen, Taubheit, Blindheit etc.). Es kann aber auch sein, dass die psychische Energie zur Abwehr der Vorstellung nicht konvertiert werden kann. Dann würde sich die unbeheimatete Affektenergie mit etwas gänzlich anderem verknüpfen und in eine Obsession oder Zwangsvorstellung münden.Wendy Brown hat kürzlich auf Freuds recht wenig beachtete frühe Schriften zu den Abwehr-Neuro-Psychosen Bezug genommen (Freud 1999 [1894]; 1999 [1896]), um die Insistenz spätmoderner Nationalstaaten zu erklären, sehr teure und offensichtlich ihren Abwehrzweck verfehlende Mauern und Zäune zu bauen, zum Beispiel zwischen den USA und Mexiko, zwischen Israel und der Westbank, zwischen Marokko und Ceuta (Brown 2014 [2010]). Brown politisiert Freuds Modell und interpretiert den hysterischen Mauerbau als Versuch, in einem Zeitalter schwindender Staatssouveränität durch (Welt-)Marktradikalität, supranationale Governance und globalisierte Migration, den verängstigen - in Deutschland spricht man von besorgten - Bürgern das Gefühl zu geben, man würde sie gegen gefährliche Fremde absichern (ebd.: 115ff.), ihnen ein sicheres Heim (ebd.: 117ff.) bieten und ihnen dabei das Gefühl der Unschuld und moralischen Überlegenheit vermitteln, da das Böse ja Außen ist (ebd.: 121ff.).Browns Verwendung des Abwehr-Komplexes als Symptom westlicher psychosozialer Befindlichkeit scheint mir auf das Untersuchungsfeld Abwehr von muslimischer Migration nach Deutschland übertragbar. Es liegt mir fern, die damit einhergehenden Rassismen zu pathologisieren, da es ja die Akteur_innen entlasten würde, jedoch scheinen mir Konversion und Obsession als Phänomene durchaus aufzutauchen. Wie soll die Hysterie um das Kopftuch anders erklärt werden, als als Konversion der unerträglichen Vorstellung der permanenten Anwesenheit von angeblich fremden Elementen in ein Projekt von messianischem Säkularismus (das Paradox ist gewollt) und die Feier einer sexuellen Autonomie, die für die Mehrheit der Bevölkerung wenig empirische Grundlage hat? Was ist mit der plötzlichen Obsession selektiv ethnisierter Sexismuskritik, die ich in einem der hier versammelten Aufsätze unter dem Begriff Ethnosexismus fasse, nach den Ereignissen von Köln? Warum ist das schwulenfeindliche Vokabular muslimischer Jugendlicher gefährlicher als das ebenso schwulenfeindliche Vokabular abstammungsdeutscher Fußballultras? Warum ist das Arrangieren einer haltbaren Ehe frauenfeindlich und die Wegwerfscheidungen prominenter Männer, die periodisch ein älteres gegen ein jüngeres Modell austauschen, nicht?Das Verdienst von Browns durch Freud inspirierten Zugang ist, den Grund für die neue Leidenschaft von Nationalstaaten für den Mauerbau nicht im fremden gefährlichen Außen zu suchen, sondern im prekären Innen, das eigene Unsicherheiten mit Abschottungs- und Abwehrnarrativen verbindet. Diesen Gedanken aufnehmend beschreibe ich im Folgenden vier Figurationen, die die deutsche Migrationsabwehr allegorisieren: die bedeckte Muslima und - meist mit ihr verbunden - die des orientalischen Patriarchen -, dann die Figuration des homophoben muslimischen Jugendlichen und zuletzt die Trope des sexuell übergriffigen Geflüchteten. In allen Fällen wird muslimische Erziehung für eine sexualpolitisch argumentierende Problematisierungsweise verantwortlich gemacht.MigrationsabwehrfigurationenDie Diskussion um die bedeckten Muslima nahm gegen Ende der 1990er Jahre mit den französischen und deutschen Kopftuchverboten Fahrt auf und zieht seitdem einen großen Korpus sowohl wissenschaftlicher als auch medialer Diskurse nach sich. Da ich mich mit den Verflechtungen von für muslimisch gehaltenen und nicht-muslimischer Sexualpolitik beschäftigen will, greife ich hier einen kleinen lebensweltlicholas Rose, einer der profiliertesten Kritiker des Neoliberalismus, verbindet einen skeptischen Blick auf westliche Freiheitsrhetorik mit dem, was hier als Problematisierungsweise diskutiert wurde:"Individuals are to be governed through their freedom [] The practices of modern freedom have been constructed out of an arduous, haphazard and contingent concatenation of problematizations, strategies of government and techniques of regulation. This is not to say that our freedom is a sham. It is to say that the agonistic relation between liberty and government is an intrinsic part of what we have come to know as freedom. And thus, I suggest, a key task for intellectual engagement with contemporary relations of power is the critical analysis of these practices of freedom" (Rose 1996: 147 u. 161, Hervorhebung G.D.).Judith Butler treibt die Zuspitzung neoliberaler Freiheitsvorstellungen auf die Frage der Sexuellen Freiheit voran und entdeckt in der Behauptung des Globalen Nordens, in exklusivem Besitz sexueller Freiheit zu sein, eine Überlegenheitsnarration, die gleichzeitig Muslime ausschließt:"[S]sexual politics [] claims to new or radical new freedoms [] that would try to define Europe and the sphere of modernity as privileged site where sexual radicalism does take place []. Often but not always the further claim is made that such a privileged site of sexual freedom must be protected against the putative orthodoxies associated with new immigrant communities [] a certain version and deployment of freedom can be used as an instrument of bigotry and coercion" (Butler 2008: 2 u. 3).Wenn man Rose und Butler zusammenbringt, lässt sich also in der neoliberalisierten okzidentalen Spätmoderne von einer Sexualisierung des Freiheitsbegriffs sprechen. Gundula Ludwig trägt diesen Gedanken weiter, indem sie mit Lauren Berlant und Michael Warner von einer "sexualization of national membership" spricht (Berlant/Warner 1998: 147; Ludwig 2016a: 209).Mit Blick auf die USA, wo in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von (meist heterosexuellen) Sex-Skandalen die Innenpolitik strukturiert hat, diagnostiziert Éric Fassin eine Sexualisierung von Politik oder besser eine Politik durch Sexualität, die Sexualität zu einer Sprache gemacht hat, in der über Macht verhandelt wurde (Fassin 2006: 86). Für die jüngere Gegenwart sieht er eine Diskursverschiebung am Werk, die Gleichheit zwischen Homosexualität und Heterosexualität und zwischen Mann und Frau, und damit die Freiheit der Objektwahl zu einem "democratic symbol" (ebd. 92) macht, das zur Abgrenzung gegen andere Gesellschaften, Gruppenverhalten und Individuen aufgestellt wird.Bei einer solchen Sexualisierung des okzidentalen Freiheitsbegriffs kommt es zu einer wichtigen Verschiebung. Muslimische Einwander_innen bedrohen nicht unsere sexuellen mores, sondern unsere Freiheit. Oder anders gesagt: Wenn man sie nicht davon überzeugen kann, andere Loyalitäten aufzugeben, dann sind sie nach diesem Verständnis nicht regierbar. Das heißt, sie gliedern sich nicht per Autopilot aus eigener Motivation zur Selbstoptimierung in die Gesellschaft ein, sondern bilden immer wieder besorgniserregende Besonderheiten aus.Sexualpolitische Diskriminierung ist somit ein Rechtfertigungsdiskurs, mit dem der Ausschlussautomatismus als eine Besorgnis um die Freiheit ausgegeben werden kann. Sexualpolitik ist die Sprache, mit der diese besondere Form von Freiheit, derer sich neoliberale Regierungstechnik bedient, verkauft wird. Die Rassisierung von Muslimen ist dabei kein zufälliges Nebenprodukt, sondern die Bedingung der Möglichkeit, diese Freiheit zu empfinden. Hetero-Frauen und LGBT-People sind dabei einem Paradoxon ausgesetzt. Einerseits werden sie als Symbol und Avantgarde eines ausschließenden abendländischen Exzeptionalismus in Anspruch genommen. Andererseits sind sie selbst weiterhi
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InhaltEinleitung: Sexualpolitik - Archäologie einer Problematisierungsweise7Teil IOkzidentalismuskritik, Orientalismus, Postkolonialität411.Okzidentalismuskritik: Möglichkeiten und Grenzeneiner Forschungsperspektivierung432.Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik733.Runter mit dem Schleier! 994.Postcolonial Theory und Gender Studies:Eine problematische Beziehung 105Teil IIFeminismus, Gender und Intersektionalität 1251.Second Wave Boheme: Versuch einer Kartierung subkultureller Milieus in der Neuen Frauenbewegung1272.Schnittpunkte: Gender Studies und Hermaphroditismus 1473.Checks and Balances: Zum Verhältnis von Intersektionalitätund Queer Theory (mit Elahe Haschemi Yekani undBeatrice Michaelis) 1674.Anti-Genderismus intersektional lesen 205Teil IIIRace - Construction of Otherness - Schwarz Weiß 2091.Ödipus Schwarz/Weiß: Der Rape-Lynching-Komplex als soziale Pathologie2112.Die Bohemienne und ihr Imaginary Negro2293.Melancholie, Schuld und Geschlecht im Kolonialepos:Genealogie eines Filmgenres243Teil IVFallgeschichten2631.Intersektionalität im nationalen Strafraum: Race, Genderund Sexualität und die deutsche Nationalmannschaft2652.Das Ereignis Köln2793.Ethnosexismus: Sex-Mob Narrative umdie Kölner Silversternacht291Nachweise305Literaturverzeichnis307Verzeichnis von Filmen und Fernsehserien348Danksagung349Personenregister351Sachregister357
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